Zunächst
ein paar Vorbemerkungen:
1.
Die zunehmend verarmenden "werktätigen Massen" in
Syrien sowie auch die Unterstützer von Demokratie jeder
Form und von Menschenrechten haben
allen Grund, sich des herrschenden Regimes
entledigen zu wollen.
2. Dieses Interesse wird nicht
dadurch weniger legitim, dass interne und
externe Kräfte, denen es um
ganz Anderes zu tun ist, den Kampf für diese
legitimen Interessen missbrauchen.
3. Wie stets, so müssen wir auch
in Syrien zwischen unseren Wünschen und der
Realität, d.h. dem Kräfteverhältnis und dem
wahrscheinlichen oder gar
realistisch möglichen Ergebnis der Auseinandersetzung
unterscheiden.
Durch die
Militarisierung des Kampfes zwischen Regime und
Opposition haben angesichts des Fehlens organisierter
sekulärer und
sozialrevolutionärer Kräfte die Kräfte Oberhand
gewonnen, die beides nicht
sind, d.h. religiös sektiererische Kräfte, deren
sozioökonomischer Horizont
diesseits der Grenzen des kapitalistischen Systems liegt
--
konkret sunnitische Fundamentalisten, darunter solche
der jihadistischen Spielart
(à la Al-Qaida) auf Seiten der Opposition und
alawitische (nusairische) auf
Seiten des Regimes. Das herrschende Baath-Regime, das
sich stets als sekulär
geriert hat und das in der Vergangenheit wegen
des Minderheitsstatus der Anhänger der
alawitischen Sekte, auf die es
sich insbesondere stützt, auch sein musste, hat
offensichtlich das Angebot
sunnitischer Sektierer dankend aufgegriffen und den
Konflikt an Ort und Stelle durch
entsprechende Maßnahmen (darunter sektiererische Morde
seitens der Milizionäre der "Shabiha") seinerseits in
eine sektierische Richtung
gelenkt. Der Zweck ist der, die religiösen
Minderheiten des Landes in Furcht vor einer
drohenden erneuten Unterdrückung
durch sunnitisch-islamistische Kräfte hinter sich zu
vereinen. Das gilt insbesondere für die Alawiten,
die bis zur Machtübernahme
baathistischer Militärs in den 60er Jahren am untersten
Ende der syrischen Gesellschaft platziert waren,
sowohl ökonomisch als auch, weil
sie von der sunnitischen Mehrheit im Land als
"Häretiker" betrachtet wurden und ungeachtet der
entgegengesetzten Bemühungen des
Regimes seit Ausbruch der aktuellen Revolte verstärkt
von sunnitisch-fundamentalistischen
Predigern in Syrien aber auch auf der
arabischen Halbinsel als solche wieder ins Visier
genommen werden.
Der Bedeutungszuwachs sunnitischer-sektiererischer
Kräfte innerhalb der bewaffneten
Opposition bedeutet nicht, dass deren Anschauungen in
der syrischen Gesellschaft, auch
der oppositionellen, nun mehrheitsfähig wären.
Der bewaffnete Kampf jedoch marginalisiert in der Praxis
unbewaffnete Kräfte und wertet notwendigerweise
die Rolle derer auf, die
a. über die beste Bewaffnung und b. über die
größte Kampfmoral und militärische
Erfahrung verfügen. Die Bewaffnung der syrischen
Opposition stammt zum einen aus
Beständen der syrischen Armee, auf die Deserteuren
Zugriff hatten oder die bei
Kämpfen erbeutet wurden, und zum anderen zunehmend
aus Lieferungen sympathisierender Staaten und Kräfte,
d.h. in erster Linie der Türkei
und der wahabitischen Golfmonarchien. Dass diese
keine Kräfte mit irgendwie
gearteter fortschrittlicher
Perspektive unterstützen, liegt
auf der Hand. Was nun Kampfmoral und militärische
Praxis betrifft, so ist es theoretisch offensichtlich
und inzwischen
mannigfach belegt, dass die Deserteure der
syrischen Armee, einer Armee, die
seit Jahrzehnten keinen Krieg mehr geführt hat,
gegenüber den
vergleichsweise kleinen Einheiten jihadistischer Kämpfer
mit ihren Erfahrungen in Afghanistan,
Tschetschenien, Irak und zuletzt in
Libyen ins Hintertreffen geraten. So ist es nicht
verwunderlich, dass zum einen der
Diskurs auch seitens der ursprünglich aus Deserteuren
rekrutierten FSA zunehmend islamistisch, d.h.
hier auch sunnitisch-sektierisch,
geworden ist, und dass zum anderen jihadistische
Kräfte (großteils aus Nicht-Syriern bestehend)
zunehmend auch von FSA-Einheiten
herangezogen werden, um militärische Erfolge gegen
dieArmee zu erzielen.
Unter diesen Umständen gibt es m.E. vier
Perspektiven , nachdem die einer
Verhandlungslösung auf der Basis irgendwelcher UN-Pläne
zwar als wünschenswert betrachtet
werden könnte aber als völlig irreal angesehen
muss, weil zumindest auf
Seiten der relevanten Opposition innerhalb
Syriens wie auch im internationalen Bereich
niemand daran interessiert ist:
1. das Regime
hält sich militärisch und zerschlägt die Opposition;
2. das Regime
hält sich zwar, kann aber auch die (militärische)
Opposition nicht
zerschlagen, und der Bürgerkrieg dauert gegebenenfalls
noch jahrelang an;
3. es kommt zu
einem (Militär-)Putsch aus den Reihen des
Regimes.
Mit dieser möglicherweise nicht nur von den
imperialistischen Mächten,
sondern auch von deren regionalen Verbündeten
wie Israel, der Türkei und
den Golfmonarchien bevorzugten "Lösung" wären
eventuell einige kosmetische Veränderungen im
Bereich der formalen Demokratie
verbunden, die einen Teil der Opposition für eine
gewisse Zeit neutralisieren
könnten. Bis heute deutet allerdings nichts darauf
hin, dass sich relevante Teile der
Sicherheitsstruktur von Assad abwenden.
4. die
Opposition stürzt das Regime.
Im letzten Fall ist es völlig
irrealistisch davon auszugehen, dass die Kräfte, die
zentral für eine militärische
Niederlage des Regimes waren, bereit sein könnten, auf
die Durchsetzung ihrer
eigenen politischen, religiösen und
sozio-ökonomischen Agenda zu verzichten, nur weil
die Mehrheit der syrischen
Bevölkerung vielleicht andere Vorstellungen hat. Da die
Agenda dieser Kräfte insbesondere
keine Perspektive für die wirtschaftliche
Verbesserung der Lage der
sozialen Hauptkraft der heutigen Revolte (Landbevölkerung
und marginalisierte ehemalige
Landbevölkerung in den Vororten
der großen Städte) bietet, ist davon auszugehen, dass
sich nach einem eventuellen
Sturz des Assad-Regimes schon bald neue
Unzufriedenheit mit den neuen Herrschern
einstellen wird. Möglicherweise kommt
es dann zu einem Schulterschluss zwischen diesen
weiterhin verarmenden
(sunnitischen) Massen mit dem Gros der Basis des
aktuellen Regimes aus den
religiösen Minderheiten (Alawiten, Christen,
Zwölfer-Schiiten,
Ismailiten, Drusen). Auch die Position der (im übrigen
sunnitischen) Kurden, die aktuell gewissermaßen
eine dritte Kraft darstellen,
weil weder ihre sozialen noch ihre nationalen Interessen
vom Regime und der Mehrzahl
der Opposition berücksichtigt werden, wird dann
in einer noch unbekannten Weise relevant werden.
Es ist nicht davon auszugehen,
dass die möglichen Sieger des jetzigen Kampfes --
insbesondere nicht -- wenn es sich bei ihnen um
Oppositionskräfte handelt, auf eine solche Situation
anders reagieren als das Assad-Regime heute.
Ein Erfolg einer solchen neuen Koalition hängt vom
Entstehen einer sekulären (d.h.
nicht etwa "atheistischen"!) sozialrevolutionären
Kraft ab. Leider deutet
nichts darauf hin, dass damit in einem
überschaubaren Zeitraum zu rechnen wäre. Man
sollte nicht außer Acht lassen,
dass deren Schwäche im internationalen Rahmen auch auf
nationaler Ebene eine
schwere Belastung darstellt.
Was im übrigen die Rolle des Imperialismus (USA, EU)
betrifft, so ist diese
schon jetzt überaus begrenzt. Das ist nicht so, weil
diese Kräfte an der Zukunft
Syriens und damit der ganzen Region nicht überaus
interessiert wären.
Vielmehr sind sie mit dem Problem konfrontiert, dass
sie weder in Syrien noch sonst wo in der Region
über brauchbare Ansprechpartner
verfügen. Kräfte wie der von ihnen hofierte und
aufgebaute Syrische
Nationalrat haben sich im Zuge der Revolte zunehmend
als Lachnummer, ohne wirklichen Einfluss in
Syrien selbst, herausgestellt.
Ein direktes militärisches Eingreifen wie etwa in Libyen
(wo die Resultate auch noch keineswegs klar sind)
bietet sich in Syrien offensichtlich nicht an. Die
"Verbündeten" -- die AKP-Regierung in der
Türkei und die
Golfmonarchien, und wohl auch Israel -- verfolgen eigene
Interessen, die sich nur taktisch mit denen ihrer
imperialistischen Schutzherrn
decken.
Editorische Hinweise
Den Text erhielten wir vom
Autor für diese Ausgabe. Er wurde am 26.9.2012
verfasst..
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