Der staatliche Rettungschirm für die neonazistische Mordserie des ›Nationalsozialistischen Untergrundes‹ /NSU

von
Wolf Wetzel

10-2012

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onlinezeitung

Der ›dritte Mann‹ des nationalsozialistischen Untergrundes/NSU – ein Anruf genügt…

Hätte vor ein paar Monaten jemand behauptet, dass zur „Aufklärung“ der neonazistischen Mordserie Akten vernichtet, Untersuchungsauschüsse belogen, Referatsleiter des BfV Falschaussagen machen, wäre er als Verschwörungstheoretiker lächerlich gemacht worden. Wenn vor Monaten jemand behauptet hätte, dass die verschiedenen Geheimdienste nicht diletantisch, sondern perfekt zusammengearbeitet hatten und über ausgezeichnete Kontakte zum neonazistischen Thüringer Heimatschutz/THS verfügten, also zum Umfeld der daraus hervorgegangenen Terror-Gruppe ‚NSU‘, wäre ihm gleiches widerfahren.

Jetzt sind diese berechtigten Annahmen gerichtsverwertbar: Zwischen den Jahren 1997 und 2003 waren der Thüringer und Bayerische Verfassungschutz, das Bundesamt für Verfassungsschutz/BfV und der Militärische Abschirmdienst/MAD, die Crème de la Crème der Geheimdienste, an der ‚Operation Rennsteig‘ beteiligt. Das Ziel dieser koordinierten Aktion war eindeutig: „Im Rahmen der operativen Zusammenarbeit des BfV mit dem LfV Thüringen und dem MAD unter der Bezeichnung „Rennsteig“ von 1997 bis 2003 hat das BfV … Werbungsfälle mit THS-Bezug eröffnet, aus denen … erfolgreiche Werbungsmaßnahmen resultierten.“ (Schreiben des BfV an an den Generalbundesanwalt vom Dezember 2011, FR vom 16.6.2012)

Der Erfolg konnte sich sehen lassen: „Demnach war fast jeder zehnte Aktivist in der damaligen Neonazi-Vereinigung ein Spitzel des Verfassungsschutzes.“

Die Frage also, ob die beteiligten Geheimdienste problemlos den drei Mitgliedern der NSU in den ‚Untergrund‘ folgen konnten, ob eine/r von ihnen gar zu den ‚erfolgreichen Werbungsmaßnahmen‘ zählt, könnten die Akten beantworten, die nun vernichtet wurden.

Würden die Akten das Gegenteil beweisen können, also die bislang lancierte These untermauern, man habe die Spur zu den abgetauchten NSU-Mitgliedern verloren, wären sie nicht vernichtet worden!
Angesichts dieses organisierten und kriminellen Vorgehens vonseiten der Verfolgungsbehörden sind die Fragen der FR von auffallender, fortgesetzter Naivität:

“Gibt es Verbindungen zu Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe? Waren Mitglieder des Trios womöglich V-Leute? Haben sie Geld vom Verfassungsschutz erhalten? Hat das Bundesamt die Mörder sogar geschützt?“

Im folgenden trage ich alle Indizien und Fakten zusammen, die bis heute an die Öffentlichkeit gelangt sind, um auf zwei der vier gestellten Fragen (Frage 1 und 4) mit einem sicheren „Ja“ zu antworten.

Über 13 Jahre wurde die rassistische Mordserie, der mindestens neun Menschen zum Opfer fielen, einem kriminellen, ausländischen Milieu zugeordnet. Von ›Döner-Morden‹ war die Rede. Nach einem Banküberfall im November 2011 wurden die mutmaßlichen Täter verfolgt und wenig später tot aufgefunden. Es handelte sich um Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Was dreizehn Jahre absolut nicht möglich war, fügte sich innerhalb von Tagen und Wochen zu einem barbarischen Bild zusammen: Die zwei toten Männer im Campingwagen waren nicht nur routinierte Bankräuber, sondern vor allem Mitglieder der neonazistischen Terrorgruppe ›NSU‹, die nach ihrem Abtauchen 1998 für unauffindbar gehalten wurden – will man den Verfolgungsbehörden Glauben schenken.
Wie kann es sein, dass man innerhalb von Wochen mehr weiß, als zahlreiche Sonderkommissionen, mehrere Verfassungsschutzämter und Staatsanwaltschaften in den letzten 13 Jahren?

Die späteren Mitglieder des Nationalistischen Untergrund/NSU waren jahrelang in neonazistischen ›Freien Kameradschaften‹ organisiert.

Zu deren Credo gehört, alles, was nicht deutsch genug aussieht, in Angst und Schrecken zu versetzen, mit dem Ziel, ›national befreite Zonen‹ zu schaffen. Dazu zählen Angriffe auf MigrantInnen und Geschäfte, die diesen gehören genauso, wie Angriffe auf antifaschistische Gruppierungen und Mitglieder. Dass Todeslisten von diesen organisierter Neonazis existieren, ist seit langen – auch den Polizei- und Verfassungsschutzbehörden – bekannt.
Bislang werden im Zeitraum zwischen 2001 und 2006 zehn Morde, denen fast ausschließlich Menschen türkischer Herkunft zum Opfer fielen, dem Nationalistischen Untergrund/NSU zugeordnet. Zwei Mitglieder des NSU sollen sich 2011 das Leben genommen haben, das dritte Mitglied, Beate Zschäpe, soll am selben Tag das Haus, in dem sie über vier Jahre lebten, in Brand gesteckt haben.

Der staatliche Begleitschutz in den ‚Untergrund‘

Obwohl die Polizei im Januar 1998 in Jena eine Bombenwerkstatt der späteren Mitglieder des NSU entdeckte, über 1,4 Kilo Sprengstoff und Rohrbomben beschlagnahmte, wurden Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe nicht verhaftet. Sie nutzen diese staatliche Fürsorge und tauchten ab.

Wie sich diese staatliche Beihilfe abspielte, erzählte die Mutter von Uwe Böhnhard in einem ZDF-Interview sehr eindrucksvoll: Auf dem Weg zur Garage warnte ein Polizeibeamter Uwe Böhnhard mit den Worten: „ „Jetzt bist du dran … ein Haftbefehl ist unterwegs.“

Was daraufhin passierte, beschreibt Frau Böhnhard so: „Die Polizisten sind weitergegangen, unser Sohn hat sich umgedreht, ist zu seinem Auto gegangen und ist weggefahren. Das ist wie in einem schlechten Film.“ (Brauner Terror – Blinder Staat – Die Spur des Nazi-Trios“ ZDF-Sendung vom 26.6.2012)

In besagter Dokumentation fragt sich die Mutter von Uwe Böhnhard zurecht: „Was ist da für ein Spiel gelaufen? Und warum warnt ihn ein Polizist? Und er hatte an diesem Tag auch noch genug Zeit, nachhause zu fahren, Uwe Mundlos anzurufen und Beate Schärpe… ein paar Sachen zu packen und zu verschwinden.“

Im Tal der Ahnungslosen

Über 13 Jahre verbreiteten Polizei, Verfassungsschutzbehörden und Medien über die politischen Motive der neun Morde eine Version. Es handele sich dabei um Abrechnungen innerhalb eines kriminellen und ausländischen Milieus. Obwohl genau dieses Motiv in keinem einzigen Fall bewiesen werden konnte, blieben alle bei dieser Version, obwohl den Polizei- und Verfassungsschutzbehörden auch andere Indizien, Zeugenaussagen und Hinweise vorlagen. Ihre Unterschlagung ist kein Fehler, sondern Ausdruck einer politisch motivierten Vorgehensweise. Wenn Polizei, Verfassungsbehörden und Presse dieser Mordserie das Brandmal ›Döner-Morde‹ geben, wenn sich eine Sonderkommission der Polizei den Namen ›Soko Bosporus‹ gibt, dann verschweigen sie nicht nur rassistische, neonazistische Motive, sie bedienen sich genau dieser rassistischen Zuschreibungen.

Dabei spielt die immer wieder vorgebrachte Begründung, zu den Mordtaten hätte es kein Bekennerschreiben gegeben, das für politisch-motivierte Straftaten typisch wäre, nicht mehr als eine Schutzbehauptung: Den ermittelnden Behörden waren die Verbindungen zwischen deutschen neonazistischen Kameradschaften und ›Blood & Honour‹- und ›Combat 18‹-Gruppen bekannt. Diese propagieren seit Jahren einen Rassenkrieg, der gezielte (Mord-)Anschläge auf MigrantInnen miteinschließt. Explizit verzichten sie dabei auf Bekennerschreiben, da sie ganz auf eine Strategie der Angst und des Terrors setzen.

Wenn nun innerhalb von Tagen und Stunden Indizien, Beweise und Zusammenhänge auftauchen, die die Morde einer neonazistische Terrorgruppe zuordnen können, dann haben Polizei und Verfassungsschutzbehörden nicht schnell gearbeitet, sondern auf alles zurückgegriffen, was jahrelang in diesen Ämtern unter Verschluss gehalten wurde. Quasi über Nacht tauchen 24 Aktenordner beim Thüringer Verfassungsschutz auf, die voll mit Indizien und Spuren sind, die nun ausgewertet und zu den plötzlichen ›Fahndungserfolgen‹ führen. Was heute so schnell, so schlagartig auftaucht, sind also jahrelang unterschlagene Akten, seit Jahren gesicherte Spuren und Indizien, denen Jahr um Jahr nicht nachgegangen wurde.

Hat der Verfassungsschutz über Jahre die Verfolgung der NSU-Mitglieder durch die Polizei verhindert?

Man kennt es aus dem Fernsehen, aus vielen Krimiserien: Es kommt zu einem schweren Verbrechen. Die Polizei erscheint mit Blaulicht am Tatort und nimmt die Ermittlungen auf. Dabei stößt sie auf brisante Hinweise und will diesen nachgehen. Dann taucht entweder ein Beamter in Zivil auf, erklärt den Ermittlern, dass sie den Fall übernehmen oder der leitende Polizeibeamte wird zu seinem Chef gerufen, der ihm mit vielsagenden Blicken erklärt, dass sie aus dem Fall raus sind. Anweisung von oben…

Diesen Konflikt zwischen Polizei- und Geheimdienststellen gibt es nicht nur im Fernsehen. Polizeidienststellen haben (für gewöhnlich) die Aufgabe, Straftaten aufzuklären. Geheimdienste, hier der Verfassungsschutz und möglicherweise der MAD/Militärischer Abschirmdienst, decken Straftaten, verhindern deren Aufklärung, wenn dies ›übergeordnete Interessen‹ gebieten.

Die bisher gekannt gewordenen Indizien beweisen, dass Polizei- und Geheimdienststellen über 13 Jahren Unterstützer und Mitglieder der NSU observiert und verfolgt haben, ohne dass es zu Festnahmen kam. Warum ist jetzt etwas möglich, was über 13 Jahre mit allen Mitteln verhindert wurde? Wer hat das Schloss dieser konzertierten Untätigkeit geknackt? Welches Ereignis hat das Fass zum Überlaufen gebracht? War es der Mord an die Polizistin Michèle Kiesewetter 2006? Ein Mord, der die Spannungen zwischen Polizei und Verfassungsbehörden auf die Spitze treiben musste, gerade dann, wenn eine Kollegin ermordet werden konnte, weil Verfassungsbehörden eine schützende Hand über die Mitglieder der NSU hielten?

Dass der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter der mögliche Wendepunkt war, wird plausibel, wenn die lange lancierte Behauptung, man hätte diesem Mordanschlag weder ein politisches Motiv, noch mögliche Täter zuordnen können, in sich zusammenbricht. Das Magazin Stern vom 30.11.2011 veröffentlichte Auszüge aus einem Observationsprotokoll des US-Militärgeheimdienstes ›Defense Intelligence Agency (DIA)‹ von jenem Tag. Darin wird detailliert beschrieben, dass in diese Schießerei nicht nur besagte Polizeibeamte, sondern auch ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes involviert waren. Nicht nur die Anwesenheit von Verfassungsschutzbeamten ist darin vermerkt, sondern ein weiteres wichtiges Detail. In dem Protokoll wird festgehalten, dass es sich bei den Attentätern um »right wing operatives«, also um Neonazis handelte.

Warum konnten die Mörder ›unerkannt‹ entkommen? Warum verschweigt der Verfassungsschutz bis heute sein Wissen über diesen Mordanschlag?

Der Mordanschlag auf die beiden Polizisten dürfte das Fass zum Überlaufen gebracht haben. Doch schon lange davor bauten sich Spannungen zwischen Polizeibehörden und Verfassungsschutzabteilungen auf. Das belegen Hinweise, die die Be- und Verhinderung der Polizeiarbeit auf Anweisung von oben dokumentieren: »Vergangene Woche war in einer vertraulichen Sitzung des Thüringer Justizausschusses bekannt geworden, dass ein halbes Dutzend Aktennotizen aus der Zeit zwischen 2000 und 2002 existieren, laut denen das Innenministerium Festnahmeversuche verhindert hatte.
Dieses Vorgehen führte seinerzeit zu Krisengesprächen zwischen den Staatssekretären der Landesministerien für Justiz und Inneres sowie zwischen dem Thüringer Generalstaatsanwalt und dem LfV-Präsidenten. Große Folgen hatte das jedoch nicht: Im Jahr 2003 wurde das Ermittlungsverfahren gegen das gesuchte Trio eingestellt – und damit auch die Fahndung beendet.« (FR vom 8.12.2011)

Nicht nur das Zurückhalten, das Verschweigen von Erkenntnissen der Verfassungsschutzbehörde(n) be- und verhinderten polizeiliche/staatsanwaltschaftliche Maßnahmen. Der Verfassungsschutz hatte zudem aktiv die Bindeglieder zu den Abgetauchten vor polizeilichen Maßnahmen gewarnt bzw. geschützt: »So habe das LfV seinen V-Mann Brandt über die Observationsmaßnahmen der Polizei auf dem Laufenden gehalten. Dem Neonazi sei demnach mitgeteilt worden, dass er aus einer angemieteten Wohnung in der Nähe seines Hauses heraus überwacht werde.« (FR vom 19.12.2011)

V-Mann Tino Brandt hatte »noch im Jahr nach dem Abtauchen der Neonazis mit einem Mitglied der Terrorzelle in Kontakt gestanden«. (jW vom 23.12.2011)

Inzwischen weiß man aus erster Hand, wie V-Leute aus dem NSU-Umfeld vom Verfassungsschutz gewarnt wurden, damit jede polizeiliche Maßnahme im Sand verläuft: In einem Fernsehbericht des WDR-Magazins »Monitor« vom 19.7.2012 bestätigte der V-Mann Tino Brandt, dass der Verfassungsschutz ihn mehrfach vor Strafverfolgungsmaßnahmen gewarnt hatte: »Bei Treffen oder telefonisch« sei Tino Brandt vom Verfassungsschutz informiert worden: »Die haben einen Durchsuchungsbeschluß. Da steht was an … Da wußte ich Bescheid. Habe dann etwa meinen Computer woanders hingebracht und einen alten PC hingestellt.«

„Auch der ehemalige V-Mann und Neonazi Thomas Dienel wurde nach eigenen Angaben vom Thüringer Inlandsgeheimdienst vor Polizeimaßnahmen gewarnt. Als die Polizei ihn wegen einer bevorstehenden Aktion zum Geburtstag des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß für fünf Tage in Unterbindungsgewahrsam nehmen wollte, habe ihm sein damaliger Kontaktmann vom Verfassungsschutz geraten abzutauchen, zitierte die Thüringische Landeszeitung am Donnerstag Dienel.“ (Junge Welt vom 14.07.2012)

Die Legende von den spurlos Verschwundenen

Es ist eine Legende, dass die im Jahr 1998 abgetauchten Neonazis ›spurlos‹ verschwunden seien. Bislang war nur bekannt, dass am 26. Januar 1998 bei der Durchsuchung von Garagen in Jena über 1,4 Kilo Sprengstoff und Rohrbomben beschlagnahmt wurden und dass die späteren NSU-Mitglieder in aller Seelenruhe abtauchen konnten. Vierzehn Jahre später erfahren wir, dass das bei weitem nicht alles war: Es wurde auch eine Namensliste gefunden, »ein ›Who is Who‹ der mutmaßlichen Unterstützer des rechtsextremen Terrortrios ›Nationalsozialistischer Untergrund‹ (NSU) … Vielfach handelt es sich um Personen, die heute beschuldigt werden, Hilfsdienste für Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe geleistet zu haben. So ist der Name von Rolf Wohlleben handschriftlich in das Verzeichnis gekritzelt – der einstige NPD-Funktionär aus Jena sitzt derzeit in Untersuchungshaft, weil er verdächtigt wird, eine Schusswaffe für das Terror-Trio besorgt zu haben.« (SZ vom 13.7.2012). Der Fund einer solchen Namensliste ist keine belanglose Nebensächlichkeit, sondern der Traum eines jeden Ermittlers: Mithilfe dieser Liste ist es ein Kinderspiel, über das neonazistische Umfeld direkt an die NSU-Mitglieder heranzukommen.

Auf dieser Telefon-Adressenliste stand auch Thomas Starke, damals einer der führenden Köpfe der sächsischen „Blood & Honour“-Sektion. Weiterhin befindet sich darauf Matthias Fischer, heute Anführer des militanten bayrisches Kameradschafts-Verbandes „Freies Netz Süd“. Fischer kommt aus Nürnberg. Zwischen 2000 – der erste Mord – und 2005 wird der NSU hier drei Migranten regelrecht hinrichten.

Interessant ist noch ein weiterer Name auf der Liste: Thomas Richter aus Halle, damals ebenfalls im „Blood & Honour“-Spektrum aktiv.

Und was sagen die Ermittler heute dazu? Man mag es kaum glauben: Man habe die Telefon- und Adressenliste gesichtet und nichts relevantes entdecken können. Daraufhin sei dieser Fund in der Asservatenkammer verschwunden. Diese Version ist vorgetäuscht dämlich. Jede Antifa-Gruppe in dieser Gegend hätte in fünf Minuten sagen können, dass es sich um wichtige Figuren im neonazistischen Netzwerk handelt. Abgesehen davon standen fast alle Neonazis auf dieser Liste in irgendeiner Datei der Polizei und/oder des Verfassungsschutzes

Die Version der Ermittler hat also einen ganz anderen Grund:

Man will heute verschweigen, vertuschen und ggf. vernichten, was belegen hilft, dass die Verfolgungsbehörden den Kontakt zu den abgetauchten NSU-Mitgliedern nie verloren hatten!

Unter Berufung auf das Thüringer Landeskriminalamt berichtete der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR), »dass die drei Hauptverdächtigen 1998 kurz nach ihrem Untertauchen von Zielfahndern aufgespürt worden waren. Ein Sondereinsatzkommando der Polizei habe die Möglichkeit zum Zugriff gehabt, sei aber im letzten Moment zurückgepfiffen worden.« (jW vom 19.11.2011)

Wer hat die Polizei daran gehindert, wenn nicht der Verfassungsschutz in Thüringen, der unter Berufung auf höhere, gewichtigere Interessen Polizeiaktionen unterbinden kann?

Dass die NSU-Mitglieder ganz und gar nicht spurlos verschwunden sind, belegen weitere Indizien: Sowohl Beate Zschäpe, also auch Uwe Mundlos, verfügten über legal-illegale Papiere, mit denen sie sicher reisen konnten: Beide verfügten über auf falsche Namen ausgestellte Reisepässe

(Schießen lernen in Südafrika? FAZ vom 27.11.2011), was über die sächsische Meldebehörde abgewickelt wurde. Wie ungestört sie damit reisen konnten, belegen staatliche ›Reisebegleiter‹ des Bundeskriminalamtes/BKA: »Böhnhardt und Mundlos sollen im September 1998 in Budapest geortet worden sein. Im August 2000 wurden sie angeblich in Bulgarien aufgespürt. Das war einen Monat vor dem mutmaßlichen ersten Mord.«

Parallel dazu hielten V-Männer des Verfassungsschutzes direkt und/oder indirekt (über ihre Unterstützer) Kontakt zu den komfortabel Untergetauchten.

Auch danach gab es zahlreiche Spuren, die zu den ›Abgetauchten‹ führten: »Auch konnten die Fahnder mehrere Kontaktpersonen der drei Flüchtigen identifizieren und deren Telefonate überwachen. Als Sachsen seinerzeit aber anbot, die verdächtige Wohnung mit einem Sondereinsatzkommando zu stürmen, blockte das Erfurter Innenministerium die Aktion ab. Die Gründe hierfür sind aus den bislang vorliegenden Akten nicht ersichtlich.

Es war nicht die einzige verpasste Chance, das gesuchte Trio festzunehmen. Vergangene Woche war in einer vertraulichen Sitzung des Thüringer Justizausschusses bekannt geworden, dass ein halbes Dutzend Aktennotizen aus der Zeit zwischen 2000 und 2002 existieren, laut denen das Innenministerium Festnahmeversuche verhindert hatte.« (FR vom 8.12.2011).

Die Kontakte des Verfassungsschutzes zu den NSU-Mitgliedern waren so nahe, dass dieser über einen V-Mann selbst über die Pläne einer möglichen Flucht nach Südafrika bestens informiert war: »›Während Böhnhardt und Mundlos mit dem Ziel einverstanden seien und dies auch als Daueraufenthaltsort anstrebten, beabsichtige Zschäpe, die nicht ins Ausland wolle, sich nach der Abreise der beiden den Behörden zu stellen‹, zitiert die Zeitung (Die Welt) aus der ihr vorliegenden Dokumentation.« (FAZ vom 30.1.2012)

Wer solche Insider-Kontakte zu den NSU-Mitgliedern hat und selbst die Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Terror-Kommandos protokollieren kann, ohne dieses Wissen für Festnahmen zu nutzen, schützt neonazistischen Terror und verfolgt ihn nicht.

In dieser Tradition bewegt sich auch die angeblich ermittelnde Bundesanwaltschaft. Anstatt aufzuklären, schreibt sie das Märchen vom Untergrund fort: »Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe und das Bundeskriminalamt (BKA) sind inzwischen davon überzeugt, dass die mutmaßlichen NSU-Terroristen bereits mit ihrem Verschwinden Anfang 1998 ›perfekt abgetaucht‹ sind und sich sofort ›hochkonspirativ verhalten‹ haben.«
(Welt-Online vom 30.1.2012)

Die Legende von den Pannen innerhalb der Sicherheitsbehörden

Die ›Versäumnisse‹ und ›Pannen‹, die Polizei- und Verfassungsbehörden einräumen, werden mit mangelnder Zusammenarbeit erklärt. Dies geht mit der Forderung einher, dass in Zukunft Polizei und Verfassungsschutz enger und koordiniert (in Lagezentren) zusammenarbeiten müssten. Diese Eingeständnisse führen nicht nur in die Irre, die Forderung nach koordinierten Lagezentren stellt eine weitere Verhöhnung der Opfer dar.

Dass über 13 Jahre eine Mordserie als Milieutaten unter Ausländern ausgegeben werden konnte, dass eine Festnahme der (späteren) drei NSU-Mitglieder verhindert wurde, dass V-Männer verschiedener Verfassungsbehörden Kontakt zum Umfeld und möglicherweise zu den Mördern selbst hatten, beweist gerade, dass Verfassungsbehörden hervorragend zusammengearbeitet haben. Nicht die fehlende Zusammenarbeit hat die Mordserie möglich gemacht, sondern die politische, geistige Nähe, die Verfassungsschutzbehörden zu neonazistischen Gruppierungen hatten und haben. Dass der Umstand, dass jeder dritte in Deutschland rassistische und nationalistische Theoreme teilt, keine anonyme Größe ist, belegt der ehemalige Verfassungsschutzchef in Thüringen Helmut Roewer, der von 1994 bis 2000 das Sagen hatte. Unter seiner Führung wurden nicht nur V-Männer (wie Tino Brandt und Thomas Dienel z.B.) in neonazistischen Kameradschaften (Anti-Antifa-Ostthüringen und Thüringer Heimatschutz) finanziert, deren ›Vergütungen‹ (über 200.000 Mark alleine über den V-Mann Tino Brandt) direkt in den Aufbau dieser Organisationen flossen. Für ihn stellten antifaschistischen Aktivitäten eine größere Gefahr als neonazistische Kameradschaften dar, deren Handlungen er als »Propagandadelikte« (Die Zeit vom 17.11.2011) verharmloste. Bereits kurz nach Amtsantritt, im Jahr 2000 ließ VS-Chef Roewer alle wissen, was man in seinem Amt über Faschismus und Antifaschismus wissen musste: Er bezeichnete Faschisten und Antifaschisten als »siamesische Zwillinge« (Referat von Roewer im LfV am 13. März 2000, Christoph Ellinghaus, Bürgerrechte & Polizei/CILIP 66, 2/2000).

Eine unerträgliche Zumutung – nicht nur geschichtlich betrachtet.

All das tat dieser Mann nicht aus Unwissenheit, sondern auf dem Hintergrund einer politischen Gesinnung, die ohne Umschweife an neonazistische Theoreme herreicht. 1999 war er Gast einer Podiumsveranstaltung: »Er sprach damals über das ›Dritte Reich‹ und dass man ältere Menschen verstehen müsse, die nicht nur schlechte Seiten daran gesehen hätten.« (Die Zeit vom 17.11.2011)

Dass es nicht an fehlender Zusammenarbeit lag, die die Mordserie möglich gemacht hatte, sondern an der Übereinstimmung in rassistischen Grundannahmen, die in Verfassungsschutzbehörden geteilt wurden, belegt ein weiteres Beispiel, über alle Landesgrenzen hinweg.

„Mein Kampf“ und der ahnungslose Führer … eines V-Mannes aus der Kasseler Neonaziszene

Im April 2006 wurde der Inhaber Halit Yozgat eines Internetcafés in Kassel ermordet. Kassel liegt in Hessen und wie es der kometenhafte Zufall will, war zur Tatzeit auch Andreas Temme zugegen, ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes. Unmittelbar zuvor hatte er „mit einem von ihm geführten V-Mann aus der Kasseler Neonazi-Szene telefoniert.” (FR vom 8.6.2012). Genau jener Neonazi war nach Informationen der Frankfurter Rundschau vor seiner Anwerbung „dreimal bei Kundgebungen in Thüringen« (FR vom 24.11.2011)

Ebenfalls bekannt ist, dass die NSU-Mitglieder ihre Morde quer durch Deutschland dank exzellenter lokaler Kontakte zu Neonazis planen und durchführen konnten. Reiner Zufall also, dass sich die Wege eines Mitarbeiters des hessischen Verfassungsschutzes, eines Neonazis aus Kassel und die der Mitglieder der NSU an jenem Mordtag gekreuzt hatten?
Aber halt: Vielleicht war der besagte Verfassungsschützer nur ein ganz normaler, unpolitischer Beamter? Zufällig nicht: Bisher ist unbestritten, dass er „zumindest in seiner Jugend selbst rechtsextrem gewesen war“. (FR vom 8.6.2012) Heute hat er nur Papiere neonazistischer Gruppierungen, Auszüge aus ›Mein Kampf‹ und Schriften zum Dritten Reich in seiner Wohnung.

Einen Zusammenhang wollten weder die Vorgesetzten, noch der oberste Dienstherr, der hessische Innenminister erkennen. Doch dieser Mann hatte nicht nur neonazistisches Material in seiner Wohnung. Bei einer Durchsuchung seiner Privatwohnung fand man ebenfalls vier Schusswaffen, Munition, die nicht zu den gefundenen Waffen gehörte. Und in seiner Dienststelle fand man ein Waffenreinigungsgerät, was nicht zur Dienstausrüstung zählte.

Auf die Spur dieses hessischen Staatsschützers kam man erst, nachdem man die Videokameras auswertete, die in dem Internetcafe installiert waren und die Internetbesucher befragte. Die letzte veröffentlichte Version, die seine Anwesenheit erklären soll, lautet zur Zeit: Er sei rein zufällig und privat dort gewesen und hätte ahnungslos an der Theke bezahlt, während der Besitzer bereits tot hinter der Theke lag. Obwohl alle anderen Internetbesucher die Schüsse gehört haben, will der hessischer Verfassungsschutzbeamte davon nichts mitbekommen haben. Genau so wenig von der Flucht der Mörder. Die Ermittlungen wurden eingestellt, obgleich ein Abschlussbericht festhält: „Außerdem hätte er das Mordopfer hinter dem Tresen liegend bemerken müssen.”

Würde irgend jemand dieser Serie von Zufälligkeiten Glauben schenken, wenn es um die Aufklärung einer ›linken Straftat‹ ginge? Und, angenommen, es wäre so: Warum verschwieg der damalige hessische Innenminister Volker Bouffier (CDU) all diese beruflichen Implikationen?

Doch damit nicht genug. Als Ermittler darauf bestanden, weitere Zeugen in diesem Fall zu befragen, bekamen sie als Antwort vom heutigen hessischen Ministerpräsidenten: „Ich bitte um Verständnis dafür, dass die geplanten Fragen …zu einer Erschwerung der Arbeit des Landesamtes für Verfassungsschutz führen würden.” (Brauner Terror – Blinder Staat – Die Spur des Nazi-Trios“ ZDF-Sendung vom 26.6.2012)

Der Extremismus der Mitte

Dass neonazistische Lebenseinstellungen nicht nur in Kameradschaften Platz finden, sondern auch in staatlichen Behörden, bekam Michel Friedman, ehemaligen Vize-Präsidenten des Zentralrats der Juden, zu spüren. Als Personenschützer wurden ihm vom hessischen Innenministerium 2007 auch Neonazis zur Seite gestellt: »Der Einsatz von drei möglicherweise rechtsradikalen Polizisten als Personenschützer des ehemaligen Vize-Präsidenten des Zentralrats der Juden, Michel Friedman, hat heftige Kritik beim Zentralrat ausgelöst. Zentralrats-Präsidentin Charlotte Knobloch zeigte sich über den Vorfall ›entsetzt und schockiert‹. Sie kritisierte auch die Frankfurter Staatsanwaltschaft, die zwei von drei Verfahren gegen die Polizisten eingestellt hat. … Zur Einstellung der Verfahren meinte sie: ›Es ist nicht hinnehmbar, wenn das Posieren eines Polizeibeamten in einer SS-Uniform und das stolze Herumzeigen dieser Aufnahmen im Kollegenkreis von der Staatsanwaltschaft im vorauseilenden Gehorsam als Kavaliersdelikt eingestuft werden.‹« ( http://www.zentralratdjuden.de/de/article/1274.html )

Der oberste Dienstherr war damals der Innenminister Volker Bouffier (CDU), der es mit dieser Einstellung bis zum hessischen Ministerpräsidenten geschafft hat.

Wie in Thüringen, aber auch in Hessen mit nationalsozialistischen Verbrechen umgegangen wird, beschreibt der letzte Akt in diesem Fall: Einer der abgezogenen Personenschützer wurde anschließend in die Staatsschutzabteilung des LKA versetzt, wo er mit der Fahndung nach untergetauchten NS-Tätern beschäftigt wurde. Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass der aktuelle hessische Ministerpräsident Volker Bouffier/CDU und Dr. Karl Heinz Gasser/CDU, Innenminister in Thüringen von 2004 – 2006 gemeinsam eine Anwaltskanzlei betrieben.

Die Selbstmordthese ist so evident wie die Behauptung, die NSU-Mitglieder seien spurlos verschwunden

»Hat der Neonazi Mundlos wirklich seinen Kumpel und dann sich selbst erschossen? Was, wenn alles ganz anders war?«

Dieses kurze Aufblitzen journalistischer Sorgfaltspflicht taucht in der Frankfurter Rundschau nicht auf den vorderen Politik-Seiten auf, sondern als letzter Satz, auf Seite 40, gut verpackt in einen Artikel über einen Krimiautoren.
(Risse in der Fassade, FR vom 30.12.2011)

Der Tod der beiden NSU-Mitglieder in Zwickau im November 2011 wird unisono als Selbstmord ›kommuniziert‹. Diese Version wird in allen Medien vertreten, obwohl dieselben Medien einräumen, dass sie sich jahrelang an der Nase herumführen ließen, dass sie mitgeholfen haben, falsche Fährten festzutreten.

Allein die Tatsache, dass es für diesen Tathergang am 7. November 2011 zwei gravierend voneinander abweichende Versionen gibt, müsste stutzig machen.

Die erste Version entstand kurz nach dem Überfall und wird von der Thüringer Allgemeine, die sich dabei auch auf Polizeiangaben stützte, so beschrieben: Die Bankräuber benutzten bei ihrem Banküberfall einen Caravan, dessen Spur auch Stunden später zu den NSU-Mitgliedern führte. Die Beamten näherten sich dem verdächtigen Caravan. Dann hörten sie »aus dem Innenraum zwei Knallgeräusche« ….. Kurz darauf brannte der Caravan und dann war alles vorbei.
Die zweite Version ist über zwei Monate jünger, ganz frisch und stammt vom Polizeidirektor Michael Menzel, Leiter der Soko in Thüringen, der ebenfalls mit seinen Polizeibeamten am selben Tatort war: Dieses Mal benutzten die Täter Fahrräder für ihren Banküberfall. Dieses Mal wurde diese ihr Verhängnis. Als die Beamten auf den Caravan stießen, wurden sie sofort mit MP-Salven empfangen: »Wir wussten, dass sie scharfe Waffen hatten. Sie haben sofort auf uns geschossen«, sagt Menzel. (Polizeidirektor Michael Menzel, Leiter der Soko in Thüringen, Bild.de vom 26.11.2011). Dann soll die MP geklemmt haben, worauf die Schützen sich selbst umbrachten.

Beide Versionen werden von Polizeibeamten erzählt. Welche Polizisten, welche Version ist echt? Aufgrund des Umstandes, dass beide Versionen in entscheidenden Punkten voneinander abweichen, sind nuancierte Wahrnehmungsunterschiede auszuschließen. In jedem anderen Fall wäre eine Neuaufnahme des Tathergangs zwingend geboten – in diesem Fall nicht.

Warum schweigen alle auflagestarken Medien? Warum geht niemand diesen eklatanten Widersprüchen nach? Warum picken alle Leitmedien brav die Körner auf, die ihnen die Behörden anbieten, obwohl sie doch allesamt versprachen, nicht länger von Staats wegen gelegte falschen Fährten blind zu folgen?

Inszenierter Selbstmord?

Abgesehen von den komplett verschiedenen Tathergängen, wird als Motiv der schwer bewaffneten Neonazis ihre »aussichtslose Lage« angeführt. Was war daran aussichtslos? Wenn irgendjemand über 13 Jahre hinweg im ›Untergrund‹ sicher war, dann war es der Nationalsozialistische Untergrund/NSU! Was war an dieser staatlich lizenzierten Erfolgstory aussichtslos? Woher wussten sie, dass es dieses Mal keine Unterstützung ›von oben‹ geben wird? Warum sollte eine klemmende MP der Grund sein, sich selbst zu erschießen, anstatt alle anderen Waffen zu benutzen? Wie darf man sich das vorstellen: Zuerst schießen die beiden Neonazis mit der MP um sich, dann klemmt diese, Zeit genug, mit der rechten Hand die Kameradin Beate Zschäpe anzurufen, mit der linken den Campingwagen in Brand zu setzen, und nachdem alles ordentlich erledigt wurde, sich selbst umzubringen?

Und wenn der 7. November 2011 ausnahmsweise aussichtslos war: Warum bringen sich Neonazis um, verbrennen gleichzeitig sich und den Campingwagen? Wenn Beate Zschäpe beim Banküberfall nicht dabei war: Wer hat sie informiert, gewarnt? Das In-Brand-Setzen des Campingwagens, das Abbrennen des Basislagers/Hauses in Zwickau macht nur Sinn, wenn jemand nicht an den Tod denkt, sondern an die Zeit danach. An Spuren, die über die Toten hinausweisen könnten. Verräterische Spuren also, um die sich in aller Regel nur Lebende sorgen.

Der Brand des Hauses in Zwickau, das In-Brand-Stecken des Wohnwagens, in dem sie sich umgebracht haben sollen, lässt andere Motive viel plausibler erscheinen. Wurde hier etwa ein Selbstmord inszeniert, der vor allem der Beseitigung von Spuren diente, an die Aussichtslose keine Sekunde denken würden?

Alleine die Tatsache, dass in dem abgebrannten Haus in Zwickau legal-illegale Papiere gefunden wurden (die den Brand überstanden haben), also amtlich gefälschte Identitäten, verstärkt doch den vielfach belegten Verdacht, dass es zwischen diesen NSU-Mitgliedern und Verfassungsschutzbehörden ›Verbindungen‹ gab, die über Kontakte zu V-Männern weit hinausgingen: »Nach Informationen des Tagesspiegels konnte ein Mitglied des NSU, Uwe Mundlos, über eine sächsische Meldebehörde an einen falschen Reisepass herankommen. Die Meldebehörde habe auf der Basis eines ebenfalls gefälschten Personalausweises einen so genannten legalen illegalen Reisepass ausgestellt, hieß es aus Sicherheitskreisen.« (Der Tagesspiegel vom 24.11.2011)

Beate Zschäpe – eine ›Kameradin‹, eine Informantin des Verfassungsschutzes, eine (kommende) Kronzeugin der Anklage?

Viele Versionen ihrer Lebensaufgabe kursieren in der Öffentlichkeit. Unbestritten scheint nur eines: Beate Zschäpe wird bis heute als drittes Mitglied in der neonazistischen Terror-Gruppe ›NSU‹ geführt. Woher wissen die Fahndungsbehörden so schnell und sicher die Zahl derer Mitglieder, wenn sie 13 Jahre nicht einmal eine Ahnung von deren Existenz hatten?

Nicht nur die sichere Festlegung auf ein ›Terror-Trio‹ erstaunt. Auch die Rolle von Beate Zschäpe als ›einzige Überlebende‹ ist mehr als dubios.

Bisher wissen wir, dass sie bei dem letzten Banküberfall 2011 nicht direkt beteiligt gewesen sein soll. Sie soll sich in der gemeinsamen Zwickauer Wohnung aufgehalten haben, als sie kurz vor dem Tod ihrer ›Kameraden‹ gewarnt worden sein soll. Warum werden für diese Version keine Beweise vorgelegt, obwohl genau dies ein Leichtes wäre: Die Auswertung der Verbindungsdaten könnte belegen, ob es einen Handykontakt zwischen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe gab. Viel vertrauliches und angeblich ›geheimes‹ drang bisher an die Öffentlichkeit. Warum nicht dieses wichtige Beweismittel?

Nach bisher in die Öffentlichkeit getragene Informationen verließ Beate Zschäpe nach der Todesnachricht fluchtartig die gemeinsame Wohnung. Sie soll es gewesen sein, die die Wohnung in die Luft gejagt haben soll, um alle Spuren zu verwischen. Auch diese Legendierung der Ereignisse passt mit dem tatsächlichen Verhalten von Beate Zschäpe überhaupt nicht zusammen. Wenn jemand alle Spuren der bisher so unauffindbaren NSU vernichten will, dann wäre ihrer wichtigste Aufgabe gewesen, den bislang einzigen Beweis zwischen der Mordserie und der NSU zu vernichten: Der Film, der diese Morde als nationalsozialistische Tat verherrlicht! Genau das Gegenteil machte Beate Zschäpe: Sie packte mehrere Kopien dieses Propagandafilmes ein und verschickte sie an bürgerliche Zeitungen und an die Kommunistische Arbeiterzeitung (KAZ) – um ganz sicher zu gehen, dass der Film auch tatsächlich an die Öffentlichkeit gelangt, anstatt im Stillschweigen der Medien unterzugehen.

Nicht die Verfassungsschutzbehörden, nicht die Polizei, nicht die Soko haben den Zusammenhang zwischen den neonazistischen Morden und der NSU aufgedeckt, sondern Beate Zschäpe! Ohne diese Entscheidung hätte die professionelle Ahnungslosigkeit aller Verfolgungsbehörden noch Jahre weitergehen können.

Mit diesem Dokument brachte sie nicht (mehr) die NSU in Schwierigkeiten, sondern die Verfolgungsbehörden, die nun nicht mehr länger die offizielle Version aufrechterhalten konnten, die Morde seien ›Milieutaten unter Kriminellen‹ gewesen.

Damit brachte sich aber auch Beate Zschäpe in höchste Gefahr, denn nun wurde sie als Mitglied in einer terroristischen Vereinigung gesucht. Warum sollte sie sich also freiwillig stellen, nachdem sie sich selbst massiv belastet hatte und angeblich vier Tage unerkannt auf der Flucht war?

Gab es also andere Gründe für Beate Zschäpe, sich ›freiwillig‹ zu stellen? Gründe, die die ermittelnde Generalbundesanwaltschaft verschweigen will und die alle Leitmedien genauso wenig wissen wollen?

Der ›dritte Mann‹ des nationalsozialistischen Untergrundes/NSU – ein Anruf genügt…
Eine Freischaltung zwischen NSU-Mitgliedern und sächsischen Behörden?

Alleine die Tatsache, dass in dem abgebrannten Haus in Zwickau legal-illegale Papiere gefunden wurden (die den Brand überstanden hatten), also amtlich gefälschte Identitäten, verstärkt den vielfach belegten Verdacht, dass es zwischen NSU-Mitgliedern und Verfassungsschutzbehörden ›Verbindungen‹ gab, die über Kontakte zu V-Männern weit hinausgingen: »Nach Informationen des Tagesspiegels konnte ein Mitglied des NSU, Uwe Mundlos, über eine sächsische Meldebehörde an einen falschen Reisepass herankommen. Die Meldebehörde habe auf der Basis eines ebenfalls gefälschten Personalausweises einen so genannten legalen illegalen Reisepass ausgestellt, hieß es aus Sicherheitskreisen.«  Der Tagesspiegel vom 24.11.2011

Im Mai 2012 ist ein weiteres Puzzle an die Öffentlichkeit gelangt, das die Ahnungslosigkeit der Verfolgungsbehörden ad absurdum führt, und die Annahme unterstreicht, dass diese bis zur letzten Sekunde bestens informiert und eingebunden waren.

Bis heute gibt es keinen Beleg dafür, dass Beate Zschäpe am Tag der tödlichen Ereignisse von ihren neofaschistischen Kameraden gewarnt wurde, um dann – für vier Tage – abzutauchen. Wer hat sie also gewarnt bzw. instruiert?

Der Berliner Kurier vom 29.5.2012 rekonstruiert die Ereignisse, kurz nach dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt wie folgt: »Etwas mehr als Stunde, nachdem sie ihre Wohnung in der Frühlingsstraße 26 in die Luft jagte, versuchte jemand Zschäpe anzurufen. Das Pikante: Die anrufende Nummer ist im Sächsischen Staatsministerium des Inneren registriert. Wer aus der Behörde in Dresden wollte Zschäpe sprechen – und vor allem warum?«

Geht man von dieser Faktenlage aus, steht eines unzweifelhaft fest: Die staatlichen Verfolgungsbehörden hatten nicht den Kontakt zu den abgetauchten NSU-Mitgliedern verloren, sondern auf hoch professionelle Weise gepflegt. Wer im sächsischen Innenministerium eine Handynummer von Beate Zschäpe hatte, fahndete nicht nach ihr, sondern führte sie!

Gäbe es Ermittlungen in alle Richtungen, dann wäre doch – ganz vorsichtig formuliert – auch ein anderer Ablauf denkbar: Mit dem Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter 2006 wuchs der Ermittlungsdruck gewaltig. Die seit Jahren existierten Spannungen zwischen Polizei- und Verfassungsorganen brachen ›offen‹ aus, ohne dass diese Spannung nach außen traten. Intern einigte man sich, dass die NSU-Mitglieder ›abgeschaltet‹ werden.

Verfasssungsschutzorgane machten ihnen dies direkt bzw. über die zahlreichen V-Mann-Kontakte unmissverständlich deutlich: Mit dem Polizisten-Mord 2006 war die dead-line überschritten, fortan genossen sie nicht mehr den Schutz der Verfolgungsorgane. Es gehört zu den bekannten Regeln, dass V-Männer ggf. mit Papieren (neuer Identität) und Geld versorgt werden, um sie aus dem ›Dienst‹ zu entlassen. Tatsächlich hielten sich die NSU-Mitglieder an diesen Marschbefehl, verübten weder weitere rassistische Mordanschläge, noch Banküberfälle. Mit dem Entschluss 2011, doch wieder eine Bank zu überfallen, überschritten sie im wahrsten Sinn des Wortes die ›dead-line‹. Da die NSU nie abgetaucht war, der Verfassungsschutz den Kontakte zu dieser neofaschistischen Gruppe immer gepflegt hatte, ist der Anruf aus dem sächsischen Innenministerium kurz nach den tödlichen Ereignissen nur konsequent: Für Beate Zschäpe ging es darum, ihr Leben zu retten, für die involvierten Verfassungsschutzämter ging es darum, mit ihr einen Deal zu machen, der ihre ›Gewährungsleistungen‹ bzw. ›Führungsrolle‹ vertuscht. Nachdem dieser Deal unter Dach und Fach war, stellte sich Beate Zschäpe ›freiwillig‹.

Der Verfassungsschutz hat nicht die Verfassung geschützt, sondern eine neonazistische Terrorgruppe

Die Legitimation des Verfassungsschutzes wird immer wieder damit begründet, dass die von ihm finanzierten V-Männer Einblick in neonazistische Strukturen gewähren, um Straftaten und Verbrechen zu verhindern. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Ohne das Zutun verschiedener Verfassungsschutzbehörden wäre die Mordserie nicht möglich gewesen. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch der SPD-Abgeordnete Gentzel: »Unter Roewers Ägide sei es in der Behörde ›drunter und drüber gegangen‹ – eine Unterstützung des Mordtrios hält Gentzel deshalb durchaus für möglich.« (Die Zeit vom 17.11.2011)

Wie viele ›braune Zellen‹ gibt es in Polizei- und Verfassungsdienststellen, wenn man davon ausgehen muss, dass systematisch Spuren falsch gelegt, Spuren, die zu neonazistischen Organisationen geführt hätten, verschwiegen und unterschlagen wurden, Festnahmen, die möglich gewesen wären, verhindert wurden?

Christian Schlüter, ein Frankfurter Rundschau-Redakteur stellte am Ende seiner Betrachtungen die Frage: »Was hindert uns noch daran, von Staatsterrorismus zu reden?« (FR vom 22.11.2011)

Die Faktenlage ist es jedenfalls nicht.

Fügt man alle bis heute aufgetauchten Indizien, Spuren und Beweise zusammen, darf festgehalten werden: Die Existenz des Nationalsozialistischen Untergrundes/NSU ist ohne die NPD denkbar, aber nicht ohne die finanzielle, logistische und geheimdienstliche Unterstützung des Verfassungsschutzes in Thüringen.

Wie viele V-Männer hatte die NPD im Verfassungsschutz – oder war‘s doch umgekehrt?

Bevor man in die Forderung einstimmt, die NPD müsse verboten werden, sollte man einen Vorschlag ernsthaft prüfen: Wenn man den Verfassungsschutz abschaltet, hätte man zumindest das staatliche Umfeld neonazistischer Ideologien, Helfershelfern und Organisationen ›trocken gelegt‹. Danach wüsste man zweifelsfrei, was von der NPD noch übrig bliebe, wenn alle V-Männer abgezogen, alle finanziellen Unterstützungsleistungen und alle logistischen Hilfen eingestellt worden wären.

Einer hatte schon einmal Angst bekommen, der Innenminister Heribert Rech aus Baden-Württemberg: »Wenn ich alle meine verdeckten Ermittler aus den NPD-Gremien abziehen würde, dann würde die NPD in sich zusammenfallen.« (zit. nach ›Schwarzwälder Boten‹ vom 5.3.2009)

Und solange Polizei- und Landesführungen fortgesetzt mit Tausenden von Polizeibeamten neonazistische Aufmärsche schützen, unter dem Credo: Die größte Herausforderung, also Gefahr ist der Antifaschismus … gilt mehr denn je der Satz von Konstantin Wecker: »Antifaschismus darf man nicht dem Staat überlassen.«

Der Rettungsschirm für die NSU liegt im Innenministerium

Wo liefen die Fäden dieser systematischen Unterstützung für die neonazistische Terrorgruppe/NSU zusammen?
Selbstverständlich reichen die Befugnisse des Verfassungsschutzes nicht aus, schon gar nicht über einen Zeitraum von über 13 Jahren, aufgrund selbstherrlicher Lageeinschätzungen die Polizei zu behindern bzw. zu hintergehen.
Die Entscheidung darüber, wer in einem solchen ›Zielkonflikt‹ zwischen Behörden das Sagen hat, wird im Innenministerium getroffen. Der Schlüssel für die fortgesetzte Untätigkeit, der Schlüssel für den verbrecherischen Umstand, dass Mitglieder der NSU über zehn Jahre morden konnten, liegt im Innenministerium des Landes Thüringen. Von 1999 bis 2002 war Christian Köckert (CDU) Innenminister. In seine Dienstzeit fiel die Anwerbung des früheren NPD-Landesvizes Tino Brandt als V-Mann. Zu den zahlreichen Rücktrittsgründen zählt auch eine in seinem Amt ›verloren gegangene‹ CD mit vertraulichen Daten, unter anderem Protokolle des Thüringischen Verfassungsschutzes und der Parlamentarischen Kontrollkommission. Sein Motto »Gemeinsamkeit ist das Geheimnis des Erfolges« darf wörtlich, also personen- und amtsübergreifend verstanden werden. Nachfolger wurde Andreas Trautvetter, ebenfalls von der CDU (2002-2004), dann trat Dr. Karl Heinz Gasser/CDU (2004-2008) in die Fußstapfen seines Vorgängers. Ein gutes Beispiel dafür, dass diese organisierte Untätigkeit nicht an einzelnen Personen liegt, sondern an der Verfasstheit des Innenministeriums.

Wenn also geplante Zugriffe in letzter Minute abgebrochen, wenn mögliche Festnahmen verhindert werden, wenn Konflikte zwischen Polizei und Verfassungsschutz entschieden werden müssen, dann ist als oberster Dienstherr der Innenminister für diese Entscheidungen verantwortlich.

Lückenlose Aufklärung?

Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) hat in ihrer Regierungserklärung und bei jeder anderen Gelegenheit auch versprochen, die Aufklärung der grausamen Verbrechen des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) mit Nachdruck und ohne Ansehen der Person voranzutreiben. Nehmen wir sie beim Wort.

Dann wäre es nicht damit getan, die Morde, die dem Nationalsozialistischen Untergrund/NSU zugerechnet werden, aufzuklären. Dazu würde auch gehören, allen Hinweisen nachzugehen, die auf strafbare Handlungen im Amt hindeuten, also Handlungen, die eine frühzeitige Festnahme der Mitglieder des NSU verhinderten, Handlungen, die die Mitglieder der NSU logistisch, finanziell und operativ unterstützten, also neonazistische Mordanschläge über zehn Jahre mit ermöglicht haben. Die bisher verbreitete Version, es handele sich um »Pannen« kann dabei als durchsichtige Schutzbehauptung gewertet werden. Wenn das Innenministerium in einer Zeitspanne von über zwölf Jahre mehrmals polizeiliches Vorgehen verhinderte, das Verhaftungen ermöglicht hätte, wenn geplante Festnahmen ›abgeblasen‹ wurden, dann handelt sich dabei nicht um Pannen, sondern um geplante, immer wieder abgestimmte Entscheidungsprozesse.

Das Strafrecht unterscheidet drei verschiedene Arten des Tatverdachts. Die geringste Stufe bildet dabei der Anfangsverdacht gemäß §§ 152, 160 StPO: »Ein Anfangsverdacht ist gegeben, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für Straftaten vorliegen. Zureichende tatsächliche Anhaltspunkte sind dann gegeben, wenn die Möglichkeit einer strafbaren Handlung besteht.«

Gehen wir einmal davon aus, dass ein solcher Anfangsverdacht gegenüber einem Innenminister nicht schwerer oder leichter wiegt, als gegenüber jedem anderen Verdächtigen, dann stellt sich doch angesichts der zahlreichen tatsächlichen Anhaltspunkte die Frage, warum bis heute nicht gegen die jeweiligen Innenminister wegen des Verdachts der Strafvereitelung ermittelt wird? Warum wurde bis heute nicht von Amts wegen gegen die jeweiligen Innenminister wegen des Verdachts der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung ermittelt?

Mely Kiyak hat in der Frankfurter Rundschau vom 4.6.2012 einen eindrucksvollen ›Fahndungsaufruf‹ verfasst:

»Liebes Schweigen im Lande!

Vor drei Wochen veröffentlichte das Bundeskriminalamt (BKA) Urlaubsfotos der NSU-Neonazigruppe. Zwei hübsche junge Männer und eine fröhliche Frau mit Stupsnase im Campinglager…Uwe Böhnhardt auf einem gelben Boot. Uwe Böhnhardt braun gebrannt. Uwe Mundlos im Gegenlicht. Surfen. Lachen. Rauchen…. Nun die Frage unserer Sicherheitsbehörden: Wer kann Angaben zum Surfbrett machen? Wer kann Angaben zum Mountainbike machen? Stille.

Gegenfrage: Wer kann Angaben zum Verbleib der Sicherheitsbehörden machen? Wer hat sachdienliche Hinweise über den Geheimdienst? Stille…. Wer kann Angaben darüber machen, warum die Polizei Profiler engagierte, die auf einen rechtsextremistischen Hintergrund als Mordmotive hinwiesen, der Hinweis aber ignoriert wurde? Wer kann Angaben über den hessischen Verfassungsschützer Andreas T. machen, der am 6. April 2006 in Kassel um 17.01 Uhr und 40 Sekunden im Internetcafé von Halit Yozgat saß und auf seinen Lieblingsseiten surfte? Um 17.03 Uhr fand Ismail Yozgat seinen sterbenden Sohn. Der Verfassungsschützer gab später an vergessen zu haben, dass er zum Tatzeitpunkt am Tatort war. Wer kann Angaben darüber machen, weshalb Andreas T. nicht in Untersuchungshaft sitzt? Stille.

Versteht jemand, weshalb es angesichts der desaströsen Beweislast gegen die Integrität unseres Staates und seiner Sicherheitsbehörden keine Ermittlungsverfahren gegen Innenminister, Polizisten und Staatsanwälte gibt? Versteht einer die Frage nach dem Verbleib eines Surfbretts angesichts der viel drängenderen Frage nach dem Verbleib rechtsstaatlichen Handelns und dem Verdacht, dass der Ermittlungseifer unseres Sicherheitsapparates immer dann nachließ, wenn Bürger hingerichtet wurden, die nicht Helmut, Herbert oder Heiner hießen, sondern Enver, Halit oder Theodorus? Stille.

›Es gab keine heiße Spur‹, verteidigen sich ehemalige Minister, keine heiße Spur in einem Land, wo allein in den letzten zwanzig Jahren 182 Mitbürger von Rechtsextremisten getötet wurden, deren Taten ›fremdenfeindlich‹ genannt werden. Die Opfer sind fremd und die Täter stehen uns nahe? Gibt es Zeugen für das Märchen vom NSU-Untergrund?…«

Kein Untersuchungsausschuss wird diese Fragen beantworten, geschweige denn die politischen und strafrechtlichen Konsequenzen daraus ziehen.

Das Märchen vom ›blinden Staat‹ – oder
Noch nie konnte ein Blinder so gut sehen!

Obwohl sich bis heute die Beweise und Hinweise stapeln, dass der Staat, also seine Verfolgungsbehörden weder die Spur zu den abgetauchten NSU-Mitgliedern verloren hatten, noch die Behauptung eine Sekunde standhält, man habe keine ›heiße Spur‹ gehabt, um den neonazistischen Terror zu stoppen, klammern sich alle Aufklärer, ob in der Gestalt von Untersuchungsausschüssen oder in Gestalt der Generalbundesanwaltschaft an der aberwitzigen Losung, man habe jahrelang, über ein Jahrzehnt im Dunkeln getappt. Aber auch die Leitmedien halten sich eisern an diese Verlautbarungsformel, mit einer geradezu wirklichkeitsfremden Inbrunst. Da erzählen in besagter ZDF-Dokumentation die Eltern von Uwe Böhnhardt in aller Ausführlichkeit von mehreren Treffen mit ihrem inzwischen abgetauchten Sohn, von Anrufen, die abgehört wurden, von Nachrichten im Briefkasten, obwohl der Wohnort der Familie mit Sicherheit observiert wurde… und die ZDF-Redaktion gibt trotz alledem der Dokumentation den Titel: ›Brauner Terror – Blinder Staat – Die Spur des Nazi-Trios‹.

Warum halten alle ›Aufklärer‹ an dieser irreführenden Behauptung fest, reden einen Staat blind, obwohl es genug Belege und Hinweise gibt, dass dieser in Gestalt von Kontaktpersonen, von V-Männern quasi mit am Tisch der NSU-Mitglieder saß!

Das Phantasma von blinden Staat, von Behörden, die sich 13 Jahre lang von Panne zu Panne hangelten, hat einen enormen politischen Vorteil, einen geradezu widerlichen Zugewinn: Handelt es sich um eine Staat, der sich selbst im Weg stand, dessen Verfolgungsorgane sich selbst blockierten, dann ist die Lösung ganz einfach: Man optimiert alles, die Geheimdienste, die Kompetenzwege. Man bündelt und zentralisiert, was angeblich verstreut in den verschiedenen Geheimdiensten und Polizeidienststellen gesammelt wurde. Am Ende einer geradezu terroristischen Verbundenheit mit neonazistischen Mordtaten steht dann nicht die Auflösung jener Staatsschutzorgane, sondern ihre Omnipotenz, ihre weitere Ermächtigung bis hin zur gänzlichen Aufhebung des Trennungsgebots von Geheimdienst und Polizei. Also ein weiterer Verfassungsbruch!

Ginge man hingegen von der evidenten Annahme aus, dass nicht der Dilettantismus, sondern die hoch konspirative Zusammenarbeit verschiedener Verfolgungsbehörden das ›Abtauchen‹ der späteren NSU-Mitglieder ermöglicht hat, dass all die Möglichkeiten, die neonazistischen Mordserie zu stoppen, nicht an der fehlenden Koordinierung, sondern aufgrund von Führungsqualitäten, die bis in die zuständigen Innenminiserien hinein reichten, vereitelt wurden, dann stellen sich ganz andere Fragen:

Wer hatte Interesse daran, dass die bestens überwachten Mitglieder des Thüringer Heimatschutzes/THS ›abtauchen‹ konnten?
Wer organisierte den staatlichen Schutz dieser neonazistischen Terrorgruppe/NSU?
Wer hat ein politisches Interesse daran, dass in diesem Land neonazistischer Terror über viele Jahre hinweg verübt werden konnte?
Wer sorgt(e) dafür, dass Geheimdienste im rechtsfreien Raum agieren können?
Wer garantiert bis heute, dass Geheimdienste nicht kontrolliert, das Decken und Begehen von schweren Straftaten nicht verfolgt wird?
Woran liegt es, dass eine Mehrheit der im Bundestag vertretenen Parteien gar kein Interesse daran hat, ihrer parlamentarischen Kontrollpflicht nachzukommen?
Wie viel Übereinstimmung herrscht also unter diesen Parteien, dass das, was politisch nicht mehr kontrolliert wird, weiterhin geschehen kann?

Mely Kiyak, freie Journalistin, hat in ihrem neusten Kolumne in der Frankfurter Rundschau, eine Sitzung des Bundestagsuntersuchungsauschusses zur NSU protokolliert. Es war Gerald Hoffmann, Leitender Kriminaldirektor des Polizeipräsidiums Nordhessen und Chef der ›SOKO Café‹ geladen, der zu dem Mord in Kassel im Jahr 2006 befragt wurde. Dabei ging es auch um die Frage, warum die Ermittlungen gestoppt, als verhindert wurden. Mely Kiyak fasst den folgenden Dialog zwischen dem Untersuchungsausschuss (UA) und Gerald Hoffmann (GH) so zusammen:
»GH: Innenminister Bouffier hat damals entschieden: die Quellen von Herrn T. können nicht vernommen werden. Als Minister war er für den Verfassungsschutz verantwortlich.

UA: Er war doch auch Ihr Minister! Ist Ihnen das nicht komisch vorgekommen? Jedes Mal, wenn gegen V-Männer ermittelt wurde, kam einer vom Landesamt für Verfassungsschutz vorbei, stoppt die Ermittlung mit der Begründung, der Schutz des Landes Hessen ist in Gefahr. Aus den Akten geht eine Bemerkung hervor, die meint, dass man erst ein Leiche neben einem Verfassungsschützer finden müsse, damit man Auskunft bekommt. Richtig?
GH: Selbst dann nicht…
UA: Bitte?

GH: Es heißt, selbst wenn man eine Leiche neben einem Verfassungsschützer findet, bekommt man keine Auskunft.« (FR vom 30.6.2012)

Wie nahe liegen also ›national befreite Zonen‹ der Neonazis und rechts- und straffreie Zonen der Verfolgungsbehörden beieinander?

Es wird entscheidend darauf ankommen, ob sich alle, die sich gegen Neofaschismus, Rassismus und Antisemitismus engagieren, darauf einigen, dass es nicht nur darauf ankommt, einen Neonaziaufmarsch zu verhindern, sondern auch darauf, sich einer fortgesetzt straffreien Exekutive in den Weg zu stellen.

Die genehmigte Route eines Neonaziaufmarsches kennt man – die genehmigte Route zwischen Polizei, Verfassungsschutz, Staatsanwaltschaft und Innenministerium mittlerweilen auch.

Editorische Hinweise

Den Text spiegelten wir vom Blog des Autors: http://wolfwetzel.wordpress.com ; er ist Mitglied in der ANK Frankfurt

Eine Kurzfassung dieser sechsmonatigen Recherche findet sich auch hier: http://www.nachdenkseiten.de/?p=13772
Wer davon noch nicht genug hat bzw. das hier beschriebene für einen landesspezifischen Sonder – also Einzelfall hält, wird zu einer Reise durch hessische Geheimdienste eingeladen:
›Es geht nicht darum, einen guten Verfassungsschutz zu haben, sondern gar keinen‹:
https://wolfwetzel.wordpress.com/2008/09/20/es-geht-nicht-darum-einen-guten-verfassungsschutz-zu-haben-sondern-gar-keinen/

Die vorliegende Fassung stammte vom 19.7.2012 aktualisiert.