Basis und Überbau
Aufzeichnung aus den Jahren 1930/31

von Antonio Gramsci

10-2012

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Ökonomie und Ideologie. Die Behauptung, die wie ein grundlegendes Postulat des historischen Materialismus vorgebracht wird, daß jede Bewegung in der Politik und der Ideologie als ein unmittelbarer Ausdruck der Basis darzustellen und zu erklären ist, muß theoretisch als primitiver Infantilismus und praktisch mit dem authentischen Zeugnis von Karl Marx bekämpft werden, der konkrete historische und politische Werke verfaßt hat. Unter diesem Gesichtspunkt sind besonders wichtig der ,,18. Brumaire" und die Schriften über die „Eastern Question"(1), aber auch andere („Revolution und Konterrevolution in Deutschland", „Der Bürgerkrieg in Frankreich" und kleinere). Eine Analyse dieser Werke ermöglicht es, die marxistische historische Methodologie genauer zu bestimmen, indem man die in allen Werken verstreuten theoretischen Thesen zusammenstellt, erklärt und interpretiert.

Man kann dabei sehen, mit welch großer Zurückhaltung Marx an seine konkreten Untersuchungen herangeht; diese Zurückhaltung war in den allgemeinen Werken nicht mehr angebracht. Für diese Zurückhaltung sollen folgende Beispiele angeführt werden:

1. Die Schwierigkeit, die Basis jeweils statisch (wie eine fotografische Momentaufnahme) zu erfassen. Die Politik ist in der Tat stets die Widerspiegelung der Entwicklungstendenzen der Basis, diese Tendenzen müssen aber nicht unbedingt zu ihrer vollen Entfaltung kommen. Ejne Phase der Basis kann erst dann konkret studiert und analysiert werden, wenn sie ihren gesamten Entwicklungsprozeß durchlaufen hat, und nicht schon während des Prozesses selbst. In diesem Fall darf man nur eine Hypothese aufstellen, wobei man ausdrücklich betonen muß, daß es sich um eine Hypothese handelt.

2. Daraus folgt, daß einer bestimmten politischen Handlung durchaus ein Kalkulationsfehler von Führern der herrschenden Klassen zugrunde gelegen haben kann, ein Fehler, den die historische Entwicklung im Zuge der parlamentarischen Regierungskrisen der herrschenden Klassen korrigiert und überwindet: Der mechanische historische Materialismus zieht die Möglichkeit des Irrtums überhaupt nicht in Betracht, sondern sieht jeden politischen Akt unmittelbar durch die Basis bestimmt, das heißt als eine Widerspiegelung einer realen und dauerhaften (erworbenen) Veränderung der Basis. Das Prinzip des „Irrtums" ist komplex: Er kann auf einem individuellen Impuls auf Grund falscher Einschätzung beruhen oder auch Ausdruck eines Versuchs bestimmter Gruppen und Grüppchen sein, die Vorherrschaft innerhalb der herrschenden Gruppierung an sich zu reißen; Versuche, die scheitern können.

3. Es wird nicht genügend berücksichtigt, daß viele politische Handlungen durch eine innere Notwendigkeit der Organisation verursacht werden, das heißt, sie sind durch das Erfordernis bedingt, einer« Partei, einer Gruppe, einer Gesellschaft einen geschlossenen Charakter zu geben. Das zeigt sich zum Beispiel klar in der Geschichte der katholischen Kirche. Wenn man für jeden ideologischen Kampf innerhalb der Kirche die unmittelbare und ursprüngliche Erklärung in der Basis suchen wollte, würde man schön hereinfallen: Darüber sind viele politisch-ökonomische Romane geschrieben worden. Es ist jedoch offensichtlich, daß der größte Teil dieser Auseinandersetzungen sektiererischen Charakter trägt und in der Organisation seine Ursache hat. Es wäre lächerlich, wollte man bei dem Streit zwischen Rom und Byzanz über die Herkunft des Heiligen Geistes in der Basis Osteuropas die Bestätigung dafür suchen, daß der Heilige Geist nur vom Vater herrührt, und in der Basis des Westens, daß er von Vater und Sohn herrührt. Die beiden Kirchen, deren Existenz und Konr flikt durch die Basis und die ganze Geschichte bedingt sind, haben Fragen aufgeworfen, die für jede ein Prinzip der Unterscheidung voneinander und des inneren Zusammenhangs sind, aber es hätte durchaus der Fall sein können, daß die eine der beiden Kirchen gerade die Behauptung aufgestellt hätte, die nun die andere erhoben hat; das Prinzip der Unterscheidung und des Konflikts wäre das gleiche geblieben, und eben dieses Problem der Unterscheidung und des Konflikts stellt das historische Problem dar, nicht die zufällige Parteinahme jedes der beiden Teile.

Anmerkung 1) Gemeint ist die von Karl Marx in der „New York Daily Tribüne" 1853 veröffentlichte Korrespondenz „The Eastern Question" („Die orientalische Frage", MEGA, Bd. 12, Berlin 1972, S. 254-259).
 

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen: Antonio Gramsci, Zu Politik Geschichte und Kultur, FfM 1980; S.219f
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