Des Rätsels Lösung: Ein Plagiat
Gunnar Hinck über die bundesdeutsche Linke der siebziger Jahre

besprochen von Karl-Heinz Schubert

10-2012

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Die MLPD - 1982 hervorgegangen aus dem 1972 gegründeten KABD - wird bei den nächsten Bundestagswahlen 2013 mit Landeslisten in allen 16 Bundesländern und etlichen Direktkandidaten antreten. Erst unlängst feierte die Zeitschrift Graswurzelrevolution ihren 40. Geburtstag. Der „Gegenstandpunkt“, das Nachfolgeprojekt der Marxistischen Gruppen, die aus den 1968 gegründeten Münchner Roten Zellen hervorgingen, ist nachwievor ein bestimmender Teil der theoretischen Diskussion unter MarxistiInnen - vergleichbar mit der sogenannten „Wertkritik“, einer Strömung mit direkten Wurzeln in der ML-Bewegung der 1970er. Das Argument, die ProKla, Konkret, Analyse & Kritik - um nur einige zu nennen - sind ebenso allesamt Produkte der 1960/70er Jahre, deren Bedeutung und Einfluss innerhalb der BRD-Linken nicht nachgelassen haben. Die Rote Hilfe - ebenfalls aus der K-Gruppenzeit - ist mit 5.600 Mitgliedern ist laut Verfassungsschutz eine der stärksten „linksextremistischen“ Organisation in der BRD.

Selbst die sogenannten Postautonomen, also jene Autonomen, die auf die Fünfzig zugehen, halten die ideologischen Traditionen der„Sponties“ der „roten 70er Jahre“ hoch - und keine der trotzkistischen Organisationen, die es bereits in den 70er Jahren gab, ist untergegangen. Sie haben sich nur umgruppiert und bilden überwiegend Fraktionen/Grüppchen innerhalb und entlang der Linkspartei, mit deren Hilfe sogar Mitglieder der 1968 gegründeten DKP Parlamentsmandate erringen konnten.

Wollte man freilich eine Geschichte der bundesdeutschen linksradikalen Organisationen der siebziger Jahre schreiben, die bis zur Gegenwart reicht, wie es das Inhaltsverzeichnis von Gunnar Hincks Buch „Wir waren wie Maschinen“ vorgibt, wäre schlußendlich darin auch noch die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter-Union (FAU) zu behandeln, die 1977 gegründet wurde. Ein derartiger Rückblick auf solche Traditionslinien, der der politischen Orientierung für heute dienlich ist, wäre schon eine lohnswerte Aufgabe. Doch darum geht es Gunnar Hinck überhaupt nicht. Er will denunzieren und einen pseudovoyeuristischen Blick in die politische Vita so genannter exlinker Promis, heute im Rentenalter, werfen.

Aus einer Art Steckbriefliste von rund 90 Linksradikalen der 1970er Jahre (S.80-89) wählt Hinck 16 „Promis“ aus. In der Reihenfolge ihres Auftritts sind es: Gerhard Held (KBW), Alexander von Plato (KPD), Tissy Bruns (DKP), Gerald Klöpper (Bewegung 2. Juni), Klaus Hüllenbrock („Mescalero-Brief-Schreiber“) Peter Berndt (KBW, Pseudonym), Peter Neitzke (KPD), Wolfgang Schwiedrzik (KPD), Joscha Schmierer (KBW, Jochen Noth (KBW), Jochen Staadt (Liga gegen den Imperialismus), Krista Sager (KBW), Fanni Mülo (DKP), Wolfgang Motzkau (KBW), Burkhard von Braunbehrens (KBW), J.A. (KB). Mithilfe ihren narrativ ermittelten Lebenswegen will er ein „bis heute nicht geklärtes Rätsel“ lösen, nämlich warum damals „ein bedeutender Teil der Jahrgänge 1940 bis 1960 das System der Bundesrepublik radikal abgelehnt und eine kommunistische, zumindest sozialistische Gesellschaftsordnung angestrebt“ (S.13) hat. Personen aus seiner Liste, die ihm für seine Untersuchungsabsicht - wie etwa Christian Semler (KPD) - wichtig sind, die ihm aber kein Interview gaben bzw. die er nicht hören wollte, läßt er durch Sekundärquellen zu Worte kommen.

Gunnar Hinck weiß durch die vom BKA 2010 herausgegebene „qualitative Studie zu Biographien
von Extremisten und Terroristen“
von Saskia Lützinger „Die Sicht der Anderen“, die er zustimmend auf der Seite 94 / Fußnote 152 oder auf Seite146 erwähnt, nicht nur wie sein selbsterfundenes Rätsel methodisch zu lösen ist, sondern auch was dabei als Befund rauskommen muss.

In dieser Studie heißt es zu Methode und Befund: „Der Versuch, unterschiedliche terroristische bzw. extremistisch ideologisierte Milieus und Gruppierungen aus der biographischen Perspektive der Akteure (insbesondere inhaftierter Tä ter) vergleichend zu betrachten, hat sich als tragf ähig und Erkenntnis fördernd erwiesen.“(S.75, siehe dazu im einzelnen S.7ff) Als zentrale Erkenntnismethode nennt Lützinger das „narrative Interview“ (S.67), durch welche sichtbar wurde, dass sich „unabhängig von ihrer Bindung an die jeweilige Ideologie bzw. extremistische Gruppierung – gleiche psychosoziale Grundmuster in den biographischen Entwicklungen der von uns untersuchten Akteure herausstellten.“(S.67) Und den Befund fasst sie folgendermaßen zusammen: „Resümierend kann festgehalten werden, dass die hier untersuchten Biographien grundlegend entwicklungsbelastete Personen charakterisieren, die mangels eines funktionierenden und eine gesunde und gelingende psychosoziale Entwicklung garantierenden Elternhauses äußerst prek äre soziale Kontakte eingegangen sind. Das jeweilige extremistisch-terroristische Milieu bzw. Gruppenangebot fungierte als Ersatz für ein funktional und strukturell gestörtes Elternhaus.“ (S.75f)

Bevor Gunnar Hincks seine Probanden so richtig zu Wort kommen läst, nennt er bereits des Rätsels Lösung anhand der Kindheits- und Jugenderlebnisse seines oralen Kronzeugen Joscha Schmierer (KBW-ZK-Sekretär) und seiner Sekundärquelle Christian Semler (KPD-Vorsitzender): „So unterschiedlich die Biografien von Joscha Schmierer und Christian Semler auch sind, zeigen sie doch Gemeinsamkeiten auf. Beide entstammen beschädigten Familien.“(S. 118) Diese von Lützinger geborgte These wird von da an, wie ein roter Faden sein Buch durchziehen, um am Ende noch einmal wie folgt resümiert zu werden:

„Fasst man die Kontinuitäten und die tatsächlichen Motive zusammen, ist der Schluss zwingend, dass sich die federführenden Linksradikalen für das angeblich historische Subjekt, die Arbeiter, in Wirklichkeit nie ernsthaft interessiert haben. Vielleicht haben sie die Arbeiter und deren Probleme und Bedürfnisse insgeheim sogar verachtet. Sje waren Bürgerkinder, aber eben keine »behüteten Bürgerkinder«, sondern »gebrochene Bürgerkinder«. Sie waren Suchende. Der Marxismus und der Rückgriff auf die Arbeiterklasse war für sie ein geeignetes Vehikel, um ganz anderen, persönlichen Bedürfnissen nachzukommen. Über den Marxismus und die von ihnen gegründeten Organisationen konnten sie Macht- oder Gewaltfantasien ausleben, ihre eigene Orientierungslosigkeit kompensieren, das Bedürfnis nach Anerkennung oder nach Gruppenzugehörigkeit befriedigen oder mit den eigenen Eltern entweder abrechnen oder - auf verschlüsselte Weise - mit ihnen in Kontakt treten. Hätte der Marxismus in den 70er Jahren weltpolitisch zufälligerweise keine Rolle gespielt, hätte es keinen Vietnamkrieg gegeben und keinen Mao Tse-tung und wäre stattdessen gerade die Scientology-Sekte en vogue gewesen, hätten sie sich womöglich massenhaft Scientology angeschlossen - oder ähnliche Sekten gegründet.“ (S. 424f)

Gerade an der in diesem Resumee vorgenommenen Gleichsetzung von K-Gruppe und Scientology als mögliches Kompensationsprojekt für die mit klinischer Psychologie (S.135f, Fußnoten: 232-236) diagnostizierten familialen Sozialisationsdefizite zeigt sich, dass es sich bei Gunnar Hincks oraler Geschichtsaufarbeitung mit exlinken Probanden im Kern um ein Plagiat auf Lützingers Studie handelt. Hinck spricht ja selber schamhaft von „Parallelen“(S.94), indem Methode und Befund vom Original auf eine neue Tätergruppe übertragen werden: Bei Lützingers Studie handelt sich um „Mitläufer“ (siehe dazu S. 20-66), bei Hinck um „Führungspersonal“.

Während jedoch Lützinger klare Auskünfte erteilt, nach welchen Kriterien sie mit Hilfe von Polizei und Staatsschutz sowie deren Datenbanken ihren Personenkreis von letztlich 39 Befragten zusammengebracht hat, schweigt sich Gunnar Hinck zu diesem Thema aus. Bei seinen exlinken Probanden bedurfte es sicherlich keiner staatlicher Mithilfe, sondern eher persönlicher bzw. beruflicher Kontakte, wie sich aus der Tatsache schließen lässt, dass Alexander von Plato und Jochen Staadt Autorenkollegen von Hinck beim Deutschland Archiv sind. Dennoch erfüllt sein Buch ebenso wie Lützingers Studie staatsschützende Zwecke. Wenn Hinck nämlich glaubt, mittels der von ihm redigierten Interviews (S.428) behaupten zu können, dass die von ihm ausgewählten K-Gruppen ihre  Mobilisierten und Organisierten nur für eigennützige Zwecke mißbrauchten; er schlussendlich soweit geht, die freche These
aufzustellen, dass „alles, was links von der SPD lag“ durch diese Gruppen „über Jahrzehnte diskreditiert war (S.425), und die LeserInnen diesen Schmarren glauben, dann ist der staatsschützende Zweck erfüllt.

Lützinger braucht ihre Studie um adäquate präventive pädagogische und polizeiliche Maßnahmen für das von ihr untersuchte Klientel zu fordern. Für die von Gunnar Hinck anvisierte Zielgruppe reicht orale Zeitzeugen-Indoktrination als vorbeugende Maßnahme.

Etwaige Zweifel an der Seriosität seines Machwerks immunisiert er gleich eingangs mit dem Argument: „Den Gruppierungen der 70er Jahre wird gemessen an deren Bedeutung hingegen nur wenig Beachtung geschenkt.“ (S.15) und labelt sich damit als ein Autor, der mit seinem Buch diese Lücke auf ganz persönliche Weise und  damit seriös schließen wird: „Ich habe das Buch geschrieben, weil ich verstehen wollte, warum eine Anzahl junger und jüngerer Leute in den 70er Jahren an die kommunistische Weltrevolution glaubte.“(S.8)

Wer ernsthaftes Interesse am „Verstehen“ der 1970er Jahre hat, für die/den gibt es eine Vielzahl von interessanten und lehrreichen Büchern sowie auch Onlinearchive, wovon ich einige wenige abschließend nennen möchte.

  • Gerd Langguth, Protestbewegung - Die Neue Linke seit 1968, Köln 1983, S. 374
    Der damalige Leiter der Bundeszentrale für Politische Bildung schrieb eine nahezu vollständige enzyklopäische Übersicht über die linken Organisationen und ihre politischen Ziele aus CDUler Sicht, aber dennoch eine empirisch saubere Arbeit. (ab 4 € bei http://www.booklooker.de)

  • Michael Steffen, Geschichten vom Trüffelschwein - Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971 bis 1991, Dissertation Marburg 2002. Im Netz: http://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2002/0060/pdf/z2001-0060.pdf

  • Günther Gellrich, Die GIM - Zur Politik und Geschichte der Gruppe Internationale Marxisten, Köln 1999,
    erhältlich über das Internet: http://www.rsb4.de/ oder http://www.islinke.de/

  • Tobias Wunschik,  Die maoistische KPD/ML und die Zerschlagung, ihrer "Sektion DDR" durch das MfS, Berlin 1997, S. 45, eine bürgerliche, aber faktenreiche Darstellung dieses besonderen Strangs der K-Gruppen Geschichte, http://www.bstu.bund.de

  • Zentralkomitee der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands, Geschichte der MLPD, 2 Bd., Essen 1985, zusammen über 1.000 Seiten,  keine reine Parteigeschichte, da die Wurzeln der Organisation in der Jugend- und Studentenbewegung liegen. Zu bestellen über: http://www.people-to-people.de/

  • Jan Ole Arps, Frühschicht -  Linke Fabrikintervention in den 70er Jahren, Berlin 2011, 240 Seiten, Verlag Association A

  • Pieter Bakker Schut, Dokumente - das info, briefe von gefangenen aus der raf - aus der diskussion 1973-1977, weiteres siehe: http://www.info.libertad.de/blogs/7/584

  • Thomas Klein, SEW - Die Westberliner Einheitssozialisten, Eine "ostdeutsche" Partei als Stachel im Fleische der "Frontstadt"?, Berlin 2009, 312 Seiten
     

  • ONLINEARCHIVE


Gunnar Hinck
Wir waren wie Maschinen
Die bundesdeutsche Linke der siebziger Jahre

Eulenspiegel Verlagsgruppe
ISBN 978-3-86789-150-9
464 Seiten
12,5 x 21,0 cm
brosch.
19,95 €

 

Editorische Hinweise

Den Text erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.