Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Die bürgerlich-demokratischen Deiche werden brüchig
Die Bündnisdiskussion zwischen Konservativen und Neofaschisten flammt neu auf

10-2013

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Alle oder fast alle französischen Tageszeitungen führten Mitte September 2013 den Front National auf ihren Titelseiten, oder widmeten ihm zumindest mehrere Seiten im Blattinneren. Die rechtsextreme Partei konnte sich zu dem Zeitpunkt über mangelndes Medienecho nicht beklagen, auch wenn es in den darauffolgenden 14 Tagen dann wieder nachließ. Auch über den Inhalt einiger Schlagzeilen, auch wenn die dahinter stehende Intention eher alarmistisch ist – also beabsichtigt, Gegenkräfte aufzurütteln –, kann die extreme Rechte durchaus erfreut sein. Etwa bei der Pariser Abendzeitung Le Monde: „Die große Angst vor dem FN ergreift die politischen Eliten.“1 Oder bei der Onlinzeitung Huffington Post (französische Ausgabe): „Marseille, die Türe des Front National zur Macht“ (Ankündigung in der Newsletter) respektive „…das Vorzimmer des FN zur Macht“2

Triumphbesoffener Auftakt zum Kommunalwahlkampf

Marseille war der Ort, wo der FN am Wochenende des 14./15. September 13 seine „Sommeruniversität“ abhielt. Die Veranstaltung, die in Wirklichkeit vor allem den Auftakt zum Kommunalwahlkampf des Front National – die Rathauswahlen in ganz Frankreich werden am 23. und 30. März 2014 stattfinden – bildete, fand im Kongresszentrum der Mittelmeermetropole statt. Dazu gab es auch eine Gegendemonstration. An ihr nahmen laut Angaben der Veranstalter/innen „10.000“, laut jenen der Polizei „1.200 bis 1.300 Personen“ teil. Die Wahrheit liegt sicherlich in der Mitte, laut manchen gewöhnlich unterrichteten Quellen bei 2.000 bis 3.000 Menschen. Die Mobilisierung zu der Demonstration war überwiegend regionaler Natur, von Montpellier über Marseille bis Nizza. Auch wenn es von Paris aus ebenfalls eine begrenzte Mobilisierung gab (für die mit hohem Energieeinsatz, aber von Wenigen, mobilisiert worden war) - ein Bus fuhr am Freitag Abend von der Hauptstadt aus nach Marseille, und vielleicht 50 Menschen reisten zusätzlich im Zug an.

Wie auch bei der vorangegangenen Demonstration in Paris am 23. Juni 13, nach dem gewaltsamen Tod des jungen Antifaschisten Clément Méric Anfang Juni d.J. (rund 5.000 Teilnehmer/innen), dominierte optisch ein linksradikal-antifaschistisches bis autonomes Spektrum, was nicht unbedingt der Schaffung einer breiten politischen Aktionseinheit dienlich ist, obwohl daran die Abwesenden weitaus mehr Schuld tragen als die Anwesenden. Die Gewerkschaften hatten nur begrenzt, die linken Parteien (mit Ausnahme des NPA, rund 100 Teilnehmer/innen) fast gar nicht mobilisiert. Es wird zu gegebener Zeit erforderlich sein, eine Bilanz aus den aktuellen enormen Problemen der Antifa-Mobilisierung zu ziehen!

Drinnen, im Konferenzzentrum, nahmen unterdessen rund 4.000 Personen lt. Beobachtern – laut Eigenangaben der Partei angeblich 4.500 – an der Tagung des Front National teil. In ihrer Rede wetterte Marine Le Pen gegen die etablierten Parteien, gegen die soziale und wirtschaftliche Situation in Frankreich und gegen die angebliche „Unterordnung Frankreichs unter die USA“.

Höhenflug in Mittelmeer-Metropole

Marseille war tatsächlich der geeignete Ort für den Auftakt zum Kommunalwahlkampf des FN. Jüngste Umfragen sagen dort ein Ergebnis bei der Kommunalwahl im März kommenden Jahres voraus, das die Liste der UMP (bürgerliche Rechte) bei 34 Prozent, den Front National auf dem zweiten Platz bei 25 Prozent, und die „Sozialistische“ Partei hinter ihm bei 21 Prozent stehen sähe. Im Rathaus von Marseille regiert derzeit die UMP, und die örtliche Sozialdemokratie ist aufgrund quasi-mafiöser Einstellungspraktiken durch ihre Parteifreunde auf Bezirksebene ziemlich ins Gerede gekommen. Die durch die Medien frankreichweit viel beachteten Sicherheitsprobleme in Marseille – die Hafenstadt ist ein wichtiges Durchgangstor für den internationalen Drogenhandel, und da dort die Einflusssphären der spanischen und der italienischen Mafia aufeinandertreffen und sich überschneiden, kommt es immer wieder zu Schusswechseln und Toten durch den Gebrauch von Kalaschnikows – tragen natürlich ihren Teil zum erwarteten Wahlerfolg des FN bei. Es wird damit gerechnet, dass die rechtsextreme Partei eines der Bezirksrathäuser in Marseille übernehmen könnte. Ihr Spitzenkandidat Stéphane Ravier, Anfang 40 und Aktivist seit über zwanzig Jahren, gibt sich siegessicher.

Auch frankreichweit befindet die rechtsextreme Partei sich im Aufwind. Ihren Listen in den Städten und Gemeinden (schon vor der Sommerpause waren 350 Spitzenkandidaten und –kandidaten aufgestellt worden; am 30. September 13 waren es dann bereits ihrer 7003, unter ihnen „ungewöhnliche Profile“ u.a. aufgrund jugendlichen Alters oder vormaliger politischer Herkunft4) wird derzeit im landesweiten Durchschnitt ein Ergebnis in Höhe von 16 Prozent prognostiziert, die erwartete Stimmenzahl nimmt im Laufe der Wochen zu und nicht ab. In der Hauptstadt Paris, seit langen Jahren aufgrund der Zusammensetzung der Bevölkerung ein schlechtes Pflaster für den FN, nahm der in Umfragen prognostizierte Stimmenanteil für die FN-Liste unter Wallerand de Saint-Just (Anwalt von Jean-Marie Le Pen, Parteimitglied seit 1987) von Juni bis September dieses Jahres von 5 auf 8, bisweilen 9 Prozent zu. Manche Medien machen sich oder ihren Leser/inne/n nun zusätzlich Angst, indem sie gigantomanische Zuwachsdiagnosen oder –prognosen aufstellen: Ihre Hochrechnung basiert auf der Annahme, dass die FN-Listen bei den letzten Kommunalwahlen (im März 2008) im Durchschnitt nur 0,97 Prozent erhalten hätten5. Diese Art, zu rechnen, ist jedoch barer Unsinn: Damals stand die Partei finanziell kurz vor dem Bankrott und stellte meistenorts überhaupt keine Listen auf, so dass zahlreiche Ergebnisse, die in die Durchschnittsberechnung einflossen, sich formal auf Null belaufen. So zu kalkulieren, ist Unfug.

Ex-Premierminister François Fillon: für Bündnisse offen…

Unterdessen platzte auf der bürgerlich-konservativen Rechten eine Bombe. Ausgerechnet der frühere Premierminister der UMP (2007 bis 2012) François Fillon, dessen Position im Vergleich zu jenen des seit November 12 amtierenden Parteichefs Jean-François Copé – dessen Name wird stärker mit dem ideologischen Rechtsruck der UMP in Verbindung gebracht – bislang eher als moderat durchgingen, brachte sie zur Explosion. Am 08. September 13 erklärte er, zwischen einem(/r) Kandidaten(/in) der „Sozialistischen“ Partei und einem des Front National bei den Rathauswahlen würde er „jenen auswählen, der mir als ,moins sectaire‘ (Anm.: BhS: weniger sektiererisch, weniger verschlossen, also bündnisoffener) erscheint“. Auch nach mehrtägiger öffentlicher Polemik bekräftigte Fillon am Freitag, den 13.09.13 diesen Ausspruch bei einem Auftritt in Nizza. Sein Amtsvorgänger als Ex-Premier (2002 bis 2005), Jean-Pierre Raffarin, sprach am Wochenende in einer Kurznachricht bei Twitter von „Alarmstufe Rot“ für die bürgerliche Rechte. Fillons Rivale Copé erklärte dann am Montag, 16.09.13, es sei nunmehr „die Existenzfrage für die UMP“ gestellt6.

Tags darauf einigte die UMP-Parteiführung sich dann auf einen Formelkompromiss. Darin erklärte sie: „Wir bekämpfen (politisch) die Sozialistische Partei und kämpfen gegen alle Formen von Extremismus“. Entschlossen natürlich. Diese Anspielung an die altbekannte, dümmliche Extremismustheorie – Links gleich Rechts undsoweiter – erlaubt es im Prinzip gleichermaßen, sich verbal vom FN abzugrenzen, und erforderlichenfalls aber auch den Ball an die Linke zurückzuspielen. Denn üblicherweise folgt dann bei UMP-Politikern im Nachsatz, dass die Sozialdemokratie im zweiten Wahlgang oft vom Front de gauche („Linksfront“, ungefähre Entsprechung zur Linkspartei in Deutschland) unterstützt werde, sei ja symmetrisch dasselbe wie eine eventuelle Allianz aus Konservativen und Neofaschisten des FN.

Infolge der Auseinandersetzung gingen die Popularitätswerte François Fillons leicht zurück. Bei einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts BVA für die Zeitung Le Parisien vom 19. und 20. September erklärten 48 % der Befragten, eine positive Meinung über den Ex-Premier zu hegen. Im Juli dieses Jahres waren es 56 % gewesen. Allerdings hat er gleichzeitig bei den eigenen Anhänger/inne/n der UMP nicht an Popularität verloren, sondern – im Gegenteil – hinzugewonnen. Derselben Umfrage zufolge erklärten 64 % der erklärten UMP-Wähler/innen, ihre Auffassung zu Fillon habe sich „nicht verändert“; für 24 % unter ihnen hat sie sich „zum Guten verändert“, und nur für 12 % „zum Schlechten“. (Allerdings bleibt sein früherer Vorgesetzter, Ex-Staatspräsident Nicolas Sarkozy, gleichzeitig unter den UMP-Wählern als potenzieller Präsidentschaftskandidat für 2017 erheblich populärer als François Fillon selbst.)

Danach glaubte man vorläufig, die Debatte habe sich beruhigt. Unterdessen ging diese jedoch hinter den Kulissen munter weiter.

Vorwärtsoffensive für Rechts-Rechts-Techtelmechtel

Am Sonntag, den 29. September 13 legte François Fillon dann kräftig Holz in das Feuerchen nach, das er mit seinen Äußerungen angefacht hatte. An dem Tag trat er in Saint-Just-Saint-Rambert – in der Region Rhone-Alpes gelegen, westlich von Lyon – vor einigen hundert Parteigänger/inne/n der UMP auf. Statt den vormaligen Streit in den Reihen der Partei nun auf sich beruhen zu lassen, ging er sehr entschlossen in die Offensive. Am Sonntag Nachmittag begründete er sein Werben auch um die extreme Rechte, nunmehr expliziter denn je werdend, ausführlich: „Für mich gibt es keine Anhängerschaft der Linken gegen eine Anhängerschaft der Rechten, und genauso wenig eine Anhängerschaft der extremen Rechten. Wir sind alle Franzosen und sitzen alle im selben Boot. Und dieses Schiff ist dabei, allmählich zu sinken, seit mehreren Jahren. Nun werden wir entweder alle die Lecks verstopfen und unsere Segel wieder in den Wind des Fortschritts setzen, oder aber wir machen weiter wie bisher: Jeder kultiviert seinen kleinen wahlpolitischen Garten.“

Vor nichts zurückschreckend, verglich der früher einmal als „sozialpatriotischer Gaullist“, also moderater Mitte-Rechts-Politiker, geltende Berufspolitiker die jetzige Situation mit jener zu den Anfängen der Résistance im Jahr 1940. Wie auch mit dem Höhepunkt der innenpolitischen Krise infolge des Algerienkriegs zu Anfang des Jahres 1958. In beiden Fällen spielte der ehemalige Militär Charles de Gaulle eine politische Schlüsselrolle. Nun kann man von ihm sagen, was möchte (und insbesondere auch, dass Präsident de Gaulle im Mai 1968 für die Linke zu Rechte die Gegenseite verkörperte) – doch die Positionen Charles de Gaulles von 1940/41 waren ebenso couragiert wie objektiv antifaschistisch. Gerade dies kann man von der aktuellen Haltung seines vorgeblichen Epigonen François Fillon bestimmt nicht behaupten.

Letzterer nutzte die behauptete Parallele zu 1940 (und 1958), um auszuführen, bestimmten historischen Situationen müsse man „die Grenzen durchbrechen, welche die Wähler im einen oder anderen Lager einschließen, um den gesunden Menschenverstand und an den Mut eines jeden Bürgers anzurufen.“

Er wolle, fügte Fillon hinzu, ähnlich wie zuletzt Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing in den 1970er Jahren „mindestens zwei von drei Bürgern (politisch) zusammenführen“. Dies mag übrigens Giscard d’Estaing damals kurzfristig durchaus gelungen sein – im Laufe seiner Präsidentschaft wurde er dann allerdings zunehmend unpopulär -, jedoch aus ziemlich anderen Gründen als denen, die eventuell UMP- und FN-Wähler zusammenführen könnten. Der Wirtschaftsliberale Valéry Giscard d’Estaing gewann im Mai 1974 die Präsidentschaftswahl als Kandidat der Rechten, führte dann jedoch in einigen Punkten eine linksliberale Politik gesellschaftlicher Reformen durch, wie sie im damaligen 68-Nachfolge-Klima in ganz Westeuropa umgesetzt wurden. Dazu zählten: Straffreiheit für Schwangerschaftsabbrüche (Januar 1975, das Gesetz wurde gegen massive Widerstände v.a. aus der extremen Rechten durchgesetzt), definitive Entkriminalisierung von Homosexualität, Erleichterung der bis dahin in Frankreich seit 1919 außerordentlich schwierigen Ehescheidung, Herabsetzung des Volljährigkeitsalters von 21 auf 18... Nichts davon ist vergleichbar mit dem, was heute Konservative und Rechtsextreme aneinander annähern könnte.

François Fillon zeichnete am Sonntag die Konturen einer geplanten und gezielten Annäherungspolitik in Richtung des Front National. Auch wenn er einige Punkte, die zwischen ihm und der bürgerlichen Rechten noch ernsthafte Probleme bereiten, durchaus benannte. Insbesondere die manifesten Differenzen bei der Wirtschaftspolitik, oder jedenfalls im Diskurs darüber (weil die extreme Rechte jedenfalls vordergründig auf Sozialdemagogie setzt): „Das Wirtschaftsprogramm des FN ist ökonomisch absurd und politisch gefährlich.“ Aus bürgerlich-wirtschaftsliberaler Sicht eben deswegen, weil es eine verstärkte Staatsintervention, oberflächliche soziale Versprechungen – unter Nationalitätsvorbehalt – sowie die Vorstellung von einem Euro-Ausstieg enthält.

Über diese Differenzen hinweg versucht Fillon längerfristig, die Chancen für eine Annäherung auszusondieren. Auch wenn Marine Le Pen nach seinen ersten Auslassungen zum Thema von Anfang September über ihn spottete - bei ihrer Marseiller Rede vom 15.09.13 verglich sie ihn mit „einem Fahrer beim Autorennen, der auf Nahauffahren setzt“ –, so wird ihre Partei doch die Chancen für offene Türen im konservativen Block aufmerksam beobachten. Unterdessen dürfte die Aussicht, eventuelle Widersacher „im einen oder anderen Lager ein(zu)schließen“, so manche Anhänger/innen der extremen Rechten durchaus verlocken. Im Gegensatz zu dem, was Fillon kritisierte, allerdings auch in einem anderen Sinne...

Anmerkungen

Editorische Hinweise

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