Tunesien und Ägypten
Vor dem Scheitern der Islamisten, nach dem Scheitern der Islamisten ?
- Vergleichende Beobachtungen zu den beiden Ländern in Nordafrika

von Bernard Schmid

10-2013

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„Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust“: Ähnliches könnte auch die islamistische Regierungspartei Tunesiens, En-Nahdha („Wiedergeburt“), von sich selbst sagen. Auf der einen Seite führt die erst nach der Revolution 2011 legalisierte Partei von Rached Ghannouchi seit Ende desselben Jahres die Regierung – im Rahmen einer von ihr dominierten Drei-Parteien-Koalition - und versucht, institutionelle „Respektabilität“ und bürgerliche Anerkennung zu finden. 

Auf der anderen Seite hält sie einen extremen Flügel aus, der bisweilen rabiat vorgeht, um ideologische Vorgaben respektive „Sittengesetze“ nach islamistischem Verständnis durchzusetzen, ja bisweilen bis in die Nähe offen terroristisch agierender Kreise gerät. Die tunesische Regierungspartei ist nicht einzige, die eine solche Integrationsstrategie gegenüber radikalislamistischen Strömungen verfolgt, obwohl sie selbst seit längerem auf eine institutionelle, parlamentarische Vorgehensweise setzt. Auch die Muslimbrüder, die von Ende Juni 2012 bis Anfang Juli dieses Jahres Ägypten regierten und dann durch eine Doppelbewegung „von unten“ sowie aus dem mächtigen Militärapparat gestürzt wurden, hatten sich in ähnlicher Weise positioniert.  

Ägypten: Hundert-Tage-Bilanz und Ein-Jahres-Bilanz ernüchternd  

Als ihre Massenbasis aufgrund unvermeidlicher Enttäuschungen vor allem über die ökonomische und soziale Bilanz der islamistischen Regierung – ihr Präsident Mohammed Mursi hatte immerhin versprochen, zahlreiche Änderungen bereits „in den ersten 100 Tagen“ durchsetzen zu wollen– schrumpfte, forcierten sie in wachsendem Ausmaß die Einbindung offen antidemokratischer islamistischer Strömungen. Am 16. Juni 2013 etwa ernannte Mursi 17 neue Regionalgouverneure, davon sieben Islamisten. Unter ihnen war der neue Gouverneur von Luxor, ’Adel Asaad Al-Khayat, ein früheres Mitglied der vormals bewaffnet agierenden islamistischen Gruppierung Gama’a al-islamiyya[1]. Im Angesicht des Rückgangs ihrer eigenen Massenbasis setzten die Muslimbrüder offensichtlich auf eine Strategie unter dem Motto „Keine Gegner, keine Feinde im islamistischen Lager“ und suchten den Schulterschluss.

Darin könnte – neben dem unbedingten Willen zur Bewahrung des Wirtschaftsimperiums der Militärs - einer der Gründe dafür liegen, warum die Armeespitze sich dazu entschloss, die Muslimbrüder von der Macht zu verdrängen. Und zu dem Zweck auch die aufkeimende Massenprotestbewegung gegen die Mursi-Regierung, die sich aus unterschiedlichen Quellen (von enttäuschten Anhängern über säkular-nationalistische Kreise bis zur revolutionären Jugend von 2011) speiste, zu ermutigen und aktiv zu begleiten. Ja sie sogar zu alimentieren und zu befeuern: In Großstädten wie Alexandria kam es etwa vor den „heißen Tagen“ zwischen dem 30. Juni 2013, dem Datum der ersten Massendemonstrationen von Millionen Menschen zum ersten Jahrestag der Wahl Mursis, und dem 03. Juli (an dem Militärs Mursis Hauptquartier mit Stacheldraht umgaben und ihn gefangen setzten) zu Versorgungsengpässen bei Grundbedarfsgütern. Ab Anfang-Mitte Juli dieses Jahres waren die entsprechenden Waren, wie durch ein Wunder, wieder leicht zu erwerben.

Nichtsdestotrotz hatte sich in den ersten Tagen der Ereignisse, die zu Mohammed Mursis Sturz führten, eine echte Massenbewegung manifestiert. Nur drohen ihre Ergebnisse nunmehr durch die abermals – wie bereits zwischen Februar 2011, nach dem durch Massenproteste erzwungenen Abgang Hosni Mubaraks, und Juni 2012 – regierende Armee politisch einkassiert und monopolisiert zu werden. - Insofern kann in mancher Hinsicht die Entmachtung der Muslimbrüder in Ägypten mit jener des türkischen islamistischen Premierministers Necmettin Erbakan am 30. Juni 1997 respektive dem Prozess, der dahin führte, verglichen werden: Auch damals fanden Massenproteste und Demonstrationen gegen die reaktionäre Regierung des Refah Partisi-Politiker statt, die durch die Armee, nun ja, wohlwollend begleitet (und manchmal vielleicht auch initiiert) wurden. Die Situation in Ägypten, die zur Entmachtung und späteren Gefangensetzung Mohammed Morsis führte, gleich jedenfalls eher diesem Prozess, der sich im Frühjahr 1997 in der Türkei abspielte, als dem Armeeputsch in Algerien im Januar 1992 gegen den drohenden Wahlsieg der „Islamischen Rettungsfront“ FIS. Damals existierten zwar auch politische Kräfte, die das Eingreifen der Militärs flankierten und unterstützten (französischsprachigen Liberale und Ex-Kommunisten), diese waren jedoch sehr minoritär, und es konnte nicht von einer Massenbewegung „pro Putsch“ die Rede sein. Eine solche gab es in Ägypten jedoch wirklich. Sicherlich muss man einen der Hauptunterschiede zwischen den Situationen in den beiden nordafrikanischen Ländern auch darin suchen, dass die Muslimbrüder in Ägypten ein Jahr Zeit hatten, um zu regieren und sich also „in der politischen Realität zu blamieren“, ihre Anhänger zu desillusionieren. Auf vergleichbarem Niveau hatte dies in Algerien noch nicht stattgefunden (trotz ersten Desillusionierungen in den islamistisch regierten Kommunen, deren Rathäuser seit den Kommunalwahlen vom 12.06.1990 durch die „Islamische Rettungsfront“ übernommen worden waren).

Bei den ersten freien, wirklich pluralistischen und nicht (in wesentlichem Ausmaß) manipulierten Wahlen in Ägypten – seit der ersten Machtübernahme durch die Armee 1952 -, welche ab dem 28. November 2011 in mehreren komplizierten Verfahrensschritten stattfanden, hatten Muslimbrüder und Salafisten gemeinsam 67 Prozent der Parlamentssitze errungen. Diese beiden islamistischen Kräfte waren zwar bereits verfeindet (ein Teil der Salafisten unterstützte im Sommer 2013 übrigens die Entmachtung Mohammed Morsis), zogen aber in Grundfragen scheinbar an einem Strang. Ihre Stimmenzahl, in absoluten Wähler/innen/zahlen, hatte sich bis zur Präsidentenschaftswahl im Juni 2012 – deren Stichwahl Morsi mit etwas unter 52 % der abgegebenen Stimmen knapp gewann – halbiert. Und bis zum Referendum über den durch Mohammed Morsi vorgelegten Verfassungstext im Dezember 2012, den die Muslimbrüder (bei erheblich gesunkener Wahlbeteiligung) formal ebenfalls gewannen, bei dem sie jedoch politisch erheblich angeschlagen wurden, hatte die absolute Stimmenzahl auf ihrer Seite sich abermals ungefähr halbiert. Es hat also ganz real ein Ablösungsprozess von ihrer Politik „auf Massenebene“ stattgefunden. Der blanke Hass, der heute mancherorts in der ägyptischen Gesellschaft gegen sie sichtbar wird, wurzelt zwar zum Teil in alten Vorbehalten – auch seitens alter Eliten, die in den Islamisten schon immer „unzuverlässige Emporkömmlinge“ erblickten -, aber eben zum Teil auch in der massiven Enttäuschung, die nun in wuterfüllte Abneigung umschlug. 

Brutale Repression... 

Gegenüber den Muslimbrüdern, die nach der mit brutaler Gewalt erfolgten Niederschlagung ihrer Protestcamps in Kairo ab dem 14. August d.J. – die darauffolgenden anderthalb Wochen kosteten 1.000 Todesopfer, mehr als die rund 800 während der Revolutionswochen von Anfang 2011 – setzt die neue, angeblich provisorische, Regierung auf nackte Repression. Am 23. September 13 wurde der Muslimbrüderschaft formelle jedwede weitere Betätigung verboten. (Notwendige Anmerkung dazu: Auch die Muslimbrüder setzten während ihrer gut einjährigen Machtausübung selbst Repression gegen politische Gegner ein. Dies wurde im Dezember 2012 manifest, als den Muslimbrüdern nahe stehende Milizen während der Proteste gegen die von ihnen forcierte neue Verfassung wüteten, Demonstrierende festnahmen und auch in eigens eingerichteten Kellern folterten[2] .)

Nach wie vor protestieren die Muslimbrüder gegen die aktuelle Repression mit Straßendemonstrationen, die Beteiligung an ihnen nimmt jedoch ab, und viele Ägypter zeigen sich von den durch ihre Proteste verursachten Staus (ebenso wie vom anfänglichen vereinzelten Waffeneinsatz ihrer Anhänger) nur noch manifest genervt. Im islamistischen Lager hat sich unter den weiter vom „harten Kern“ entfernten Sympathisanten ein Anflug von Resignation auszubreiten beginnen, während manche Ränder dieses harten Kerns in die bewaffnete Untergrundaktion abdriften könnten - wofür der Bombenalarm in der Kairoer Metro vom 19. September 13, der zum Quasi-Totalausfall des öffentlichen Verkehrs führte, eventuell ein Symptom darstellte.  

Die Rhetorik, der sich mindestens Teile der Islamisten dabei bemühen – die unter anderem das Gerücht streuten, der starke Mann der neuen Regierung (General ’Abdelfatah Al-Sissi) sei jüdischer Herkunft, dasselbe wurde auch über Übergangspräsident ’Adly Mansour kolportiert[3] - ist, gelinde ausgedrückt, unschön und soll ans konfessionelle Ressentiment appellieren. Ebenso hässlich waren die Angriffe, die vor allem im Laufe des Juli 2013 auf diverse koptische Kirchen besonders in Mittelägypten stattfanden: Einige enttäuschte Anhänger der Muslimbrüder  „rächten“ sich offenkundig an den koptischen Christen. Ebenso hässlich, und darüber hinaus brutal, war jedoch die Jagd auf vermeintliche Muslimbrüder und ihre Sympathisanten nach dem 03. Juli 2013 in manchen Orten, vor allem in manchen Stadtteilen von Kairo. Diese lief unter dem meist wenig differenzierten Vorwurf, bei den neu zur Hatz freigegebenen Muslimbrüder-Sympathisanten handele es sich eben um „Terroristen“, wie das neue (oder neu-alte) Lieblingswort im innenpolitischen Diskurs lautet. Vielerorts war es nicht länger ratsam, einen Bart oder auch nur einen Schnurrbart als vermeintliches Erkennungszeichen zu tragen, das nunmehr Prügel einzutragen drohte. Um die Repression durch die Armee zu unterstützen und zu flankieren, gründeten sich mancherorts zivile „Selbstverteidigungskomitees“, die mitunter ihren Stadtteil unsicher machten – und oft so viel Feuereifer an den Tag legten, dass es sogar der (neuen) Regierung zu weit ging, die diese Organe Mitte August d.J. auflösten. Und nicht nur, weil die Eigeninitiative von Zivilisten respektive „aus den Massen heraus“ ihr verdächtig erschienen wäre (dies wohl ganz grundsätzlich auch, aber in dem Falle eher nebenbei), sondern eher aufgrund der Gefahr von Übergriffen und Exzessen... 

...und Einbindungsversuche 

Gegenüber sonstigen Protesten, die aus anderen Ecken kommen, zeigt die von den Militärs dominierte Regierung sich hingegen bislang eher noch um Einbindung bemüht. Auch wenn bisweilen die Folterwerkzeuge ausgepackt und vorgezeigt werden, um zu zeigen, was passiert, wenn es „nötig“ wird: Am 26. August 13 fuhren so die Panzer auf, um einen Streik von 20.000 Lohnabhängigen in der Textilindustrie in Mahalla (im Nildelta) niederzuschlagen[4]. 

In der dritten Septemberwoche verkündete die ägyptische Regierung unterdessen, der Mindestlohn für Staatsbedienstete sei von umgerechnet 80 auf 150 Euro angehoben worden, und eine ähnliche Maßnahme für die Lohnabhängigen im Privatsektor befinde sich „im Überlegungsstadium“.[5] Der amtierende Arbeitsminister, Kamel Abu Aita[6], kommt aus den seit 2007 existierenden und seit  2011 verstärkt präsenten unabhängigen Gewerkschaften. Der Hauptaspekt dabei ist natürlich die Einbindung dieses Widerspruchspotenzials; Mitte August 13 erreichte Abu Aita immerhin die Freilassung zuvor inhaftierter Streikführer bei Suez Steel[7].  

Noch dominiert also das Element der Integration und Einbindung potenzieller Widerstände. Dass die harte Repression sich aber bei Bedarf auch gegen andere Kräfte als die Islamisten richten kann, belegt die vorübergehende Festnahme eines der führenden Mitglieder der Revolutionary Socialists – eine der beiden Hauptströmungen der ägyptischen radikalen Linken -, Haitham Mohamedain. Vom 05. bis 07. September d.J. wurde er durch Militärs festgehalten, körperliche Misshandlung wurde ihm dabei angedroht.  

Seine Gruppe, die Revolutionary Socialists, positionierte sich zuvor sowohl klar gegen die Muslimbrüder und ihre Politik als auch gegen die brachiale Repression, die nach ihrem Sturz losbrach. Während bei manch anderen linken Gruppen diese doppelte Abgrenzung sträflich unterblieb. Beispielsweise übernahmen Kreise um die ägyptische KP – und die Partei selbst - Positionen, wie man sie von den algerischen Ex-Kommunisten zu Anfang des Bürgerkriegs in den frühen 1990er Jahren kennt und die man dort als éradicateurs („Entwurzler, Ausrotter“)-Positionen bezeichnete. Also eine blanke und blinde Unterstützung für die militärische Repression, im Namen der Vorstellung, die Muslimbrüder seien Faschisten und deswegen sei quasi jegliches Vorgehen gegen sie irgendwie objektiv fortschrittlich. Selbst ein ansonsten durchaus zu nuancieren Positionen fähiger marxistischer Intellektueller wie der ägyptische Marxist Samir Amin – welcher aus der KP-Tradition kommt – nahm in Interviews im Juli/August 13 auf reichlich undifferenzierte Weisung Stellung: Der Sturz der Muslimbrüder seine eine reine Revolution aus dem Volk gewesen (über die weniger progressiven Aspekte der Rolle der Armee schweigt er sich dabei geflissentlich aus), und Mohammed Morsi habe Ägypten an Qatar verscheuern sowie 40 Prozent des Sinai an die palästinensische Hamas verkaufen wollen (welche dafür ihrerseits Vertreibungen von Palästinensern aus Israel hingenommen hätte). Deswegen sei das Land noch einmal in bzw. aus höchster Not gerettet worden[8] ... Bisweilen findet man diese Positionen mit einiger nationalistischer und antiimperialistischer Rhetorik angereichert, welcher zufolge die Muslimbrüder nur die Marionetten einer imperialistischen Achse (USA – Qatar – Golfmonarchien) seien, und ihr gegenüber die nationale Unabhängigkeit verteidigt werden konnte[9].  

Die einzige vernünftige Position aus emanzipatorischer Sicht könnte dabei sicherlich nur darin bestehen, sich inhaltlich sehr scharf von den Muslimbrüdern und ihrer (nunmehr offenkundig gescheiterten) Politik abzugrenzen, aber zugleich ihre nackten, elementaren demokratischen Rechte – darauf, als politische Kraft zu existieren und sich überhaupt zu Wort melden zu können – zu verteidigen. Während manchen ägyptische Generäle laut darüber nachdenken, die Muslimbrüder und ihre Sympathisanten seien allenfalls drei Millionen Organisierte, und bei insgesamt 85 Millionen Einwohner/inne/n komme es nicht so sehr darauf an, diese drei Millionen oder einen Gutteil von ihnen einzuknasten respektive umzubringen[10]...  

Tunesien: Regierungsislamisten zu Salafisten offen... 

Auch in Tunesien machen die Regierungsislamisten u.a. durch eine brisante Ernennungspraxis auf sich aufmerksam. Nehmen wir beispielsweise den Gouverneur der, als konservative-religiös geltenden und einige Wahlfahrtsstätten beherbergenden, Stadt Kairouan. Der Herr heißt Abdelmajid Laghouen. Im April 2012 beförderte ihn die Regierungspartei En-Nahdha zum Gouverneur der Provinz. Es handelte sich um eine der unzähligen, rein parteipolitisch motivierten (und nicht oder kaum auf den beruflichen Kompetenzen des Personal beruhenden) Entscheidungen über Postenbesetzungen, die unter der aktuellen Regierungskoalition getroffen wurden. In jüngster Zeit sind diese nominations politiques oder „politischen Ernennungen“ zum Gegenstand heftigen innenpolitischen Streits in Tunesien geworden. Die eigens zum Zweck ihrer Kontrolle gegründete Union pour la neutralité de l’administration behauptet, von 3.811 im Jahr 2012 neu besetzten Führungspositionen seien „87 Prozent“ nach parteipolitischen Kriterien vergeben worden, so ihr Vorsitzender Abdelkader Labbaoui. Die in der Koalition mitregierende, aber durch die Islamisten zunehmend marginalisierte sozialdemokratische Kleinpartei Ettakatol behauptet ihrerseits, sei seien „nur“ 1.500 Personalentscheidungen unter Verletzung des Neutralitätsprinzips getroffen worden.

Von insgesamt 26 Provinzgouverneuren – es handelt sich um hohe Beamte, und nicht um aus Parteien und Parlamenten hervorgegangene Politiker wie die deutschen Ministerpräsidenten – gelten 11 als Mitglieder oder mindestens offene Sympathisanten von En-Nahdha. Der erwähnte Herr Laghouen aber erfüllt nicht nur dieses Kriterium; wenn es nur das wäre! Anstatt sich darauf zu beschränken, ein braver (aber eben nicht neutraler) Parteianhänger zu sein, fällt er durch einen besonderen Übereifer auf. Im Juli 2013 nahm er persönlich an einer Attacke auf den Vorsitzenden eines örtlichen Menschenrechtsvereins teil: Er beleidigte den Mann, einer seiner Angestellten ging zum Prügeleinsatz über und betätigte sich als Schläger. Milder gestimmt als im Umgang mit lästigen Menschenrechtsaposteln zeigte sich der Gouverneur dagegen in jenem mit der salafistisch ausgerichteten Dschihadistengruppe Ansar Al-Chari’a („Anhänger der Schari’a“).  

...und in Schwierigkeiten 

Diese hielt im Mai 2013 einen größeren Kongress in Kairouan ab. Das heißt, sie versuchte es zumindest. Denn die Regierung, En-Nahdhas diskrete ideologische Sympathien hin oder her, stand zu dem Zeitpunkt mächtig unter Druck: Die US-Administration zeigte sich erheblich genervt, weil Aktivbürger aus dem Umfeld der Dschihadistengruppe am 14. September 2012 mal eben die US-Botschaft in Tunis militant attackiert hatten, als Reaktion auf den damals in Nordamerika ausgestrahlten, dümmlichen Anti-Islam-Film The innocence of muslims. Die übergroße Toleranz jedenfalls von Teilen der islamistisch orientierten Regierungspartei gegenüber den Salafisten stieß in Washington da auf eher geringes Verständnis. Die Regierung, mit ihren Widersprüchen konfrontiert, mobilisierte notgedrungen ein Aufgebot von 11.000 Polizisten, um den Mobilisierungsversuchen von Salafisten in Kairouan und – zur selben Stunde – in einem Vorort von Tunis zu unterbinden. Anders sah die Sache jedoch erklärtermaßen der Herr Gouverneur. Laghouen erklärte, ein geplanter Kongress wie der von Ansar Al-Chari’a in seiner Stadt wäre doch förderlich für die örtliche Gastronomie. Gar zu gerne hätte er diese umstrittenen Gäste willkommen geheißen.

Das Doppelspiel stieß an seine Grenzen, nachdem am 25. Juli 2013 der linksnationalistische Abgeordnete Mohamed Brahmi – Vertreter einer ex-maoistischen Strömung, die sich neben einem Dutzend anderen politischen Organisationen dem linken Bündnis Front populaire (vergröbert übersetzt „Volksfront“) anschloss – ermordet worden war, mutmaßlich von Dschihadisten ermordet. Diese Affäre hat jüngst nochmals zusätzliche Brisanz erhalten: Am 12. September 13 publizierte Taieb Laguili, Mitglied einer Bürgerinitiative zur Aufklärung des Mordes, ein Dokument, welches belegt, dass die US-amerikanische CIA Regierungskreise in Tunis am 14. Juli dieses Jahres in Mordpläne von Salafisten gegen Brahmi eingeweiht und vor ihnen gewarnt hatte. Die Regierung hatte jedoch auf diese Aufklärung hin keine Taten folgen lassen. Infolge der nachträglichen Veröffentlichung der Warnung erklärte der internationale Menschenrechtsanwalt Patrick Baoudouin, der am 19. September 13 durch die tunesischen Abgeordneten angehört wurde, die Sache zur „Staatsaffäre“.  

USA sauer 

Bereits zuvor hatte die Sache jedoch einen handfesten innenpolitischen Skandal verursacht. Denn auch ohne Kenntnis vom Schreiben der CIA zu haben, rückten viele Tunesierinnen und Tunesier die Mörder in die Nähe zumindest eines Flügels von En-Nahdha. Brahmi war bereits der zweite prominente Linke oder säkulare Linksnationalist, der vor seiner Haustür ermordet wurde. Auf vergleichbare, ja sehr ähnliche Weise war am 06. Februar d.J. sein Anwalts- und Abgeordnetenkollege Chokri Belaïd getötet worden. In beiden Fällen kam es aus diesem Anlass zu starken Massenmobilisierungen gegen die Regierung. Größere Demonstrationen dazu fanden besonders am 06. und am 13. August sowie nochmals am 07. September 13 statt[11].  

Tunesische Oppositionskräfte schätzen[12], dass Ende Juli und im August 13 circa eine Million Menschen – nicht immer dieselben Personen - an den verschiedenen Demonstrationen und Protestkundgebungen teilgenommen haben. Und dies in brütender Hitze und während des muslimischen Fastenmonats Ramadan. Tunesien hat insgesamt zwischen zehn und elf Millionen EinwohnerInnen. Die islamistische Partei En-Nahdha versuchte vor allem am 13. August, einem Tag der Mobilisierung für Frauenrechte in Tunesien, mit einer eigenen „feminisierten“ Demonstration dagegenzuhalten. Die Teilnehmer/innen/zahlen bei En-Nahdha blieben jedoch erheblich hinter denen bei oppositionellen Demonstrationszügen zurück. 

Abgeordnete im (Sitz-)Streik  

Ferner zogen sich 60 Abgeordnete - von insgesamt 217 – an Ende Juli d.J. aus der „Verfassungsgebenden Nationalversammlung“ (ANC) zurück und legten ihr Mandat vorläufig nieder, und ließen sich zum Sit-in draußen vor den Türen nieder. Die Wahlperiode der ANC, die ursprünglich nur auf ein Jahr ausgelegt war und der Ausarbeitung einer neuen Verfassung dienen sollte, ist seit dem 23. Oktober 2012 juristisch abgelaufen. Die Opposition unterschiedlicher Couleur forderte den Abtritt der Regierung, die Auflösung der ANC und zügige Neuwahlen. Ab Anfang September 13 begann die Sitzstreikbewegung unter gewählten Parlamentarier/inne/n, und mit ihr der Boykott der Parlamentstätigkeit, dann allerdings abzubröckeln[13].  

Eines der handfesten Ergebnisse des massiven Protests war, dass die Regierung Ende August des Jahres ihren vormaligen Verbündeten – oder jedenfalls den einer Fraktion innerhalb von En-Nahdha – in Gestalt von Ansar Al-Chari’a wie eine heiße Kartoffel fallen ließ. Das Kabinett von Premierminister Ali Laarayedh kündigte nunmehr an, über polizeiliche Untersuchungsergebnisse zu verfügen, die belegten, dass die Salafistengruppe sowohl in den an Chokri Belaïd verübten Mord als auch in jenen an Brahmi verwickelt sei. Und ließ Ansar Al-Chari’a nunmehr als „terroristische Gruppierung“ einstufen. 

Auf allen anderen Ebenen dagegen drang die Opposition mit ihren bisherigen Forderungen nicht vor. Zumal sie selbst in sich gespalten ist: Die stärkste Kraft der parlamentarischen Opposition ist die säkulare und wirtschaftsliberale Partei Nidaa Tounès (ungefähr: „Tunesischer Appel“), eine Mitte-Rechts-Formation, die sich auf starke Fraktionen in der tunesischen Bourgeoisie stützt und neben bürgerlichen Demokraten auch Anhänger und einige Funktionäre des alten, diktatorischen Regimes von vor 2011 umfasst. Neuwahlen würde diese Partei derzeit mutmaßlich deutlich gewinnen[14]. Die linken Strömungen und ihr Kartell in Gestalt des Front populaire („Volksfront“) haben sich momentan taktisch mit ihr verbündet und zur ,Front zur Rettung des Landes’ – dem Front de salut national, FSN – zusammengeschlossen, dem sich auch die Mitte-Links-Kräfte der Allianz Al-Massar anschlossen.  

Die Linken versuchen aber gleichzeitig, in den Protesten Prozesse der sozialen Selbstorganisierung energisch voranzutreiben. Allerdings finden innerhalb der tunesischen Linken und des Front populaire gleichzeitig heftig zugespitzte Debatten um das Verhältnis zu Nidaa Tounès statt. Darüber drohte sich in der zweiten Augustwoche 2013 die trotzkistische LGO (Ligue de la gauche ouvrière, „Bund der Arbeiterlinken“), die ebenfalls Mitglied im Front populaire ist, vorübergehend zu spalten. Wutentbrannt verkündete das langjährige Mitglied der Gruppe bzw. ihrer Vorläufer Jalal Zoghlami – alias Jalal Ben Brik – am zweiten Augustwochenende u.a. in Nachrichten bei Facebook, die Politik der LGO sei ihm nicht mehr radikal genug, und man müsse nunmehr mit der Organisation brechen. Dem Vernehmen nach folgten ihm jedoch nur drei oder vier Genossen (oder Genossinnen?), die es ebenfalls für nötig hielten, auszutreten und eine neue Organisation unter dem Namen Force Ouvrière – ungefähr „Arbeiterkraft“ – proklamierten. Von der Abspaltung respektive Neugründung hört man seitdem nicht mehr viel. Allerdings beschloss gleichzeitig ein in den letzten Septembertagen d.J. stattfindender Kongress der LGO, nunmehr den Austritt des Front populaire aus der „Nationalen Rettungsfront“ und die Aufkündigung der taktischen Allianz mit Nidaa Tounès (d.h. der säkularen Mitte-Rechts-Opposition) zu fordern. Diese Art der Bündnispolitik ist also in ihrer Augen heute gescheitert respektive verderblich. 

Opposition: Von Links bis Rechts  

Die Mitte-Rechts-Partei Nidaa Tounès – die unter den Abgeordneten, die im Juli/August d.J. protestierten und vorübergehend ihr Mandat niederlegten, zahlenmäßig über die meisten Parlamentarier verfügt – trieb zwar einerseits zeitweilig die Proteste mit voran. Andererseits aber strebte zumindest ein Teil ihrer Führungskräfte hinter den Kulissen eifrig danach, einen irgendwie gearteten institutionellen Kompromiss einzufädeln. Ihr Parteichef Béji Caïd Essebsi („BCE“, Übergangspremierminister von März bis Dezember 2011, in den Jahren zuvor ein Mann des alten Regimes) absolvierte am 15. August 13 ein Geheimtreffen mit En-Nahdha-Chef Rached Ghannouchi in Paris, in der Hauptstadt der früheren Kolonialmacht. Der Verhandlungsversuch scheiterte jedoch, und die Sache kam im Übrigen wenig später heraus[15] . Dies nährte Zweifel an der Aufrichtigkeit von des Parteichefs von Nidaa Tounès, „BCE“, als vordergründigem Anstachler oppositionellen Protests.

Der einflussreiche Gewerkschaftsdachverband UGTT (er zählt über 500.000 Mitglieder) beschloss Anfang August nach längeren internen Debatten, sich den Forderungen nach Abtritt der Regierung anzuschließen, nicht jedoch jener nach Auflösung auch der ANC, aus Angst vor einem institutionellen Vakuum – Ängste in der Bevölkerung vor einem „Chaos“ könnte die Islamisten für sich ausnutzen. Allerdings war diese Position der UGTT radikaler als jene nach dem Mord an Belaïd im Februar 13, als sie sich aus ähnlichen Gründen mehrheitlich der Forderung nach Rücktritt der Regierung verschloss. Nunmehr machte sie sich zumindest dieses Verlangen zu eigen.   

Scheinbar kam es im Laufe der Wochen darüber zu einem Kompromiss: En-Nahdha zeigte sich vordergründig über eine Ersetzung des amtierenden Kabinetts wahlweise durch eine Allparteien-, eine Kompromiss- oder auch eine „unpolitische Technokraten“regierung gesprächsbereit. So lange nur das provisorische Parlament, in dem En-Nahdha  mit 41 Prozent der Sitze die mit Abstand stärkste Fraktion stellt, vorläufig nicht angetastet werde. Gleichzeitig kündigte das amtierende Kabinett einen Neuwahltermin am 17. Dezember dieses Jahres an. Letzteren akzeptiert die Opposition durchaus. (Er wird allerdings nicht in diesem Zeitraum stattfinden, dazu ist längst wieder zuviel Zeit zwischendurch verstrichen. Nun ist mancherorts von Wahlen im März/April 14 die Rede, andere Stimmen sprechen dagegen heute von Herbst 2014.)

Heftig umstritten ist dagegen die Frage, ob die Regierung bis dahin im Amt bleiben wird – dies möchte En-Nahdha trotz gegenteiliger Beteuerungen faktisch erreichen -, oder aber durch ein überparteiliches oder sonstiges Kabinett abgelöst wird. Letzteres ist das Anliegen der Opposition; der Front populaire etwa fordert die vorübergehende Einsetzung eines aus nicht parteigebundenen Ministern bestehenden „Fachleutekabinetts“ (gouvernement de technocrates), und dies beileibe nicht aus Vorliebe für Technokraten an und für sich. Auf dem Spiel steht nämlich konkret die Möglichkeit, dass En-Nahdha die kommenden Wahlen durch ihre zahlreichen, im Staatsapparat eingesetzten Anhänger organisieren und folgerichtig manipulieren könnte. Am 22. September 13 verkündete Samir Taieb vom Mitte-Links-Bündnis Al-Massar aus eben diesem Grund bereits: „Die Wahlen vom 17. Dezember drohen gefälschte zu werden!“[16]  

Trotz anderslautender Lippenbekenntnisse hat En-Nahda sich bislang nicht bereit gefunden, die amtierende Regierung für die Zeit vor den Wahlen abtreten zu lassen. Einen Vorschlag dafür arbeitete ein unter dem Namen „das Quartett“ firmierende Vermittlergruppe aus, die den mit Abstand stärksten Gewerkschaftsdachverband – die UGTT -, die Arbeitgebervereinigung UTICA, den Menschenrechtsverein LTDH sowie die Anwaltskammer umfasst. Dieses „Quartett“ schlägt eine schnelle Beendigung der Ausarbeitung einer neuen Verfassung, die Einsetzung einer parteilosen Übergangsregierung und die Abhaltung von konsensfähigen Wahlen ein. Formal ließ En-Nahdha sich daraufhin auch ein. Um jedoch entgegen ihrer verbalen Bekundungen keinerlei Anstalten zu unternehmen, die Regierungssessel zu räumen. Möglicherweise ist die islamistische Haupt-Regierungspartei dazu intern auch gespalten. Jüngst spuckte etwa ihr Transportminister dazu noch martialische Töne und schloss gar jeglichen Rücktritt des aktuellen Kabinetts aus[17]. Dagegen gossen andere Mitglieder der Regierung und/oder der Parteiführung immer wieder Wasser in ihren Wein, pardon: alkoholfreien Saft, und bekundeten Dialogbereitschaft. Die neueste offizielle Version – im Munde des Parteichefs Rached Ghannouchi – lautet nunmehr bei Abschluss dieses Artikels, am Samstag, den 05. Oktober werde der innenpolitische „nationale Dialog“ (wie durch die UGTT und Andere gefordert) endlich beginnen[18].  

Vor Streikwelle ? 

Am Wochenende des 21./22. September 13 trat das „Quartett“ daraufhin mit einer scharfen Kritik an der islamistischen Partei, welche seine Vorschläge nur formal akzeptiere und hinter seinem Rücken aktiv hintertreibe, an die Öffentlichkeit. Die UGTT drohte bei Redaktionsschluss zunächst mit der Organisierung von Massenprotesten und Streiks, während in mehreren Sektoren – von den Bäckern[19] über die tunesischen Postbediensteten[20], die Universitäten[21] und die Eisenbahnbeschäftigten[22] bis zu den Krankenhausärzten und –ärztinnen[23] – für Ende September und Oktober bereits eine Welle sektoraler Streiks angekündigt war. Allerdings wurden einige der Streikankündigungen inzwischen wieder zurückgenommen, etwa weil sektoriell Einigungen zu den konkreten Forderungen zustandegekommen sein mögen. So wurde der Streikaufruf bei den Bäckern[24] und bei der Post[25] (im letzteren Falle ohne nähere Angaben von Gründen) zurückgezogen. 

Ferner streikten am 17. September 13 bereits die Journalistinnen und Journalisten massiv gegen wiederholte Verstöße gegen die Pressefreiheit, etwa durch polizeiliches Agieren und parteipolitisch motivierte Postenbesetzungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.  

Unterdessen „untersucht“ die UGTT die Möglichkeit, zu einem Generalstreik aufzurufen[26]. Die bislang letzten Generalstreiks in Tunesien hatten im Februar 2013, nach dem Mord an Chokri Belaïd, und zuvor im Januar 1978 stattgefunden. Allerdings bestritt sie am 1. Oktober 13 wiederum offiziell, zum Generalstreik aufzurufen[27] . Ob sie wirklich ernsthaft an ihn denkt? Dies wird die nähere Zukunft erweisen müssen.

Anmerkungen

[4] Vgl. CFQD (Marseille), Nr. 114, September 2013.

[6] Er wurde nach dem Sturz von Präsident Mohammed Mursi ernannt. Der alte Arbeitsminister in der Regierung Mohammed Mursis, Khaled Al-Azhari, wurde seinerseits am 29. August 13 zusammen mit einem anderen Kader der Muslimbrüder verhaftet; vgl. http://www.lepoint.fr/monde/egypte-les-pro-morsi-veulent-a-nouveau-manifester-30-08-2013-1719439_24.php

[10] Vgl. http://www.lemonde.fr/cgi-bin/ACHATS/acheter.cgi?offre=ARCHIVES&type_item=ART_ARCH_30J&objet_id=1241199&xtmc=egypte_trois_millions&xtcr=16  . Zitat aus dem Text: « Wir sind neunzig Million Ägypter, und es gibt nur drei Millionen Muslimbrüder. Wir brauchen sechs Monate, um sie allé zu liquidieren oder einzusperren » (General ‘Amr).

[12] Vgl. Ausführungen von Samir Taïeb vom tunesischen Mitte-Links-Bündnis Al-Massar bei einer Debatte am 14. September 13 anlässlich der Fête de l’Humanité, im Pariser Umland.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.