75 Jahre Zweiter Weltkrieg 
DAS ENDE
Rundfunkansprache vom 31. Januar 1945


von Thomas Mann

10-2014

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Deutsche Hörer!

Das elende Subjekt, das sich noch Deutschlands Führer nennt und jeden, der sich der irren Fortsetzung eines über und über verlorenen Krieges widersetzt, mit schmählichem Tode bedrohen darf, — Hitler also, hat den zwölften Geburtstag seiner Herrschaft, den schwärzesten Kalendertag der deutschen Geschichte, mit einer Radio-Rede begangen, der ihr Bewohner des besetzten Gebiets kaum noch werdet zugehört haben. Was geht es euch an, welche Register seiner vertrauten Schundrhetorik er zieht, um sein zur Neige gehendes Gaunerdasein heroisch zu verklären und sich als Gottesreiter, als den erwählten Verteidiger Deutschlands gegen eine Welt tückischer Neidlinge, als den Vorkämpfers Europas ge­gen die auf nichts als Zerstörung sinnenden Horden des Ostens hin­zustellen! Sich selbst und das deutsche Volk, soweit es noch zu­hört, sucht er noch einmal mit diesem schwachsinnigen, aber frei­lich unendlich unverschämten Gefasel zu betäuben. Er führt den Namen Deutschlands im Munde, des Landes, das er verdorben, entgeistet, von Grund aus und in jedem Sinn ruiniert hat, das er auf den tiefsten Punkt seiner Geschichte geführt und vor Gott und der Welt zum Greuel gemacht hat. „Europa", sagt er — und meint den Erdteil, den er mit Füßen getreten, gefoltert, geschändet, entmannt, ausgemordet, aus dem er sechsundzwanzig und eine halbe Milliarde Dollars an sogenannten Besetzungskosten und an unbezahlten Gütern gepreßt hat und für dessen Schutzherrn gegen östliche und westliche Seelenlosigkeit er sich nun ausgibt. Kann noch irgendein Deutscher das ranzige Gerede dieses Menschen von der plutokratisch-bolschewistisch-jüdischen Weltverschwörung ge­gen ihn, den Verteidiger der höchsten Güter des Abendlandes, ohne den äußersten Ekel hören? Er hat das deutsche Volk belogen und ihm den Sinn vergiftet mit jedem Wort, das er ihm je ins Ohr bellte und heulte. Jetzt will er sich vor dem ihm eingeborenen, dem unvermeidlichen Verhängnis retten, sich und sein mit Ver­brechen beladenes Regime, und wieder belügt er ein Volk, das schon sein alles für eine verworfene Sache hingegeben hat. Damit es weiter, immer weiter aushält, blutet und opfert in einem ver­lorenen Kampf, schwört er ihm, daß nichts, was es jetzt leidet, auch nur entfernt den Vergleich werde aushalten können mit dem entsetzlichen Elend, das Deutschland zu gewärtigen habe als Folge seiner eingestandenen Niederlage. Er tut, als werde es Deutschland ergehen wie den Ländern, in die die Gestapo einzog hinter seinen Truppen. Er tut, als seien Deutschlands Gegner Nazis und würden sich gegen den Besiegten benehmen, wie Nazis das tun. Deutsch­lands Gegner und Besieger sind aber keine SS-Schinder und Bestien, sondern Menschen, — ihr Bewohner des besetzten Gebietes im Westen wißt es schon. Eben weil sie Menschen sind, die sich in grundsätzlichem Gegensatz zum Nationalsozialismus noch an einen gewissen Ehrenkodex des Rechtes und der Gesittung ge­bunden fühlen, waren sie zeitweilig im Nachteil gegen einen Feind, der solche Hemmungen nicht kannte. Euch Leuten von Aachen und Umgegend hat General Eisenhower gesagt: "Wir kommen als Sieger, aber nicht als Unterdrücker," Ihr wißt, daß das wahr ist. Ihr habt den angsterpreßten Lügenreden von der Zerstörung Deutschlands, der Vernichtung des deutschen Volkes schon mehr Erfahrung entgegenzusetzen als eure Brüder im Nazi-Reich. Elender als Deutschland jetzt daran ist, kann es ihm nie ergehen. Ein tiefe­res Elend als Nazi-Herrschaft gibt es nicht. Es ist keine Lage, kein Leben auszudenken, das ärger wäre als das entmenschte Grauen eines Krieges, den man aus irrem Trotz gegen das besiegelte Schick­sal über sein natürliches Ende hinaus fortsetzt. Alles wird besser sein als dies. Ein schweres, dürftiges Leben erwartet Deutschland — wie könnte es anders sein? — ein Leben, das für geraume Zeit nicht vor allem dem eigenen nationalen Wohlsein, sondern dem Versuch der Wiedergutmachung himmelschreiender Untaten ge­widmet sein muß, die Hitler-Deutschland anderen Völkern zuge­fügt. Ein überall furchtbar aufgelaufener Haß muß allmählich ab­getragen, allmählich beschwichtigt werden. Aber Friede, Rechts­sicherheit, ein langsam wieder erwachender Lebensgenuß, das Ledigsein von der Last des Hochmutswahns, ein auserwähltes Volk zu sein, daß die Welt unterwerfen muß, Versöhnung und Zu­sammenarbeit mit den Völkern des gemeinsamen Kulturkreises, — wird das nicht besser sein als die gegenwärtige Hölle? Ist es nicht das, wonach in tiefster Seele ihr Deutschen euch sehnt?

Editorische Hinweise

Deutsche Hörer! ist der Titel einer Reihe von Radioansprachen Thomas Manns, die das deutsche Programm der BBC zwischen Oktober 1940 und Mai 1945 meist regelmäßig einmal monatlich ausstrahlte. . Es handelte sich um insgesamt 55 fünf- bis achtminütige Reden, in denen er sich mit der politischen Lage Deutschlands in der Zeit des Nationalsozialismus befasste, das Kriegsgeschehen kommentierte und mahnende Worte an seine Landsleute richtete. Eine erste Sammlung mit 25 Sendungen wurde 1942 veröffentlicht, eine zweite umfasste 55 Texte und erschien im Bermann Fischer Verlag / Stockholm 1945.

Editorische Informationen entnommen bei Wikipedia.