Auf ihr Klopfzeichen an der genau
bezeichneten Wohnung in der Nassauischen Straße öffnet ihnen ein
schmächtiger junger Mann mit dunklem Haar und blassem Gesicht,
der sie etwas mißtrauisch durch seine Brille betrachtet. Aber
nachdem er den Namen Fuchs gehört hat, läßt er sie sofort
eintreten und stellt sich mit dem Namen Blumberg vor.
In der großen Wohnung, die schon
längere Zeit verlassen ist, riecht es nach Staub und
Druckerschwärze. In dem mittleren Zimmer steht auf einem
großen, runden Tisch zwischen Papierstapeln ein Abziehapparat,
an dem zwei Männer gerade damit beschäftigt sind, die Walze neu
einzufärben.
Blumberg stellt die beiden vor.
Der ältere, dessen Namen sie nicht verstehen und der
merkwürdigerweise ein Monokel und ein kleines Toupet trägt, ist
Druckereifachmann und hier gerade der richtige Mann; der jüngere
heißt Glasmeier und ist Student.
„Ebenfalls Soldat", sagt er, „wenn
auch im vielgelästerten und doch so beliebten Räuberzivil." Er
kann ihnen leider keine Hand geben, da er völlig mit schwarzer
Farbe verschmierte Finger hat. ; Während Blumberg im
Nebenzimmer auf der Schreibmaschine eine neue Matrize schreibt,
erhalten Martin und der Kleine von dem Druckereifachmann ihre
Arbeit zugeteilt. Sie legen abwechselnd Papier zurecht, bedienen
die Kurbel oder zählen und beschneiden die fertigen
Saugpostblätter.
Da das Papier verhältnismäßig
kanpp ist und die Flugzettel außerdem nur so groß sein dürfen,
daß man sie bequem in die Tasche stecken kann, steht auf jedem
Blatt viermal derselbe Text. Während der Kleine die DIN A
4-Blätter in vier Teile aufschneidet, liest er den Aufruf an die
Berliner Bevölkerung:
,MÄNNER und FRAUEN Berlins!
SOLDATEN und VOLKSSTURM-MÄNNER! Die Kriegsverbrecher, die unser
Volk ins Unglück gestürzt haben und nun ihr Ende kommen sehen,
wollen Berlin zur Festung machen und die Stadt bis zum letzten
Stein verteidigen! Leistet dem verbrecherischen Befehl nicht
Folge! Die Truppen, die auf Berlin zumarschieren und durch
nichts mehr aufzuhalten sind, kämpfen nicht gegen
das Volk, sondern nur gegen seine sogenannten Führer.
Soldaten! Werft die Waffen weg! Frauen und Männer —
organisiert den Widerstand und schreibt zum Zeichen, daß ihr
nicht gewillt seid, die Stadt zu verteidigen, das Wort
„NEIN!" an eure Häuser. Und gebt überall die Parole von Mund
zu Mund: Berlin wird nicht verteidigt!
Widerstandsgruppe
Otto — Berlin.'
„Nicht schlecht",
sagt der Kleine, „aber wer ist Otto?" Glasmeier lacht. „Otto ist
niemand. Oder doch: für die Polizei ist er der ,große
Unbekannte', auf den unbedenklich alle Schuld abgeladen werden
kann."
„Und noch etwas:
Glaubt ihr, daß die Berliner auf diesen Zettel hin, falls sie
ihn wirklich in die Hand bekommen, auch tatsächlich ein ,NEIN!'
an die Häuser schreiben?"
„Natürlich nicht",
sagt Glasmeier, „dafür werden wir es in dieser Nacht
tun!"
Editorische Hinweise
Wolfgang W. Parth, Die letzten Tage. Berlin 1946, S. 81/82.
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