75 Jahre Zweiter Weltkrieg 
DAS ENDE
Widerstandsgruppe Otto

von Wolfgang W. Parth

10-2014

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Auf ihr Klopfzeichen an der genau bezeichneten Wohnung in der Nassauischen Straße öffnet ihnen ein schmächtiger junger Mann mit dunklem Haar und blassem Gesicht, der sie etwas mißtrauisch durch seine Brille betrachtet. Aber nachdem er den Namen Fuchs gehört hat, läßt er sie sofort eintreten und stellt sich mit dem Na­men Blumberg vor.

In der großen Wohnung, die schon längere Zeit verlassen ist, riecht es nach Staub und Druckerschwärze. In dem mittleren Zim­mer steht auf einem großen, runden Tisch zwischen Papierstapeln ein Abziehapparat, an dem zwei Männer gerade damit beschäftigt sind, die Walze neu einzufärben.

Blumberg stellt die beiden vor. Der ältere, dessen Namen sie nicht verstehen und der merkwürdigerweise ein Monokel und ein kleines Toupet trägt, ist Druckereifachmann und hier gerade der richtige Mann; der jüngere heißt Glasmeier und ist Student.

„Ebenfalls Soldat", sagt er, „wenn auch im vielgelästerten und doch so beliebten Räuberzivil." Er kann ihnen leider keine Hand geben, da er völlig mit schwarzer Farbe verschmierte Finger hat. ; Während Blumberg im Nebenzimmer auf der Schreibmaschine eine neue Matrize schreibt, erhalten Martin und der Kleine von dem Druckereifachmann ihre Arbeit zugeteilt. Sie legen abwechselnd Papier zurecht, bedienen die Kurbel oder zählen und beschneiden die fertigen Saugpostblätter.

Da das Papier verhältnismäßig kanpp ist und die Flugzettel außerdem nur so groß sein dürfen, daß man sie bequem in die Ta­sche stecken kann, steht auf jedem Blatt viermal derselbe Text. Während der Kleine die DIN A 4-Blätter in vier Teile aufschneidet, liest er den Aufruf an die Berliner Bevölkerung:

,MÄNNER und FRAUEN Berlins! SOLDATEN und VOLKSSTURM-MÄNNER! Die Kriegsverbrecher, die unser Volk ins Unglück gestürzt haben und nun ihr Ende kommen sehen, wollen Berlin zur Festung machen und die Stadt bis zum letzten Stein verteidigen! Leistet dem verbrecherischen Befehl nicht Folge! Die Truppen, die auf Berlin zumarschieren und durch nichts mehr aufzuhalten sind, kämpfen nicht gegen das Volk, sondern nur gegen seine sogenannten Führer. Soldaten! Werft die Waffen weg! Frauen und Männer — organisiert den Widerstand und schreibt zum Zeichen, daß ihr nicht gewillt seid, die Stadt zu verteidigen, das Wort „NEIN!" an eure Häuser. Und gebt überall die Parole von Mund zu Mund: Berlin wird nicht verteidigt!

Widerstandsgruppe Otto — Berlin.'

„Nicht schlecht", sagt der Kleine, „aber wer ist Otto?" Glasmeier lacht. „Otto ist niemand. Oder doch: für die Polizei ist er der ,große Unbekannte', auf den unbedenklich alle Schuld abgeladen werden kann."

„Und noch etwas: Glaubt ihr, daß die Berliner auf diesen Zettel hin, falls sie ihn wirklich in die Hand bekommen, auch tatsächlich ein ,NEIN!' an die Häuser schreiben?"

„Natürlich nicht", sagt Glasmeier, „dafür werden wir es in dieser Nacht tun!"

Editorische Hinweise

Wolfgang W. Parth, Die letzten Tage. Berlin 1946, S. 81/82.