Es handelt sich
um eine echte soziale Bewegung, aber auf reaktionärer und
teilweise völlig irrationaler Basis: Unzählige BeobachterInnen
in Frankreich zeigen sich über die Zählebigkeit und die lang
anhaltende Dynamik der Bewegung gegen die Öffnung der Ehe für
gleichgeschlechtliche Paare erstaunt. „17
Monaten nach dem Inkrafttreten des Gesetzes“,
um dessen Verhinderung es ursprünglich ging,
„überrascht die Standhaftigkeit dieser Protestbewegung
Soziologen, Politikwissenschaftlerinnen und Historiker, ohne ein
Ende zu nehmen“,
konstatierte die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde
am 02. Oktober 2014.
Drei Tage
später, am Sonntag, den 05. Oktober dieses Jahres,
demonstrierten zweifellos über einhunderttausend Menschen erneut
gegen die Zulassung der Homosexuellenehe. In Paris behaupteten
die VeranstalterInnen, es seien 500.000 Menschen gekommen, die
Polizei sprach ihrerseits von 70.000 Teilnehmenden. Zeitgleich
gingen im südwestfranzösischen Bordeaux, je nach Angaben,
zwischen 7.500 und 30.000 Personen aus dem selben Anlass auf die
Straße. Auffällig ist ferner, dass der Protest nun ganz
überwiegend durch (aus kirchlicher Sicht betrachtet) „Laien“ –
also Nichtkleriker –, durch Unorganisierte sowie politische
Kräfte getragen wird, während der Apparat der katholischen
Amtskirche sich heute sehr weitgehend aus dem sichtbaren
Straßenprotest zurückgezogen hat. Bei den ersten Demonstrationen
zum Thema, die am 17. November 2012 eingesetzt hatten, war seine
Präsenz noch deutlich erkennbar gewesen.
Die letzte vergleichbar große
Mobilisierung der Homosexuellen-GegnerInnen hatte am 02. Februar
2014 stattgefunden. Damals sprach die Polizei in Paris von
80.000 TeilnehmerInnen, die VeranstalterInnen ihrerseits
wiederum von 500.000. Und in Lyon – diese Stadt bildet in
vielerlei Hinsicht eine reaktionäre Hochburg – waren es an jenem
Tag 20.000 respektive 40.000 Personen. Je nachdem, auf wessen
Angaben man hörte.
Ein Rückblick (im Zorn)
Als der Sommer des Jahres 2013
kam, hätte man zunächst glauben können, dieses Kapitel sei nun
wirklich abgeschlossen: Am 17. Mai jenes Jahres hatte das
französische Verfassungsgericht das (zuvor vom Parlament
verabschiedete) Gesetz zur Öffnung der Ehe für homosexuelle
Paare für verfassungskonform erklärt. Am 18. Mai wurde es durch
die Unterschrift von Staatspräsident François Hollande in Kraft
gesetzt. Die vorläufig letzte breite Protestdemonstration gegen
das Gesetz, unter Beteiligung von Hunderttausenden, wurde am 26.
Mai desselben Jahres in Paris abgehalten. Viele nahmen damals
auch tatsächlich an, dies sei es nun gewesen mit dem reaktionär
aufgeladenen Protest.
Am 29. Mai 2013 fand der erste
Eheschluss zwischen zwei Männern im südfranzösischen Montpellier
statt, wo das Rathaus durch fast 300 Beamte von Polizei und
Gendarmerie gegen eventuelle abgeschirmt wurde. Nach Ablauf
eines Vierteljahres waren rund 600 Ehen homosexueller Paare
geschlossen worden, weitere 1.000 Hochzeitstermine waren zu dem
Zeitpunkt angemeldet. Und was daraufhin kommen musste, kam dann
auch: Am 29. Oktober 13 wurde die erste gleichgeschlechtliche
Scheidung angekündigt, zwischen zwei Frauen, die vier Monate
zuvor in Toulouse eine Ehe eingegangen waren.
Man hätte glauben können, nunmehr
sei in dieser Frage in jeglicher Hinsicht „Normalität“
eingetreten. Und doch ging der seit November 2012 andauernde,
von religiösen, konservativen und faschistischen Kräften
getragene Protest auch danach immer noch weiter. Die stärkste
Oppositionspartei in Frankreich, UMP, die bereits vor der
(mittlerweile vor-vorletzten) breiten Demo vom 26.05.2013 über
ihre Teilnahme gespalten war, zog sich nach diesem Termin
mehrheitlich aus den Massenprotesten zurück. Ihr Mehrheitsflügel
argumentierte damit, dass ein einmal in Kraft getretenes „Gesetz
der Republik“ respektiert werden müsse, um nicht zu drohen, die
Staatsautorität zu untergraben.
Doch nicht alle
ihre AnhängerInnen hörten darauf, und zwar bis jetzt nicht: Eine
Reihe von UMP-Abgeordneten, unter ihnen der prominente
Parlamentarier und Anwärter auf die Parteiführung – die Wahl des
nächsten Parteivorsitzenden findet Ende November 2014 statt –
Hervé Mariton, waren auch im Oktober 2014 wieder auf der Straße
mit dabei. Der mit Abstand aussichtsreichste Kandidat für die
Wahl zum Parteivorsitz, Ex-Präsident Nicolas Sarkozy, hat sich
allerdings inhaltlich distanziert. Bei seinem mittlerweile
berühmt gewordenen „Rückkehr-Interview“ – einem TV-Auftritt vom
21. September 14, welcher seine Rückkehr in die aktive Politik
markieren sollte – kritisierte er zwar Präsident François
Hollande dafür, dass unter seiner Regierung das Gesetz zur
Homosexuellen-Ehe angenommen worden sei. Gleichzeitig schloss er
es jedoch indirekt auch aus, das einmal in Kraft befindliche
Gesetz wieder abzuschaffen; obwohl Sarkozy inhaltlich zum Thema
viel um den heißen Brei stapfte und sich nicht sonderlich
konkret äußerte, mussten seine Auslassungen doch in dieser
Richtung verstanden werden. Sarkozy sagte dazu, Hollande
habe „die Homosexuellen gegen die Familien ausgespielt“
und deswegen Frankreich gespalten. Aber bei ihrer Rückkehr an
die politische Macht (die er für das Wahljahr 2017 voraussieht)
dürfe die Rechte nun nicht ihrerseits erneut das Land spalten
und „dieses Mal die Familien gegen die Homosexuellen
ausspielen“. Bei Umfragen spricht sich inzwischen auch
eine knappe Mehrheit in der UMP-Wählerschaft für eine
Beibehaltung dieses Gesetzes aus.
Aus Protest
gegen diesen „Verrat“ der stärksten
Oppositionspartei, der konservativ-wirtschaftsliberalen UMP,
besetzten fünfzig rechtsextreme Aktivisten deswegen am 10.
Oktober 2014 über eine Stunde lang die Parteizentrale der UMP.
Die Besetzer, deren Aktion schließlich durch die Pariser Polizei
beendet wurde, gehörten der außerparlamentarischen
rechtsextremen „identitären Bewegung“ an, genauer der
Génération identitaire, Jugendorganisation des seit 2003
bestehenden Bloc identitaire. Sie sind nur ein
Bestandteil einer heterogenen Palette aus religiösen Fanatikern,
das Vergnügen der (Pseudo-)Revolte frisch entdeckenden
Jungrechten und jungen Bourgeois aus den „besseren Vierteln“,
faschistischen Aktivisten und auf eigene Faust
„Durchgeknallten“, die den Protest gegen die Homosexuellenehe
seit nunmehr zwei Jahren stetig am Kochen halten.
Die extreme Rechte
Auf politischer Ebene sind eine
Reihe von rechtsextremen Organisationen darum bemüht, sich an
die Spitze der Bewegung zu setzen.
Am 26. August
2013 wurde bekannt, dass eine Bürgermeisterin öffentlich ihre
Bereitschaft ankündigte, sich dem neuen Gesetz offen zu
widersetzen und den Eheschluss zwischen zwei Frauen in „ihrem“
Rathaus standhaft (und illegal) zu verweigern. Es handelte sich
um Marie-Claude Bompard, Rathauschefin im südfranzösischen
Bollène. Ihr Ehemann Jacques Bompard ist seit 1995 Bürgermeister
in der Nachbarstadt Orange und gehörte von Anfang der 1970er
Jahre bis im Herbst 2005 dem Front National an; danach machte er
mehrere rechte Kleinparteien durch und steht heute der (zusammen
mit den „Identitären“ betriebenen) rechtsextremen Regionalpartei
Ligue du Sud vor. Ihr gehört auch seine Gattin und
Amtskollegin an. Am 29. August knickte Madame Bompard jedoch
ein, nachdem Strafverfahren infolge ihres offenen Gesetzesbruchs
in Aussicht gestellt worden waren. Nunmehr sollte eine
Beisitzerin von ihr den Eheschluss zelebrieren.
Selbst einer der Vizepräsidenten
des Front National (FN), Florian Philippot – in Fragen der
Homo-Ehe vertritt er den vergleichsweise moderaten Flügel
innerhalb dieser stärksten Partei auf der extremen Rechten –
hatte ihr Verhalten in der Öffentlichkeit kritisiert. Er
postulierte, wenn das Gesetz nun einmal beschlossen sei, müsse
man sich als Stadtoberhaupt auch daran halten. Das sehen aber
beileibe nicht alle Anhänger und Parteifunktionäre des Front
National so. Deswegen, aber auch wegen seiner vermuteten eigenen
Homosexualität, wurde und wird Philippot in der rechtsextremen
Partei wiederholt angefeindet.
Tatsächlich war (und ist) der
Front National über die eigene Haltung zu den Demonstrationen
gespalten. Die 46jährige Parteichefin Marine Le Pen war
persönlich reserviert, was eine Teilnahme daran betraf: Zum
Einen war sie überzeugt davon, dass es in Wirklichkeit eher „die
wirtschaftlichen und sozialen Themen“ seien, die die
französische Gesellschaft im Allgemeinen und die Wählerschaft
ihrer Partei im Besonderen berührten. So genannte weiche, oder
postmaterielle, Themen wie die Debatte um die Homo-Ehe seien nur
Ablenkungen, mit denen die etablierten Parteien (ob für oder
gegen die Einführung der Homosexuellenehe) die Aufmerksamkeit
von der wirtschaftlichen Misere weglenkten. Zum Anderen wollte
Marine Le Pen anfänglich aber auch vermeiden, dass ihre Partei
in der öffentlichen Wahrnehmung in der erzreaktionären Miefecke
steht. Da sie sich seit ihrem Antritt als Parteivorsitzende
(Januar 2011) verstärkt um neue WählerInnenschichten – Frauen,
jüngere Generationen, Leute mit höherem Bildungsgrad – bemüht,
die bislang dem FN eher fern standen, und zu Anfang nicht vom
Erfolg der Demonstrationen überzeugt war, blieb sie auf Abstand.
Diese Haltung war und bleibt in
ihrer Partei jedoch stark umstritten. Ihr Vater Jean-Marie Le
Pen erklärte seine Unterstützung für die Proteste, ohne freilich
persönlich zu erscheinen, was auch mit seinem Alter von
inzwischen 86 zusammenhängen könnte. Und ihre Nichte
Marion-Maréchal Le Pen – eine 25 Jahre junge Abgeordnete in der
Nationalversammlung – sowie deren parteiloser, aber für den FN
gewählter Parlamentskollege Gilbert Collard nahmen selbst an den
Demonstrationen teil. Am 05. Oktober 2014 tauchte dort dann auch
Marine Le Pens eigener Lebensgefährte (und Vizechef ihrer
Partei), Louis Aliot, neben einer Abordnung von 150 bis 200
Parteifunktionären bei der Pariser Demonstration auf. Auch wenn
Marine Le Pen auch im Herbst 2014 noch immer nicht persönlich an
ihnen teilnahm, so hat sich doch die Teilnahme ihrer Partei an
den Protestzügen zum Thema inzwischen eher verstärkt.
Neben dem FN
und der UMP, die um Einfluss in der rechten Protestbewegung
konkurrierten und dabei aber jeweils in den eigenen Reihen auf
Widersprüche stießen, gingen auch zahlreiche kleinere
rechtsextreme Organisationen gestärkt aus dem monatelangen
konservativ-reaktionären Massenprotest hervor. Dies gilt etwa
für die katholisch-nationalistische militante Gruppierung
Renouveau français, die Reste der
monarchistisch-nationalistischen Action française,
aber auch den im Grunde eher neuheidnisch denn christlich
orientierten Bloc identitaire. Sie alle hatten
versucht, sich an die Spitze des Protests zu setzen, und sich
vor allem im April und im Mai 2013 - im Anschluss an die damals
fast täglich stattfindenden Demonstrationen - beinahe
allabendlich gewaltförmige Auseinandersetzungen mit der Polizei
geliefert. Auf politischer Ebene versuchte ferner das
katholisch-fundamentalistische Institut Civitas,
angeführt vom ehemaligen Vorsitzenden des belgischen Front
national belge (FNB) Alain Escada, die Proteste zu
radikalisieren. Das Institut Civitas, das gegen
die „freimaurerische Republik“ wettert, demonstrierte bei den
größeren Protestzügen meist auf vom Rest der Demonstrationen
getrennten Routen, und unter eigenen Parolen, mit.
Als militante
Speerspitze versuchten sich daneben auch die neonazistischen
Jeunesses nationalistes (JN, „Nationalistische
Jugendverbände“) von Alexandre Gabriac aufzuführen, die
beispielsweise Ende März 2013 in Lyon die örtliche
Parteizentrale der regierenden Sozialdemokratie attackierten.
Die JN mit maximal 100 Mitglieder existierten seit Oktober 2011
und bildeten eine Jugendorganisation der antisemitischen und
offen faschistischen Splitterpartei Oeuvre française,
die seit Januar 2012 von Yvan Benedetti angeführt wird.
Sowohl Gabriac,
Anfang zwanzig, als auch Benedetti mit Anfang 40 wurden beide im
Jahr 2011 aus dem Front National ausgeschlossen. Alexandre
Gabriac, damals der jüngste Regionalparlamentarier des FN in
ganz Frankreich, weil er auf Fotos bei Facebook mit Hitlergruß
postierte, und Benedetti wegen ungeschminkt antisemitischer
Äußerungen. JN und L’Oeuvre française wurden
allerdings im Juni/Juli 2013 gesetzlich verboten, da die
Regierung nach dem gewaltsamen Tod des jungen Antifaschisten
Clément Méric am 05. Juni jenes Jahres nunmehr demonstrativ
härter gegen militante faschistische Organisationen vorging.
Benedetti und Gabriac setzen seitdem allerdings ihre Propaganda
im Internet mittels der Webseite Jeune Nation,
sowie mittels einer Mailingliste (Courrier nationaliste)
fort. Im März 2014 traten sie ferner auf einer eigenen Liste
unter dem Namen Faire Front zur Rathauswahl in Vénissieux in der
Nähe von Lyon an. Anfang Oktober d.J. wurde die Wahl jedoch
gerichtlich annulliert, weil Unregelmäßigkeiten bei dieser
Listen festgestellt worden waren – einige ihrer Bewerber
kandidierten ohne eigenes Wissen auf ihr.
Gesellschaftlicher
Hintergrund
Warum aber konnte die Bewegung
über organisierte Rechtsextreme einerseits, und in ihrer
Weltanschauung gefestigte Kirchenkreise andererseits hinausgehen
und eine derartige Dynamik auslösen? Dafür gibt es
unterschiedliche Gründe, aktueller und struktureller Natur. Auf
der ersten Ebene ist die schmähliche Bilanz der aktuellen
Regierungskoalition aus Sozialdemokraten und Grünen angesiedelt:
Neben dem, tatsächlich eingelösten, Versprechen zur Einführung
der Homosexuellenehe hat sie keinerlei sonstigen Erfolge
vorzuweisen. Insbesondere auf dem Gebiet der Wirtschafts- und
Sozialpolitik zeigt sie keinerlei Gestaltungswillen, sondern
beruft sich auf kapitalistische „Sach-“ und europäische
„Sparzwänge“, exekutiert den Willen „der Wirtschaft“ und weist
kaum Unterschiede zu ihrer Vorgängerregierung auf. Die
Unterschiede zwischen den großen politischen Lagern haben sich
deswegen sehr weitgehend verwischt – bis auf die
symbolpolitischen Themen, bei denen von beiden Seiten
„Wertvorstellungen“ mobilisiert werden, ohne an die Fragen der
Verteilung zwischen Kapital und Arbeit rühren zu müssen.
Hinzu kommt, als strukturelles
Element, das historische Erbe aus der französischen Geschichte,
das in einem Teil der Gesellschaft weiterwirkt. In einem Milieu,
das sich durch die Bindungswirkung „katholischer Werte“ und
konservativer Einstellungen auszeichnet, würde in anderen
Ländern vielleicht eher eine unpolitische Haltung oder die
Einrichtung im Bestehenden vorherrschen. In Frankreich aber ist
ein Teil gerade dieses Milieus durch die Erinnerung an den
Epochenbruch von 1789 geprägt: Modernisierung und Abkehr vom
Überkommenen wird hier dauerhaft mit einem vermeintlich
traumatischen Erlebnis, jener an den Zusammenbruch einer als
„natürlich“ vorgestellten Ordnung, assoziiert. Deswegen besteht
in einem Teil des konservativen bis reaktionären
gesellschaftlichen Milieus stets eine auf den ersten Blick
erstaunlich wirkende Bereitschaft, sich „notfalls“ auch aktiv
der Politik der Regierenden zu widersetzen – vor allem, wenn
diese einem als feindlich wahrgenommenen politischen Lager
angehören, dem seit der Enthauptung des Königs im Januar 1793
und der Trennung zwischen Kirche und Staat im Dezember 1905 alle
möglichen Schandtaten zugetraut werden. Ein solcher
aktivistischer Konservativismus ist etwa in Deutschland eher
unbekannt, Vergleiche werden westlich des Rheins auch eher zur
Tea Party-Bewegung in Nordamerika gezogen.
Die meiste Zeit über bleibt diese
Mobilisierungsbereitschaft konservativer Kreise im
Latenzzustand. Aber wenn ein Thema, wie die als bedrohlich
wahrgenommene Reform der staatlichen Finanzierung für die
katholischen Privatschulen im Frühjahr 1984 – die damaligen
Millionenproteste fallen zeitlich mit dem Durchbruch des Front
National als Wahlpartei mit Massenanhang zusammen – oder aktuell
die Homo-Ehe, als besonderer Stachel wahrgenommen wird, dann
schlägt die Situation um. Zumal wenn dem rechten Protest die
Straße überlassen bleibt, weil die Basis der Linksparteien und
ein Gutteil der Gewerkschaften desorientiert, frustriert und
perspektivlos vor sich hin starren.
Aktuell hat die
Regierung unter dem stramm rechtssozialdemokratischen
Premierminister Manuel Valls, kurz vor den erneuten
Demonstrationen von Anfang Oktober 2014, noch Öl ins Feuer des
rechten Protests gegossen. In der Absicht, ihn zu beruhigen,
hatte Valls ihm ein Versprechen gemacht: Er kündigte an, unter
seiner Regierung werde es keine Zulassung von Leihmutterschaften
(französisch GPA, für gestation pour autrui)
geben. Seit Beginn der Diskussionen um die Öffnung der Ehe für
homosexuelle Paare wurden Letztere, zusammen mit der klinischen
künstlichen Empfängnis (französisch PMA, für procréation
médicalement assistée), besonders durch die GegnerInnen
der Homosexuellenehe immer wieder thematisiert und angegriffen.
PMA und GPA wurden gleichermaßen als Mittel dargestellt, mit
denen es künftig kinderlosen Paaren – unter ihnen homosexuellen
– gestattet werden solle, eigene Kinder zu bekommen. Dabei sind
die beiden Vorgänge keineswegs miteinander gleichzusetzen: Im
progressiven Lager und bei den meisten Verbänden, die für eine
Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben kämpfen, wird zwar
die künstliche Befruchtung oder PMA befürwortet, aber die
Leihmutterschaft oder GPA hingegen als Eingriff in einen fremden
Körper – mit der Gefahr einer Ausnutzung finanzieller
Abhängigigkeiten und ökonomischer Notlagen von Frauen –
vernehmbar abgelehnt.
Das damalige sozialdemokratisch-grüne Regierungslager (die
Grünen traten zwischenzeitlich, Anfang April 2014, aus dem
Kabinett aus) hatte zwar ursprünglich ebenfalls die künstliche
Befruchtung im Grundsatz befürwortet. Eine zunächst angekündigte
gesetzliche Regelung dazu – die im Frühjahr 2014 als Passus,
quasi nebenbei, neben vielen anderen Aspekten in das allgemeine
Gesetz zur Familienpolitik mit eingehen sollte – wurde jedoch im
Februar 2014 durch die Regierungsspitze zurückgezogen. Viele
erblickten darin ein Einknicken vor dem reaktionär aufgeladenen
Massenprotest, der kurz zuvor, am 02.02.2014, erneut die Straßen
besetzt hatte. Sowohl die PMA als auch die GPA stehen damit also
nicht auf der Tagesordnung, und eine für eine Mehrheit der
politischen ebenso wie der zivilgesellschaftlichen Akteure stand
Letztere (also Leihmutterschaft) ohnehin nie zur Debatte.
Dadurch, dass Valls nun wenige Tage vor der letzten
Demonstration von Anfang Oktober 2014 so tat, als sei dies in
Wirklichkeit anders, er ziehe jedoch die GPA als Zugeständnis an
die Protestbewegung vorläufig zurück, verlieh er ihr nochmals
richtig Nahrung.
Zahllose Gerüchte ranken sich auch
weiterhin im Protestlager, rund um Schandtaten, welche durch die
Regierung angeblich im Verborgenen geplant würden. Das reicht
von der vermeintlich doch noch insgeheim betriebenen Zulassung
von Leihmutterschaft und künstlicher Befruchtung über angebliche
Pläne zur „sexuellen Umerziehung“, ja quasi zur
Geschlechtsumwandlung armer geplagter Schulkinder im Unterricht.
Aufgrund der zahllosen irrationalen Ängste, die nun erst recht
kursieren, ist also mit einem baldigen Rückfluss dieser Bewegung
auch weiterhin nicht zu rechnen. Auch wenn der Protest diffusere
Formen annehmen könnte und sich zum Teil auch in die Schulen
verlagern dürfte, wo es bereits im ersten Halbjahr eine von
rechtsextremer Seite befeuerte Boykottbewegung gegen „sexuelle
Umerziehung im Unterricht“ gegeben hat.
Editorische Hinweise
Wir erhielten
den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.
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