Editorial
Märchenstunden
von Karl Mueller

10/2015

trend
onlinezeitung

Für kleinere Kinder gibt es in Funk und Fernsehen zur abendlichen Einschlafenszeit Märchensendungen, die zwar von Gut und Böse handeln, aber Kinder nicht belasten. Denn das Gute - verkörpert durch einen Helden -  siegt am Ende und das Kind schlummert entspannt ein. Der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim war der Meinung, dass Kinder deshalb von Märchenmotiven so fasziniert sind, weil sie darin ihre eigenen Gefühle, Hoffnungen und Ängste abarbeiten können, ohne sie begreifen oder erforschen zu müssen.


BILD kostenlose Sonderausgabe zum 3. Oktober /1.10.15 Seite 15

Der 3. Oktober ist in der BRD zu einem Feiertag des Märchens für Erwachsene geworden. Hier schlägt die Stunde der Volksmärchen, weil sie vielen Menschen den Glauben schenken, wie Lösungen für persönliche und politische Probleme aussehen können, ohne in den Zwang rationaler Erklärungen zu verfallen.

Eine marxistisch geschulte Linke müsste eigentlich in der Lage sein, das Volksmärchen von der wunderbaren "deutschen Einheit" zu dechiffrieren, Genese und Strukturen bloßzulegen und einer Kritik zu unterwerfen, die sich zu den wirklichen Voraussetzungen einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus hindurcharbeitet. Doch weit gefehlt.

Wir veröffentlichen in dieser Ausgabe drei linke Stellungnahmen zum 25. Jahrestag der "deutschen Einheit", die allesamt auf ihre Weise weit davon entfernt sind, diesem Anspruch zu genügen. Vorneweg die DKP, die den Tag der "deutschen Einheit nutzen will, um den Sozialismus zu propagieren: Sozialismus ist heute nötiger denn je! Statt Analyse verbreitet sie ihre Märchen über die DDR als "das bessere Deutschland". Märchen, die kaum eine Chance haben werden, in den Rang eines Volksmärchens aufzusteigen. Ich schlage stattdessen vor, sich bei solchen Erklärungen demnächst von Brecht leiten zu lassen:

"Und was den alten Brauch betrifft, so sehe ich keine Vernunft an ihm. Ich brauche vielmehr einen neuen großen Brauch, den wir sofort einführen müssen, nämlich den Brauch, in  jeder neuen Lage neu nachzudenken." (B. Brecht Stücke IV, Berlin Weimar 1967, S. 245, Der Jasager und der Neinsager)

Die beiden anderen Erklärungen - Deutschland, halt's Maul! und Kein Applaus für Scheiße sind eigentlich keine Märchensammlungen im engeren Sinne, sondern eher ein Legendenkonstrukt. In ihnen wird historisch Richtiges ideologisch verbrämt, indem "Deutschland" zu einem vom Kapital gesteuerten historischen Subjekt homogenisiert wird, dessen Handlungen in der Tat ekelerregend sind. Durch diese Konstruktion wird nicht die Vernunft zu einer Triebkraft der Veränderung, sondern die Ethik.

Allen drei Statements ist gemeinsam, dass für sie die lohnarbeitende und prekäre Klasse, die den gesellschaftlichen Reichtum schafft, keinen Ausgangspunkt für ihre Analyse der Verhältnisse bildet. Sie lassen die soziale Frage, nämlich die Aufhebung des Kapitalismus durch die Ausgebeuteten, in der nationalen Frage einfach verschwinden. Für die DDR-Nostalgiker*innen geht es um eine bessere BRD und für die anderen - ganz maximalistisch  - um die Abschaffung von Deutschland.

Und so laufen wir Gefahr, dass der 3. Oktober noch lange ein Tag der Märchenstunden auch für Linke bleiben wird.

TREND(s) im Netz - hier die jüngsten Zahlen:

Die BesucherInnenzahlen vom September 2015, in Klammern 2014, 2013

  • Infopartisan gesamt: 143.265 ( 153.860, 140.113)
  • davon TREND: 98.327 (102.201, 95.136)

Diese Auswertung fasste alle Seitenaufrufe eines Besuchers,  gekennzeichnet durch seine IP-Adresse und seine Browserkennung, zu einem Besuch (unique visit) zusammen. Ein Besucher wurde nur gezählt, wenn er mindestens eine Page-Impression, d.h. eine vollständig geladene Seite mit dem Rückgabewert 200 oder 304, ohne Bestandteile wie Bilder und Dateien mit den Endungen .png, .jpg, jpeg, .gif, .swf, .css, .class oder .js auslöste. Liegen mehr als 30 Minuten zwischen den einzelnen Page-Impressions, so wird der Besucher mehrfach gezählt. Ein Besuch kann maximal 30 Minuten dauern.

Seitenaufrufe bei INFOPARTISAN gesamt im September 2015: 300.450
Seitenaufrufe bei TREND im September  2015: 198.615

1.787 BesucherInnen verbuchte die Agit 883 Seite.
Es wurden
 1.486 Ausgaben der Agit 883 aufgerufen
5.589 BesucherInnen besuchten das Rockarchiv
8.814
Seiten wurden im Rockarchiv abgerufen

Die am meisten gelesene Seite im September 2015 bei Infopartisan war:

Der am meisten gelesene TREND-Artikel im September 2015

Die am meisten gelesenen TREND-Artikel der 09/2015 im September 2015:

Weitere stark nachgefragte TREND-Artikel aus vorherigen Ausgaben im September 2015: