Dialektik der Anpassung
Psychologisierung der Gesellschafts-„Kritik" -„Ergänzung" von Marx durch Freud

von Rolf Bauermann und Hans-Joachim-Rötscher

10/2015

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Eine zentrale Kategorie der „kritischen Theorie" ist die Ent­fremdung. Unter ihr wird jedoch nicht ein materialistisch kon­statierbares Verhältnis der Arbeiterklasse zum Prozeß der kapitalistischen Produktion verstanden, also ein sozial deter­miniertes Verhältnis. Vielmehr wird diese Entfremdung mit der Vergegenständlichung der menschlichen Wesenskräfte iden­tifiziert. Die Erzeugung der Sachwelt durch die Produzenten bringe ursprünglich diese Entfremdung hervor, indem sie die Menschen zur Regelung ihrer Bedürfnisstrukturen, zur Aus­richtung ihres Leistungswillens entsprechend der sich ent­wickelnden Sachwelt zwinge. Hieraus wird die Schlußfolge­rung abgeleitet, daß mit wachsendem Technisierungsgrad und gesteigerter Produktivität vermehrte Sachzwänge auf die Pro­duzenten, die diese produktive Sachwelt hervorbringen, aus­geübt werden. Es existiere jedoch nicht nur eine natürliche Entfremdung, die durch den prometheischen Charakter der menschlichen Arbeitsleistung hervorgebracht wurde, sondern sie sei verbunden mit der vom Herrschaftsinteresse der herr­schenden Klasse ausgehenden repressiven Reglementierung der Sachzwänge gegenüber den Produzenten. Repressives Herrschaftsinteresse fördere eine Ideologie der Anpassung der Produzenten an die von ihnen erzeugte Sachwelt, die zur Manipulation des Gattungsbewußtseins der Produzenten führe, also zur Folge habe, daß die Wirkungen der Entfrem­dung von den Produzenten nicht mehr übersehen werden könnten und zur Anpassung an die bestehende sogenannte Leistungsgesellschaft führen würden.

Der so interpretierten Entfremdungssituation, wie sie der Auffassung der „kritischen Theorie" entspricht, liegt nicht die Erkenntnis der materialistisch bestimmten Dialektik der Be­ziehungen von Produktivkräften und Produktionsverhält­nissen zugrunde. Vielmehr wird die dialektisch-materialistische Beziehung, die einer marxistischen Konstatierung der Ent­fremdung der Arbeiterklasse im Prozeß der kapitalistischen Produktion und Reproduktion entspricht, durch eine hegelia-nisierende idealistische Beziehung ersetzt.

Das Ablösen der Dialektik von der materialistischen Grund­lage in der Betrachtung von Produktivkräften und Produk­tionsverhältnissen führt dazu, daß der gesellschaftliche Charak­ter der Arbeit geleugnet wird und statt der sozialen Bedingt­heit des gesellschaftlichen Produktionsprozesses nun eine idealistische Fiktion erscheint, die die Wirkungen des Pro­duktionsprozesses auf anthropologisch bestimmte mensch­liche „Wesenskräfte" reflektieren möchte. Das bestreben der Vertreter der „kritischen Theorie", den Weg zur Aufhebung der Entfremdung zu finden, basiert deshalb auf einer Gesell­schafts- und Geschichtsauffassung, die eine spekulativ-idea­listische Grundlage hat, weil sie die gesellschaftliche Eman­zipation nicht als revolutionäre Aufgabe für die Arbeiterklasse, die< sozialistische Revolution durchzuführen, formuliert, son­dern sich in der Erwartung eines sich „emanzipierenden Gattungsbewußtseins" äußert. Für Habermas beispielsweise ergibt sich daraus sein Vorwurf gegenüber Marx, die Spezifik der gesellschaftlichen Praxis nur als instrumentales, nicht aber auch als kommunikatives Handeln verstanden zu haben. Ein solcher Vorwurf trifft nicht Marx, offenbart aber das Anliegen, das Problem der Entfremdung und seiner Aufhebung idea­listisch an ein existentialistisch-anthropologisches Menschen­bild zu binden, das zur Grundlage der Gesellschaftsbetrachtung erhoben wird.

Der Klassenkampf und seine Zielsetzung in unserer Epoche werden durch die Sicht dieser Konzeption zum Reflexions­prozeß. Emanzipation bedeutet Entfaltung des „kritischen Gattungsbewußtseins" des menschlichen Wesens. Darunter wird von den Vertretern der Frankfurter Schule die Fähigkeit der Menschen zur „kritischen Selbstreflexion" gegenüber konstatierten Erscheinungen der Wirkung der Entfremdung durch die produzierte Sachwelt verstanden. „Kritisches Gattungsbewußtsein" wird damit auch in Gegensatz zur Ideologie gebracht, die, wie wir im einzelnen noch zeigen werden, als Ausdruck manipulierten Bewußtseins fungiert.

Dieses nicht gesellschaftlich-praktische, sondern erkenntnis­theoretisch konstruierte Verhältnis des Menschen zu der von ihm produzierten Sachwelt kann in seinen Entfremdungs­phänomenen natürlich nicht aus der sozialökonomischen Sphäre der Gesellschaft bestimmt werden; sondern ent­sprechend dem anthropologischen Ausgangspunkt in der Be­stimmung des Menschen ergibt sich, daß die Entfremdung der menschlichen Wesenszüge nunmehr auch von einer ihr ent­sprechenden Bezugssphäre abhängig gemacht werden muß:-von der psychoanalytischen Theorie Sigmund Freuds.
Bereits 1932 wird in dem Aufsatz von Max Horkheimer „Geschichte und Psychologie" deutlich, welche eminente Rolle die Psychoanalyse für die Gesellschaftsauffassung der „kritischen Theorie" spielen soll. Horkheimer wendet sich gegen die neukantianische Geschichtsphilosophie Rickerts, gegen die Geschichtsphilosophie der Phänomenologie, die er besonders bei Scheler, Heidegger und Dilthey angreift.(75) Während er gegenüber subjektivem Geschichtspsychologis-mus hier zunächst noch die „ökonomischen Kategorien" gel­tend macht, fordert er dann selbst die Psychologisierung der Gesellschaftskritik. „Auch erhält die Psychologie in der Gegen­wart noch eine besondere Bedeutung, dL freilich flüchtig sein mag. Mit der Beschleunigung der ökonomischen Entwicklung können nämlich die Änderungen der menschlichen Reaktions­weisen, die unmittelbar durch die Wirtschaft bedingt sind, d.h. die unmittelbar aus dem wirtschaftlichen Leben sich ergeben­den Gewohnheiten, Moden, moralischen und ästhetischen Vorstellungen so rasch wechseln, daß ihnen gar keine Zeit mehr bleibt, sich zu verfestigen und richtige Eigenschaften der Men­schen zu werden. Dann gewinnen die relativ ewigen Momente in der psychischen Struktur an Gewicht und entsprechend auch die allgemeine Psychologie an Erkenntniswert. . . Jetzt tendiert die Psychologie dazu, die wichtigste Quelle zu werden, aus der über die Seinsweise des Menschen etwas zu erfahren ist. Schon deshalb wird die Psyche in kritischen Momenten mehr als sonst zu einem ausschlaggebenden Moment, weil darüber, ob und in welchem Sinn die zur abgelaufenen Ge­schichtsperiode gehörende moralische Verfassung von den Mitgliedern der verschiedenen gesellschaftlichen Klassen be­wahrt oder verändert wird, nicht ohne weiteres selbst wieder ökonomische Faktoren entscheiden."(76)

Horkheimer geht hier bereits von der Rolle der ökonomi­schen Entwicklung auf die menschlichen Reaktionsweisen aus und will diese wiederum in den relativ ewigen Momenten der psychologischen Struktur des Menschen finden. Deshalb, so schlußfolgert er, werde die Psychologie zur wesentlichen Quelle, um über die „Seinsweise des Menschen" etwas zu er­fahren. Die „Erweiterung" des Marxismus besteht folglich darin, von der Analyse des konkreten praktischen Menschen, vom Menschen als Ensemble der gesellschaftlichen Verhält­nisse, weit hinter Marx und Engels zurückzugehen und die Frage nach dem ewigen menschlichen Wesen zu stellen. Die Forderung nach psychologischer Analyse von Bewußtseins­prozessen meint damit auch nicht eine praktische gesellschaft­liche Aufgabe, psychologische Faktoren gesellschaftlicher Be­wußtseinsbildung der Menschen in der Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens und im Klassen­kampf auf der Grundlage des gesellschaftlichen Seins zu untersuchen, sondern zielt auf eine mystische Konzeption hin. Die „kritische Theorie" will die Gesellschaftskritik von psychologischen Phänomenen des menschlichen Wesens ab­hängig machen, die ebenso wiederum der Maßstab der Lösung gesellschaftlicher Aufgaben — nämlich des Kampfes um den Sozialismus - sein'sollen. Robert Steigerwald weist zu Recht darauf hin, daß die Sozialismusutopien der „kritischen Theorie", wie sie bei H. Marcuse formuliert sind, nicht nut utopi­sche, sondern auch reaktionäre, romantizistische, mythologi­sche Züge tragen.(77) Gerade die Bezugnahme auf Freuds metapsychologische Theorie weist aus, daß die „kritische Theorie" den Ansatz zur Gesellschaftskritik festlegt, indem sie zunächst gesellschaftliche Fragen biologisiert, durch die Kon­zentration auf die Freudsche Lehre von der Triebstruktur des Menschen psychologisiert und anschließend mit Bezugnahme auf das menschliche Wesen gesellschaftliche Fragen individua­lisiert. Erst hier erfolgt ein Umschlag, der nun aus der psycho-logisierenden Sicht auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge zurückwirkt. In der Folge wird die gesellschaftliche Emanzipation als eine sozio-psychologische Emanzipation aus­gewiesen.(78)

Folgerichtig erklärt auch Habermas, die (menschliche) Gattung sei als Subjekt zu begreifen. Das Subjekt habe aber in der Geschichte die Aufgabe, das Interesse der Gattung an Mündigkeit bzw. Selbstreflexion zu befriedigen.

Habermas liegt mit Marcuse und seiner Vorstellung von der antiautoritären Gesellschaft gleich, wenn er logisch folgerichtig den Gegensatz von sozialistischer und bürgerlicher Ideo­logie durch den Widerspruch zwischen „emanzipatorischem Gattungsinteresse" und „technokratischem Bewußtsein" er­setzt.

Die Einbeziehung der Freudschen Psychoanalyse in die von anthropologisch-philosophischen Positionen ausgehende Ge­sellschaftstheorie der „kritischen Theorie" ist wiederum Revi­sion von Marx, indem die Erkenntnis vom Klassenkampf als Triebkraft der Geschichte durch die psychoanalytische Er­forschung der Bedürfnisstruktur des Menschen ersetzt wird. Daraus entsteht nun die enge Interessengemeinschaft zwischen dem Frankfurter S.-Freud-Institut für Psychoanalyse und Sozialpsychologie Alexander Mitscherlichs und den Vertretern der „kritischen Theorie". Mitscherlichs sozialpsychologische kulturphilosophischen Analysen haben direkten Bezug zur „kritischen Theorie", wie sich das in der — der Tendenz nach — einheitlichen Beurteilung widerspiegelt, die Marcuse und MitscherKch über die psychologischen Ursachen der Aggres­sion der Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft abgeben.(79)

Habermas hebt hervor, daß die Psychoanalyse als das ein­zige greifbare Beispiel einer methodische Selbstreflexion in Anspruch nehmenden Wissenschaft- bekannt sei.(80)

Die angestrebte Kombination von Marx und Freud hat das Ziel, den Klassenkampf als Triebkraft der Geschichte zu eliminieren und die Ursachen der sozialen Antagonismen nicht in ökonomischen, sondern in psychologischen Ur­sachen zu suchen. Das antagonistische Verhältnis von Kapital und Arbeiterklasse wird aufgelöst in den Gegensatz von Zivili­sation und Triebstruktur. Der Klassenkampf der Arbeiter­klasse und der mit ihr verbundenen Schichten soll nun in seinen Quellen vornehmlich aus psychoanalytischen Motivationen erklärt werden. Die konstatierte Entfremdung sei gerade in der Repression von Triebregungen zu untersuchen. Habermas erklärt, unter dem Zwang der äußeren Natur müsse die Funk­tion der Selbsterhaltung durch die kollektive Anstrengung der vergesellschafteten Individuen gesichert werden, die aber mit dem überschießenden Potential der inneren Kultur, den libidi-nösen und aggressiven Bedürfnissen der Menschen kollidiere. Gerade darin liegt der Grundkonflikt der bisherigen Ge­schichte. Herrschaft sei Repression von Triebregungen, die unabhängig von klassenspezifischer Verteilung der Güter und Leiden innerhalb des Systems der Selbsterhaltung auferlegt wird. Das wichtigste Instrument von Herrschaft bilde Ideo­logie, als das wie immer auch „zensierte nach außen gestülpte kollektive Unbewußte", „wo die ausgesperrten Symbole die von Kommunikation abgespaltenen, aber ruhelos umge­triebenen Motive auf Bahnen virtueller Befriedigung lenken".(81) Damit befindet sich die „kritische Theorie" auf den Positionen der bürgerlichen Schulsoziologie und geht am historischen Materialismus völlig vorbei. Marx deckt den universellen Zu­sammenhang von gesellschaftlichem Sein und gesellschaft­lichem Bewußtsein auf, indem er das gesellschaftliche Bewußt­sein aus der gesetzmäßigen Entwicklung des gesellschaftlichen Seins ableitet und den ideologischen Klassenkampf als Resultat des gesetzmäßigen Entwicklungsprozesses der gesellschaft­lichen Produktion beschreibt. Diese „Weiterentwicklung von Marx" macht „natürliche Triebregungen des menschlichen Wesens" zur Ursache der gesellschaftlichen Entwicklung und versperrt gerade damit den Zugang zum Verständnis des historischen Charakters der kapitalistischen Gesellschafts­formation. Aus den Gesetzen der gesellschaftlichen Entwick­lung werden hier unversehens Gesetze des menschlichen Indi­viduums, wobei gleichzeitig der Mensch als Naturwesen auf­gefaßt wird, aus dem alle konkreten historischen Entwick­lungsprozesse direkt abgeleitet werden sollen.

Bei Marcuse wird direkt die konstatierte Entfremdung aus Motivationen der Freudschen Metapsychologie erklärt. Die Argumentation Marcuses richtet sich, dabei Freud folgend, direkt gegen den Charakter der Arbeit, wie ihn Marx erklärt, als eine gesellschaftsgestaltende, den Menschen formende Kraft. Im Menschen wirke der Lebenstrieb (Eros) und der Todestrieb. Ersterer erstrebe Vereinigung aller lebenden Substanz zu immer größeren und dauerhafteren Einheiten, letzterer die Rückkehr zum schmerzlosen Zustand vor der Ge­burt. Beide Triebe stießen auf eine Umwelt, die für die un­mittelbare Befriedigung des Lebenstriebes zu arm und feind­selig sei und Triebmodifikationen durch Ablehnung und Hem­mung erfordere, in deren Ergebnis eine gehemmte, aufgescho­bene, ersetzte, aber nur dadurch relativ sichere und nützliche Triebbefriedigung liege. Es entstehe eine Triebdynamik als Kampf zwischen Eros, Todestrieb und Außenwelt. Diesen Grundkomplexen der Triebdynamik entsprächen die drei Grundprinzipien: Lustprinzip — Nirwanaprinzip — Realitäts­prinzip.

Nach Freud und Marcuse wird das psychische Leben zu einer Mischung des Lebens- und Todestriebes. Der Todestrieb würde jedoch in den Dienst des Lebenstriebes gezwungen, aber seine Energie werde nunmehr abgelenkt. Sie richte sich nicht mehr gegen den eigenen Organismus, sondern ent­falte sich als gesellschaftliche, nützliche Aggression gegen die Natur, die gesellschaftlich erlaubten Feinde, gestalte sich zum Gewissen, zur Moral, zum Über-Ich, das zur gesellschaftlichen Beherrschung der Triebe diene.

Daraus entsteht nun der zentrale Kulturbegriff. Das ur­sprünglich den Organismus beherrschende Lust-Prinzip, be­stimmt nach dem Freudschen Sexualitätsbegriff als Lustgewinn aus Körperzonen, kann sich in unserer arm- und feindseligen Umwelt nicht entfalten, unterliegt dem Triebverzicht. Die Sexualität werde vom gesamten Organismus weg auf die genitalen, der Fortpflanzung dienenden Körpcrparticn abge­lenkt, damit der übrige Organismus zur Arbeit frei werde.

Hier kann allerdings bemerkt werden, daß Marcuse ange­sichts der von dtr bürgerlichen Ideologie hervorgerufenen und gesteuerten Sexualitätswelle in den kapitalistischen Län­dern, die mit der Begründung notwendiger Überwindung von Triebfrustration verteidigt wird, registrieren muß, daß zu-chmende Sexualitätsbekundung durchaus nicht zur Triebbefreiung und Mündigkeit des Menschen führen muß, sondern extrem manipulierenden Charakter annimmt.

In der freudistischen Sicht Marcuses ist die Arbeit nun von Uit abgetrennt, sie ist durch Lebensnot Erzwungen, repressiv verwandelte Triebenergie, sie ist entfremdet, Mühsal, Qual, ie Furcht des Konflikts zwischen den nimmersatten Trieben und unserer armseligen Umwelt, sie erzeugt als solche die Kultur.

Das ins Realitätsprinzip verwandelte Lustprinzip ist Prinzip produktiver Entsagung („wir verloren das Paradies und müs­sen im Schweiße unseres Angesichts unser Brot verdienen", dieser Mythos biblischen Ursprungs liegt hier zugrunde).

Das Realitätsprinzip entfaltet alle Triebmodifikationen, Verzichte, Ablenkungen, die die Gesellschaft den Individuen auferlegen muß, um sie in gesellschaftlich verwendbare Ar­beitsinstrumente zu verwandeln. In diesem Sinne wird das Realitätsprinzip zum Prinzip des Fortschritts. Leistung wird entscheidend und entwickelt so gegen die Individuen repres­sive Energie, führt zur Entfremdung.

Der Kulturfortschritt wird ausgehend von der Wirkungs­weise des Realitätsprinzips als automatisch angesehen. Die zur Produktivität gewordene ursprüngliche Libido versage so den Individuen den vollen Genuß der von ihnen erzeugten Güter.

Diese mythologische Bestimmung des Arbeitsbegriffs in der „kritischen Theorie" führt weit hinter die Marxsche Be­stimmung des gesellschaftlichen Charakters der Arbeit zurück, weil sie bekanntlich das- Gesellschaftliche aufs Individuelle, dieses aufs.Biologische reduziert und dann sozialdarwinistisch die biologische Sphäre mit der Umwelt konfrontiert, während Marx in der Auseinandersetzung mit der klassischen bürger­lichen deutschen Philosophie vom Biologischen zum Gesell­schaftlichen aufsteigt und dabei den kontemplativen Materialismus Feuerbachs durch den dialektischen Materialismus überwindet.

Die Folge der hier genannten Konzeption besteht dann darin, die sozialistische Revolution von der Triebstruktur des Men­schen abhängig zu machen.

Dazu ist bei Marcuse aber noch eine zweite Konstruktion notwendig, in der er neben der konstruierten Entfremdung des Menschen einen psychologisierenden Freiheitsbegriff setzt. Triebunterdrückung entspringe nicht nut der Naturnotwendig­keit, sondern ebenso oder sogar primär einem Interesse nach Aufrechterhaltung despotischer Herrschaft. Sie reglementiere den repressiven Triebverzicht und führe zu wachsender Ent­fremdung. (Dieser Schritt, den Marcuse in scheinbare Nähe des Marxismus zu machen sucht, wird unbegründet formuliert und geht durchaus nicht logisch und folgerichtig aus dem bisher Gesagten hervor.)

Marcuse kommt in seiner psychoanalytischen Deutung zum Ziel, wenn er erklärt, die heute bestehende revolutionäre Situation finde ihre Ursachen darin, daß die im Zeichen des Leistungsprinzips erwirtschafteten produktiven Mittel quali­tativ und quantitativ ausreichten, um heute unsere Bedürfnisse ohne weiterhin erzwungene Opfer des Leistungsprinzips zu befriedigen.(82)

Marcuse gerät zu seiner, aus der „kritischen Theorie" abge­leiteten, einfachen Negation des Kapitalismus. Da die heutige technisch-produktive Möglichkeit die sich steigernde herr­schende Repression (Surplus-Repression) überflüssig mache, müsse Widerstand einsetzen und der Kampf um die totale Revolution geführt werden. Die Befreiung der Triebstruktur sei heute möglich. Daran schließt Marcuse Visionen über die „konkrete Sozialutopie", die anzustreben sei, wobei sich diese Visionen deutlich gegen die praktisch-produktive Tätigkeit der Menschen richten und er ein mythologisches Ideal der Entfaltung der Triebstruktur an die Stelle des Realitätsprinzips gesetzt wissen will, das sich leitbildhaft an Gestalten wie Narziß und Orpheus ausrichtet, was, wie Steigerwald richtig feststellt, deutlich eine Parteinahme gegen Prometheus und Faust bedeuten muß.(83)

Die Marcusesche und im Wesen der Sache auch die gesamte Theorie der „kritischen Theorie" reduziert also gesellschaft­liche, materialistisch bestimmbare Prozesse auf dem mensch­lichen Wesen eigene Triebstrukturen, aus denen wiederum der gesellschaftliche Gesamtprozeß, dabei immer formale An­leihen an die Kategorien des Marxismus machend (Surplus-Repression, Surplus-Profit), abgeleitet wird. Das Problem der gesellschaftlichen Freiheit und der revolutionäre Kampf zu seiner Verwirklichung wird hier deshalb in eine sinnliche, abstrakte Phrase verkehrt, die ihre Entsprechung im Menschen­bild der „kritischen Theorie" findet.

Wenn Freiheit (für das menschliche Wesen) in Gegensatz zum Produzieren gesetzt wird, so ist sie sowohl im histori­schen wie auch im logisch-theoretischen Sinne letzten Endes nicht möglich, und die hier vorgelegte Vision vom Menschen tritt automatisch aus dem lebendigen gesellschaftlichen Zu­sammenhang des praktischen Lebens heraus.

Die „kritische Theorie" sucht also die Überwindung der Repression durch Herrschaft in der Möglichkeit der Indivi­duen zur Selbstreflexion zu finden.

Erich Fromm definiert bereits 1931: Die sozialpsychologi­schen Erscheinungen sind aufzufassen als Prozesse der aktiven und der passiven Anpassung des Triebapparates an die sozial­ökonomische Situation . . . Die Sozialpsychologie hat die ge­meinsamen - sozial relevanten — seelischen Haltungen und Ideologien - und insbesondere deren unbewußte Wurzeln -aus der Einwirkung der ökonomischen Bedingungen auf die libidinösen Strebungen zu erklären.(84) Für Fromm enthält das System physischer Bedürfnisse des Menschen solche wie Glück, Liebe, Freiheit, wobei die unterschiedlichen histori­schen Epochen nur vom Stand der Realisierung und vom Charakter des Einflusses der jeweiligen sozialen Struktur auf diese Bedürfnisse aufzufassen sind. So erscheine der historische .Mensch nur als eine Modifikation des Wesens des Menschen, seine Normativität trage ahistorischen Charakter.(85)

Er schlußfolgert: Der historische Materialismus bedürfe einer Psychologie, d. h. einer Wissenschaft von den seelischen Eigenschaften des Menschen. Erst die Psychoanalyse habe eine Psychologie geliefert, die für den historischen Materialismus brauchbar sei.(86)

In der Absicht, Marx und Freud zu vermengen, diese neue Variante des Bestrebens, Marx mit Kant, Marx mit Rousseau, Marx mit Hegel zu kombinieren, wird ein neuer Typ des klein­bürgerlichen Bewußtseins sichtbar. Es ist der Typ des im staats­monopolistischen Kapitalismus in die Opposition gedrängten bürgerlichen Humanisten, der mit Hilfe formaler Anleihen im historischen Materialismus bestrebt ist, ohne Bindung an die Arbeiterklasse die Voraussetzungen des Humanismus in das menschliche Wesen selbst zu legen.

Wenn J. P. Sartre in einer  Stellungnahme die psychoanalyti-sche Interpretation des existentiellen Wesens des Menschen durch andere existentielle Motivationen ersetzt wissen will, so unterstreicht das gerade den Trend dieser Entwicklung, die sich in der Charakteristik des Menschenbildes äußert.(87)

Endnoten

75) M. Horkheimer, Geschichte und Psychologie, in: Zeitschrift für Sozialforschung, 1. Jahrgang 1932, S. 126/127

76)Ebenda, S. 143/144

77) R. Steigerwald, Herbert Marcuses dritter Weg, a. a. O., S. 247/248

78) Darauf verweist auch P. Baran in der kritischen Auseinandersetzung mit Marcuse: Unterdrückung und Fortschritt, Essay, Frankfurt/M. 1968, S. 75. Vgl. feiner: Steigerwald, R.: Herbert Marcuses dritter Weg, a. a. O., S.250f

79) Vgl. Aggression und Anpassung in der Industrieges3llschaft. Mit Bei­trägen von Herbert Marcuse, Anatol Rapoport, Klaus Horn, Alexander Mitscherlich, Dieter Senghaas und Mihailo Markovic, edition suhrkamp 282, Frankfurt/M. 1968. Hier wird die ideologisch bestimmte Aggressi­vität von Triebfrustrationen abhängig gemacht.

80) J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 1969, S. 9f.

81) Ebenda, S. 342

82) H. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1965,S. 93ff.

83) R. Steigerwald, Herbert Marcuses dritter Weg, a. a. O., S. 246
84) E. Fromm, Über Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie, in: Zeitschrift für Sozialforschung, 1. Jahrgang 1932, S. 54

85) Vgl. V. I. Dobren'kov, Koncepcija „celoveka" u Fromma. Vest. Mosk. Univ., Ser. filos, Moskva 23 (1968), 4., S. 81-90

86) E. Fromm, Über Methode und Aufgabe einer analytischen Sozial­psychologie, a. a. O., S. 46

87) Vgl. konkret-Exclusiv: Jean Paul Sartre: Marx ist besser als Freud, in: Konkret. Nr. 7. vom 26. 3.1970, S. 22-27, bes. S. 24/25

Editorische Hinweise

Rolf Bauermann und Hans-Joachim-Rötscher, Dialektik der Anpassung, Die Ausssöhnung der kritischen Theorie mit den imperialistischen Herrschaftsverhältnissen. Berlin 1974, S. 42-52