Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Repression wird zum zentralen Thema der sozialen Bewegung

10/2016

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Air France-Prozess: Warten auf das Urteil. Mobilisierung zum Berufungsverfahren gegen die Goodyear-Kollegen steht bevor. Kampagne zum zerschossenen Auge eines SUD-Gewerkschafters nach dem „Aktionstag“ vom 15. September 16

Artikel vom 30. September 16

Der Herr Staatsanwalt erhebt sich und spricht leise, quasi im Flüsterton. Die 100 bis 150 Menschen im gut gefüllten Gerichtssaal müssen die Ohren spitzen, um ihm zuzuhören. Der zwischen 50- und 60jährige grauhaarige Herr mit Brille, der heute die Anklagebehörde vertritt, wird seine Leisesprecherei auch sogleich begründen: Er wünsche nach den heftigen Debatten der letzten anderthalb Tagen und nach den Reaktionen im Saal – wo das Publikum ganz überwiegend auf Seiten der insgesamt 15 Angeklagten steht – nicht, den Lärm und Tumult fortzusetzen. Und er wünsche, Reaktionen der Anwesenden auf seine nun bevorstehende Anklageschrift vorzubeugen. Deswegen zwinge er die Leute auf diese Weise, ihre Stimmen ersterben zu lassen, um ihm zuzuhören. Dennoch hört man nach kurzer Zeit auf den Pressebänken im Saal deutlich diesen Kommentar einer Zuhörerin: Le président est totalement abruti. Das bedeutet so viel wie: „Der Vorsitzende Richter“ (ein Herr im selben Alter und Aussehen wie der Anklagevertreter) „ist total stumpfsinnig.“ Solches trug sich an diesem Mittwoch – 28. September – am frühen Nachmittag im Gerichtssaal von Bobigny bei Paris, strafrechtliche Kammer, zu.

In der nun folgenden Stunde wird der Vertreter der Staatsanwaltsanwaltschaft viel von „Rudel“ (meute), „Horde“ (une horde), „Schwarm“ (essaim) und Ähnlichem reden und andere Synonyme für eine als bedrohlich dargestellte, irrational erscheinende Menschenmenge benutzen. Um sodann zwei Anklagepunkte zu unterstreichen: „Sachbeschädigung“ und „gemeinschaftlich begangene Körperverletzung“. Es geht um jene Szene in den Vormittagsstunden des 05. Oktober 2015, deren Bilder um die Welt gingen – laut Aussage der beiden Manager des Unternehmens Air France, die damals unfreiwillig in der Hauptrolle standen, Pierre Plissononnier und Xavier Broseta (Leiter der Personalabteilung), wurden die Videos dazu im Internet „weltweit 1,7 Milliarden angeklickt“; Milliarden, nicht Millionen.

nlass für den Auflauf und wütenden Protest war die Sitzung des Comité central d’entreprise, ungefähre Entsprechung zu einem deutschen Gesamtbetriebsrat, beim Flugunternehmen Air France. Rund 3.000 Lohnabhängige hatten sich vor dem Tagungssaal versammelt und drangen schließlich in denselben ein. Die beiden hochrangigen Manager wurden dabei von einer wütenden Gruppe von Lohnabhängigen zur Rede gestellt, nachdem wenige Augenblicke zuvor 2.900 Entlassungen angekündigt worden waren. Nachdem sie sich eher diskussionsunwillig zeigten, kam es zu einem Handgemenge, in dessen Verlauf sie ihre Jacke verloren und auch ihre Hemden zerrissen. Zu guter Letzt entflohen sie, indem über einen Gitterzaun sitzen. Das Ganze trug sich am Hauptsitz des Unternehmens Air France am Pariser Flughafen Roissy-Charles de Gaulle zu. (Vgl. dazu: Air France: Fliegen ohne Flugzeug)

Elf abhängig Beschäftigte, viele von ihnen CGT-Mitglieder, werden wegen des Eindrückens des Außenzauns – das ihnen den Zutritt zum Sitzungssaal ermöglichte – verfolgt. Ihnen droht, folgt das Gericht der Strafforderung der Staatsanwaltschaft, eine Geldstrafe in Höhe von 1.000 Euro. Fünf weitere werden wegen „gemeinschaftlich begangener körperlicher Gewalt“ (gegen das Hemd) angeklagt. Für diese fünf fordert die Staatsanwaltschaft zwischen zwei und vier Monate Haftstrafe auf Bewährung. Das Urteil wird, nach den beiden Tagen Anhörung vom 27. und 28. September (Dienstag und Mittwoch dieser Woche), jetzt für den 30. November dieses Jahres erwartet.

Am ersten Prozesstag hatten mehrere hundert Menschen draußen vor den Toren protestiert. Am zweiten Prozesstag fand nichts dergleichen statt, doch drinnen hatten Linke und Gewerkschafter/innen – überwiegend von der Basis der CGT – aus Solidarität für die Angeklagten mobilisiert und den Verhandlungssaal gefüllt. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft zeigte sich ziemlich eifrig und erklärte beim Verlesen seiner Anklageschrift, seines Erachtens „könnten hier noch wesentlich mehr Angeklagte stehen“, und auch die Nebenkläger – die seine Anklage unterstützen – könnten wesentlich zahlreicher sein. Hingegen unterstrich Anklagevertreter Philippe Bourion zugleich, manche der Angeklagten hätten zugleich die Menge aufgestachelt, aber auch mäßigend eingegriffen, um zu weit gehende Übergriffe auf die beiden gebeutelten Manager zu „verhindern“. Was ihn nicht daran hinderte, ihre gesamte Aktion einer strafrechtlichen Würdigung zu unterziehen, obwohl die Anklageschrift selbst sie als eine „gewerkschaftliche Handlung“ einstuft. Dabei ließ der Anklagevertreter doch auch von sich hören: „Wenn 2.900 Entlassungen angekündigt werden, dann erwartet man nicht, dass dies mit Blumen begrüßt wird.“ Immerhin, immerhin, möchte man ihm zuraunen...

Den beiden Managern, deren Klamotten an jenem 05. Oktober 2015 in Mitleidenschaft gezogen wurden, Plissonnier und Broseta, ihrerseits wird man vielleicht zu gute halten müssen, dass sie zu keinem Zeitpunkt ihrer Schilderung individuelle Angeklagte identifizierten oder namentlich denunzierten.

Die Qualitätspresse machte daraus zum Teil eine sketchförmige Berichterstattung, wie die linksliberale Pariser Abendzeitung Le Monde. Diese schrieb daraufhin glatt, die beiden Manager hätten „den einzigen Moment von Würde“ in diesem Prozess geboten. (Sic) Um noch hinzuzufügen: „Auf das Bild einer hasserfüllten Menge folgte das willkommene Bild zweier Männer, aufrecht und ohne Rachebedürfnis.“ (Papierausgabe vom Mittwoch Abend, Seite 16; vgl. auch http://www.lemonde.fr/police-justice/article/2016/09/28/chemise-arrachee-d-air-france-le-proces-d-une-transe-collective_5004488_1653578.html ) So sieht derzeit linksbürgerliche Qualitätspresse aus. Bemerkenswert ist übrigens auch, dass die Abendzeitung, die am Mittwoch um 14 Uhr in Paris an die Kioske geliefert wurde, bereits die genaue Strafforderung der Staatsanwaltschaft kannte, während um dieselbe Uhrzeit im Gerichtssaal erst die Verlesung der Anklageschrift anfing.

Weiterer Kontext und: Wie weiter mit der sozialen Protestbewegung?

Nachdem die soziale Bewegung gegen das „Arbeitsgesetz“, die seit dem März dieses Jahres andauerte, in den letzten Tagen nun merklich auslief - die intersyndicale (der gemeinsame Ausschuss mehrerer Gewerkschaftsverbände) schaffte es nach dem „Aktionstag“ vom 15.09. d.J. nicht, sich auf einen neuen Mobilisierungstermin zu einigen -, rückt die Bekämpfung von polizeilicher, justizieller und antigewerkschaftlicher Repression (letztere in den Unternehmen) jetzt in den Mittelpunkt der Aktiven.

Das nächste wichtigste Mobilisierungsdatum in diesem Zusammenhang wird der, in Amiens (Regionalhauptstadt der Picardie) stattfindend Berufungsprozess gegen acht CGT-Gewerkschafter beim Reifenhersteller Goodyear sein. Diese hatten sich gegen die Schließung des Werks in Amiens widersetzt und wurden - unter „Gewalt“- und „Freiheitsberaubungs“vorwürfen infolge der vorübergehenden Festsetzung zweier Führungskräfte - im Januar dieses Jahres zu Haftstrafen bis zu neun Monaten ohne Bewährung (!) sowie Gesamtstrafen von 24 Monaten Dauer verurteilt. (Vgl. bspw. http://france3-regions.francetvinfo.fr/picardie)

Das Berufungsverfahren gegen die „Acht von Goodyear“, deren Werk inzwischen dicht gemacht wurde, findet nun am 19. und 20. Oktober dieses Jahres in Amiens statt. Dazu wird inzwischen mit zahlreichen Bussen zur Anfahrt dorthin mobilisiert. Aus Kreisen der CGT, aber nicht durch die Spitze des Dachverbands, wird auch zu Streiks und Arbeitsniederlegungen an diesem Datum (am ersten Verhandlungstag, also am Mittwoch, den 19. Oktober) aufgerufen. Dabei sollen neben den Angeklagten von Amiens auch alle weiteren Vorfälle von Repression gegen Aktivist/inn/en sozialer Bewegung in die Mobilisierung mit einbezogen werden.

Am gestrigen Donnerstag, den 29.09.16 fand im Pariser Gewerkschaftshaus, zum dritten Mal hintereinander seit dem gewerkschaftlichen „Aktionstag“ vom 15. September d.J. gegen das „Arbeitsgesetz“ (dem bislang letzten seiner Art), eine Vollversammlung der kämpferischen Sektoren oder AG des luttes statt. Daran nahmen dieses Mal nur rund einhundert Personen teil – gegenüber rund 300 beim Termin zwei Wochen zuvor -, nachdem es in Vorwoche unerquicklichen Streit gegeben hatte. Dabei schälte sich die Mobilisierung für den 19. Oktober in Amiens als derzeit zentrales Aktionsdatum heraus.

Ansonsten konnte man keine Einigung treffen. Während einige Sektoren weiterhin gegen das „Arbeitsgesetz“ mobilisieren wollen – dessen Ausführungsdekrete müssen nun verabschiedet werden, vor allem jedoch müssen für seine konkrete Anwendung nun Kollektivvereinbarungen in den einzelnen Unternehmen ausgehandelt werden -, haben sich die „superradikalen“ Kräfte rund um das autonome Kollektiv MILI („schulübergreifende unabhängige Bewegung“; es handelte es sich beim 2013 entstandenen MILI ursprünglich um ein Kollektiv von Oberschüler/inne/n) - davon inzwischen verabschiedet. Diese Jugendvereinigung, die dem möchtegern-verbalradikalen Salonrevoluzzer Julien Coupat nahe steht, erklärt diese Mobilisierung nunmehr für beerdigt. Stattdessen will sie darauf mobilisieren, die französischen Präsidentschaftswahlen 2017 „zu stören und zu be-/verhindern“ – was, mit Verlaub, kein sonderlich realistisches Ziel darstellt, vor allem jedoch den Fokus vom sozialen Terrain hin zur Wahlfrage lenkt. Eine Einigung konnte deshalb nicht getroffen werden.

Zu den jüngsten Repressionserfahrungen der sozialen Protestbewegung in Frankreich zählt auch die Pariser Demonstration vom 15. September d.J. (vgl. oben) mitsamt ihrem Nachspiel. Auf der Pariser place de la République wurde einem SUD-Gewerkschafter aus dem Gesundheitswesen, Laurent Theron, an jenem Nachmittag ein Auge zerstört. Es wurde mutmaßlich durch ein polizeiliches Granatengeschoss zerstört. (Vgl. u.a. http://www.huffingtonpost.fr und http://www.lefigaro.fr und  http://www.lemonde.fr) Das Opfer hat deswegen Strafanzeige erstattet, ein Verfahren der Dienstaufsichtsbehörde IGPN läuft. Die Union syndicale Solidaires – der Zusammenschluss linker Basisgewerkschaften, zu welchem die Gewerkschaft SUD im Gesundheitswesen (SUD Santé) gehört – hielt in der darauffolgenden Woche eine Pressekonferenz in ihren Räumlichkeiten dazu ab und will in dieser Sache nicht locker lassen.

 

Editorischer Hinweis

Den Artikel erhielten wir von Autor für diese Ausgabe.