Artikel
vom 19. September 16
Sieger sehen normalerweise anders drein. Der frühere
britische Premierminister David Cameron – er
stolperte vor einem knappen Vierteljahr über sein
Taktieren mit dem Referendum, das zum Brexit-Votum
führte – wird im Moment wahrscheinlich eher ungerne
an Libyen erinnert. Ähnliches dürfte für Nicolas
Sarkozy gelten, den 2012 abgewählten französischen
Präsidenten, dessen Kandidatur zur
Präsidentschaftswahl im kommenden April als
wahrscheinliche Hypothese gehandelt wird. Auch er
dürfte im Augenblick keinen größeren Bedarf
verspüren, die Lage in dem nordafrikanischen Land zu
erörtern.
Es
ist noch nicht so lange her, da hätte dies reichlich
anders ausgesehen. Vor ziemlich genau fünf Jahren, am
15. September 2011, ließen beide Männer – die damals
beide die jeweils höchsten Regierungsämter ihres
Landes ausübten – sich in Benghazi feiern und
beklatschen. Drei Wochen zuvor war die Macht des
Regimes von Muammar Al-Qadhafi (eingedeutscht
Gaddafi), seit 42 Jahren an der Macht, über
die Hauptstadt Tripolis gefallen. Gaddafi war zu dem
Zeitpunkt noch am Leben, herrschte aber nur noch über
einen kleinen Teil des Landes. Er würde fünf Wochen
später in der Nähe seiner Geburtsstadt Sirte von
Rebellen aufgespürt und getötet werden.
Und
nun dies: Am vergangenen Mittwoch, den 14.
September 16 legte ein Ausschuss des
britischen Parlaments, der mehrheitlich aus
Abgeordneten der Konservativen besteht – also jener
Partei, welcher auch David Camerons angehört und die
unter anderem in Fragen der Europapolitik notorisch
gespalten ist -, einen Untersuchungsbericht vor.
Darin wird Cameron eine Schlüsselrolle bei der
Entscheidung, ab März 2011 militärisch in Libyen zu
intervenieren, zugeschrieben. Aber nicht, um ihn zu
feiern, sondern um die Entscheidung und ihre Folgen
als desaströs zu beschreiben.
Libyen sei fünf Jahre danach zu einem failed
state geworden, schreiben die Abgeordneten.
Seinerzeit habe man das Gewicht
radikal-islamistischer Fraktionen innerhalb der
Rebellion gegen das Gaddafi-Regime verkannt und
unterschätzt. Unterdessen habe man sich auf
„irrtümliche Annahmen und ein ungenügendes
Verständnis des Landes und seiner Situation“
gestützt. So resümiert der Ausschussvorsitzende
Crispin Blunt: „Die Aktionen des
Vereinigten Königreichs in Libyen waren Teil einer
Intervention, die schlecht vorbereitet war und deren
Ergebnisse wir noch heute verspüren.“
Die
Ausschussmitglieder gehen ferner auch davon aus, man
habe zu Beginn der Intervention die Bedrohung für die
Zivilbevölkerung in Benghazi überzeichnet und Chancen
für eine britische Vermittlerrolle zwischen dem
Regime und seinen Gegnern nicht wahrgenommen. Gaddafi
hatte damals eine Offensive gegen die ostlibysche
Großstadt begonnen und zugleich seine Widersacher und
Opponenten als „Ratten“ bezeichnet, denen der Garaus
zu machen sei. Die Ausschussmitglieder sind jedoch
der Auffassung, man habe die Rhetorik des damaligen
libyschen Staatschefs zu sehr für bare Münzen
genommen.
„Wir
haben uns vom französischen Enthusiasmus mit
hineinziehen lassen“: Mit diesen Worten
zitiert die konservative Pariser Tageszeitung Le
Figaro einen britischen Parlamentarier. Unter
Berufung auf Sidney Blumenthal, einen Berater von
US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton,
vermuten die britischen Abgeordneten fünf Gründe für
die Entscheidung Nicolas Sarkozys zur Intervention,
von der man sich habe in London beeinflussen lassen,
während Angela Merkel zur selben Zeit abwinkte.
Sarkozy habe seine persönlichen Wahlchancen in
Frankreich erhöhen, Frankreichs Einfluss in
Nordafrika steigern und die Rolle seiner Armee
ausbauen, einen Widersacher im Ringen um Hegemonie in
Afrika – Gaddafi – ausschalten sowie Anteile an der
libyschen Ölindustrie nehmen mögen.
An
all dem mag etwas Wahres dran sein – dem
französischen Konzern TOTAL wurden nach der
Intervention 35 Prozent der Anteile am libyschen
Rohöl zugesagt -, doch erschöpfen die genannten
Gründe das Thema der Interventionsgründe nicht.
Entscheidend war bei Nicolas Sarkozy sicherlich auch
die Motivation, das Ausmaß seiner eigenen
Komplizenschaft mit der libyschen Diktatur, die noch
nicht lange zurücklag, vergessen zu machen. Im
Elysée-Palast herrschte damals die Angst vor, im
Kontext des so genannten Arabischen Frühlings könnte
die libysche Diktatur auch ohne französisches Zutun
stürzen, und diese Beihilfe könnte dann mit Hilfe von
Dokumenten der Weltöffentlichkeit enthüllt werden.
Die französische Firma Qosmos hatte Gaddafi die
Technologie für die massenhafte Überwachung des
Internets geliefert, und Sarkozy hatte im Juli 2007
einen Nuklear- und Rüstungsdeal mit Gaddafi in
Tripolis unterzeichnet. Die Freilassung von in
libyscher Haft sitzenden bulgarischen
Krankenschwestern, bei der die damalige
Präsidentengattin Cécilia Sarkozy vordergründig eine
wichtige Verhandlungsrolle spielte, während hinter
den Kulissen vor allem Qatar viel Geld dafür bezahlt
hatte, lieferte den offiziellen Vorwand für den
Empfang.
In diesem Bereich
dürften auch die Gründe liegen, warum Sarkozy und
seine Umgebung heute eher ungern den Ländernamen
Libyens hören. Seit einem Jahr läuft gegen Sarkozys
Ex-Berater und früheren Innenminister in den Jahren
2011/12, Claude Guéant, ein strafrechtliches
Ermittlungsverfahren, er unterliegt eingeschränkter
Bewegungsfreiheit. Der Grund: Es wird vermutet, im
Frühjahr 2007 habe er eine Schlüsselrolle für die
Beschaffung libyscher Finanzmittel im Wahlkampf
Nicolas Sarkozys gespielt. Damals waren die
Beziehungen eines Teils der französischen
Konservativen zum libyschen Regime ungetrübt. Vier
Jahre später rissen sie das Ruder herum, nachdem
andere mit Frankreich befreundete Regimes – wie in
Tunis – bereits gestürzt waren und Gaddafi vielleicht
nicht mehr zu halten schien. Nun musste man mit den
Wölfen heulen, nur lauter, also sich als potente
militärische Unterstützer eines Umsturzes
profilieren, um sich an die Spitze der Bewegung zu
setzen.
Heute ist die innenpolitische Situation in Libyen
relativiert unkontrolliert. Rund 200 Milizen, die zum
Großteil aus der Rebellion gegen das Gaddafi-Regime
hervorgehen, halten jeweils einen Zipfel der Macht
und wachen eifersüchtig darüber, dass sie ihre Waffen
behalten können. Diese Situation ist nicht nur in
Frucht der Intervention und der bewaffneten
Rebellion, sondern hängt auch mit dem Zustand
zusammen, in dem das alte Regime Libyen hinterließ.
Gaddafi, der alle politischen Parteien verbot,
stützte sich in seiner Herrschaftsausübung auf
reaktivierte tribale Strukturen, die im ganzen Land
Spaltungslinien hinterließen.
Seit den
Parlamentswahlen vom Juni 2014 stehen sich zwei
rivalisierende Regierungen und Parlamente gegenüber,
wobei die Machthaber in Tripolis den Westen Libyens
beherrschen und ein Gegenparlament in Tobrouk eine
Gegenregierung stützt. Unter Vermittlung des
deutschen UN-Chefunterhändlers Martin Kobler wurden
im vergangenen Winter im marokkanischen Skhirat
Verhandlungen abgeschlossen, die eine „Nationale
Einheitsregierung“ (GNA) herbeiführen sollten. Eine
als solche bezeichnete, dritte Regierung wurde unter
Faiez Sarraj gebildet. Ihr Chef reiste Ende März 2016
in Libyen ein. Anfang April d.J. unterstellten sich
ihr auch die libysche Nationalbank sowie die
Erdölgesellschaft NOC. Dennoch konnte sie sich
bislang nicht als Inhaberin eines realen
Gewaltmonopols im Land durchsetzen.
Am Sonntag begann eine
Gegenoffensive der loyal zur GNA stehenden
Streitkräfte, um den so genannten „Erdöl-Haldmond“
oder „Erdölbogen“ wieder einzunehmen. Er liegt
zwischen den Städten Zweitina, Brega, Ras Lanouf –
von wo aus die Öltanker auf dem Mittelmeer ablegen –
und As-Sidra. In der Vorwoche hatte der Militärchef
der ostlibyschen Regierung von Tobrouk, der General
Haftar, die Kontrolle über diese ökonomische
Schlüsselregion des Landes übernommen. Seitdem wird
der alternde General, den viele bis dahin für
militärisch eher unberechenbar und einen Aufschneider
hielten, auf internationaler Ebene sehr viel ernster
genommen.
Der
73jährige war früher einmal ein Gaddafi-Vertrauter,
wurde jedoch von dem damaligen Diktator während der
libyschen Tschad-Intervention in den achtziger Jahren
vor Ort im Stich gelassen. Daraufhin wechselte Haftar
ins „Dissidentenlager“ und wurde zunächst durch die
USA zum Opponenten aufgebaut – er siedelte sich in
wenigen Kilometern Entfernung vom CIA-Hauptquartier
in Virginia an -, bevor Washington sich 2003 infolge
von Gaddafis Erklärung zum ABC-Waffen-Verzicht
deutlich an dessen Regime annäherte. Heute stehen vor
allem Ägyptens aus der Armee kommender Präsident
Abdelfattah Al-Sissi, die Vereinigten Arabischen
Emirate, aber mit einigen Abstrichen auch Wladimir
Putin hinter ihm. Die US-amerikanische und britische
Regierung vertrauen ihm weniger, ließen ihm jedoch
bei seinem Kampf gegen islamistische Milizen, die ab
2012/13 vorübergehend Teile von Benghazi
kontrollierten, einige Unterstützung zukommen. Auch
Frankreich spielt ein ausgeprägtes Doppelspiel
zwischen seiner Unterstützung für die GNA einerseits,
und militärischer Hilfe für Haftar auf der anderen
Seite.
Diese Kämpfe zwischen GNA- und Haftar-Truppen ließen
rund 14 Tage lang auch die Offensive gegen die
Jihadisten des „Islamischen Staates“ (IS), die sich
seit anderthalb Jahren in Sirte festgesetzt hatten,
in den Hintergrund treten. In der rund 75.000
Einwohner/innen zählenden Stadt kontrolliert der IS
nur noch einige Straßenzüge, liefert aber erbitterte
Abwehrgefechte gegen die Erstürmung der letzten Reste
seiner Hochburg. Am Sonntag, den 18. September 16
nahmen jedoch GNA-Einheiten die Offensive wieder auf
und nahmen ein Lazarett der Jihadisten sowie eine
Werkstatt für Autobomben ein. Italien will 200
Fallschirmjäger zur Unterstützung entsenden.
Editorischer Hinweis
Den
Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe. |