Fragment
Über Methodenfragen einer marxistischen Literatur-Analyse

von
Walter Benjamin

10/2018

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Die Scheidung des Wahren vom Falschen ist für die kritische Methode nicht der Ausgangspunkt sondern das Ziel. Das heißt mit andern Worten, daß sie bei dem vom Irrtum, von der durchsetzten Ge­genstand ihren Ansatz nimmt. Die Scheidungen, mit denen sie ein­setzt - eine scheidende ist sie von Anfang an - sind Scheidung innerhalb dieses höchst gemischten Gegenstands selbst und den kann sie garnicht gemischt, garnicht unkritisch genug vergegenwärtigen. Sie würde ihre Chancen mit einem Anspruch, die Sache wie sie »in Wahrheit« ist, anzutreten, nur sehr vermindern; und sie vermehrt sie erheblich, wenn sie denselben in ihrem Verfolg mehr und mehr fallen läßt und sich so auf die Einsicht vorbereitet, daß die »Sache an sich« nicht »in Wahrheit« ist.

Der »Sache an sich« nachzugehen, ist allerdings einladend. Sie bietet sich - im Fall eines Baudelaire - üppig dar. Die Quellen fließen nach Herzenslust, und wo sie sich zum Strome der Überlieferung vereini­gen, da tun sich schön tracierte Böschungen auf zwischen denen er so weit das Auge reicht, voll dahinströmt. Die kritische Theorie verliert sich an dieses Schauspiel nicht. Sie sucht nicht das Bild der Wolken in diesem Strom. Aber noch weniger kehrt sie sich von ihm ab, um »am Quell zu trinken«, der »Sache selbst« hinterm Rücken der Menschen nachzugehen. Wessen Mühlen treibt dieser Strom? wer fischt in ihm? — so fragt die kritische Theorie und verändert das Bild der Landschaft, indem sie nicht nur die physischen sondern auch die gesellschaftlichen Kräfte beim Namen nennt, welche in ihr am Werke sind. Endlich kann sie nicht nur ihr Bild sondern auch diese selbst verändern, in­dem sie, wenn auch auf lange Sicht, das Gefälle des Stroms für die verwertet, die seiner bisher noch nicht einmal ansichtig werden konn­ten.

Es ist eine vulgärmarxistische Illusion, die gesellschaftliche Funktion eines sei es geistigen, sei es materiellen Produkts unter Absehung von den Umständen und den Trägern seiner Überlieferung bestimmen zu können. »Als ein Inbegriff von Gebilden, die unabhängig, wenn nicht von dem Produktionsprozeß, in dem sie entstanden, so doch von dem, in welchem sie überdauern, betrachtet werden, trägt der Begriff der Kultur . . . einen fetischistischen Zug.« Die Uberlieferung der baude-laireschen Dichtung ist noch sehr kurz. Aber sie trägt schon historische Einkerbungen, die ihre Verwertung ermöglichen. Ein Bild von Baudelaire liegt hiermit vor, und zwar ist es das über­lieferte. Die Uberlieferung der bürgerlichen Gesellschaft läßt sich mit einer Kamera vergleichen. Der bürgerliche Gelehrte schaut hinein wie der Laie tut, der sich an den bunten Bildern im Sucher freut. Der materialistische Dialektiker operiert mit ihr. Seine Sache ist, festzu­stellen. Er mag einen größeren oder kleineren Ausschnitt aufsuchen, eine grellere politische oder eine gedämpftere geschichtliche Belichtung wählen - am Ende läßt er den Schnappverschluß spielen und drückt er ab. Hat er die Platte einmal davongetragen - das Bild der Sache, wie sie in die gesellschaftliche Uberlieferung einging - so tritt der Begriff in seine Rechte und er entwickelt es. Denn die Platte kann nur ein Negativ bieten. Sie entstammt einer Apparatur, die für Licht Schat­ten, für Schatten Licht setzt. Dem dergestalt erzielten Bild stünde nichts schlechter an als Endgültigkeit für sich zu beanspruchen. Seine Lebendigkeit ist eine scheinbare, und sein Wert beruht ganz gewiß nicht auf ihr. Unscheinbar, aber echt, ist aber der Konflikt, in dem in einem bestimmten Fall die gesellschaftlichen Interessen der Uberliefe­rung mit dem Gegenstande liegen, der überliefert wird. Der Wert des erzielten Bildes beruht vielmehr darauf, den Dargestellten als Zeu­gen gegen die Uberlieferung aufzubieten, die sein Bild auf die Platte rief (umgekehrt wie auf den Daguerreotypien das Aufnahmeverfah­ren zum Zeugen gegen die geschichtliche Epoche wird, deren Züge der Portraitierte zur Schau trägt).

Das scheint ein kompliziertes Verfahren zu sein; es ist eines. Sollte es kein »unmittelbareres« geben? das zugleich ein entschlosseneres wäre. Was spricht dagegen, das Objekt der Untersuchung, den Dichter Baudelaire kurzerhand mit der heutigen Gesellschaft zu konfrontie­ren, und die Frage, was er denn ihren fortgeschrittenen Caders zu sagen habe, an der Hand einer Bestandaufnahme seines ceuvres zu beantwor­ten; ohne, wohlgemerkt, die Frage zu übergehen, ob er ihnen überhaupt etwas zu sagen habe? In der Tat spricht gegen diese unkritische Frage­stellung etwas Gewichtiges. Es spricht dagegen der Umstand, daß wir in der Lektüre von Baudelaire eben durch die bürgerliche Gesellschaft sind unterwiesen worden und zwar schon seit recht langem nicht eben von ihren fortgeschrittensten Elementen. Das Mißtrauen gegen diese Unterweisung stellt eben darum die beste Chance für die Lektüre im Baudelaire dar. Der zweite Teil hat es mit der Auswertung dieses Mißtrauens zu tun.

Die unberechenbaren Folgen des resoluten Vorgehens sind auch sonst eher abschreckend. Es hat wenig Wert, die Position eines Baudelaire in das Netz der vorgeschobensten Befestigungen im Befreiungskampfe der Menschheit einbeziehen zu wollen. Es erscheint von vornherein sehr viel chancenreicher, seinen Machenschaften dort nachzugehen, wo er ohne Frage zu Hause ist: im gegnerischen Lager. Dem schlagen sie nur in den seltensten Fällen zum Segen aus. Baudelaire war ein Geheimagent. Ein Agent der geheimen Unzufriedenheit seiner Klasse mit ihrer eignen Herrschaft. Wer ihn mit dieser Klasse konfrontiert, der holt mehr heraus als wer ihn vom proletarischen Standpunkt aus als uninteressant abtut.

Quelle: Hans Magnus Enzensberger (HRG), Kursbuch 20, Ffm 1968, 1-3