Vor 70 Jahren
Gründung der DDR

10/2019

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"Streik" - Erinnerungen an Fabrikarbeit
in der DDR der 1980er Jahre

Der Wecker scheppert. Ich atme durch, die kühle Luft schmerzt in der Kehle. Der Geschmack im Mund ist widerlich.
Draußen der Lärm vom Schichtverkehr. Also nicht verschlafen. Ich quäle mich hoch, gehe zum Fenster. Auf der Straße die Busse. Fahrradfahrer in dichten Pulks. Die Luft riecht heute bitterscharf mit einem Hauch Desinfizierer. Daher das Mundgefühl. Wer weiß, was sie über Nacht abgeblasen haben. Auf dem Tisch steht noch eine Handbreit Wodka. Ich setze die Flasche an. Das leichte Brennen im Hals schmeckt fast wie Geborgenheit. Auf alle Fälle besser als das, was zuvor mein Mund aushauchte.
Neben der Flasche noch ein Kanten vom frischen Vollkornbrot und Knoblauch. Frühstück. Ich beiße von beidem ab und ziehe mich an. Wir wollens mal nicht übertreiben. Immer abwechselnd, Brot, Flasche, Knoblauch.
Das Zimmer ist noch im Dämmerlicht der Straßenlaternen. Zwei Stühle, ein Schrank, ein Tisch, ein Bett. Also sehr überschaubar und kein Grund, mehr Licht anzumachen. Draußen schiebt sich ein flacher Nebel aus der Aue Richtung Verbindungsstraße, auf der der Verkehr langsam abebbt. Also bei Dreiviertel 6. Halb Sieben ist mein Schichtbeginn. Werde ich wohl überpünktlich sein. Und es wird Sprüche geben, was ich so zeitig da sei…

Die paar Hundert Meter bis zum Werkstor schlendere ich fast. Genieße es, Zeit zu haben, nicht hetzen zu müssen. Das kommt wahrlich nicht oft vor. So bleibt sogar Zeit für einen Blick auf die Vorüberradelnden. Sehe aber kein bekanntes Gesicht, was mich nicht verwundert. Die meisten aus meiner Brigade kommen durch andere Betriebstore.
An der nächsten Straßenecke kommt mir ein anderer Geruch entgegen. Irgendwas mit Sauerkraut. Senfgeruch? Könnte Dienstag sein. Also erwartet mich ein interessanter Feierabend. Da probt der Blues im HdJ. Fein. Muss ich morgen wohl wieder abbummeln.
Überstunden habe ich eh genug. Ziehe mir alles rein, was ich kriegen kann. So muss ich auf keine Party oder Band verzichten. Die Brigade mag mich drum. Ansonsten bin ich da wohl eher eine Merkwürdigkeit. Nicht, daß ich was gegen die Arbeit hätte. Die macht Spaß, die Brigade ist o.k. Aber wir arbeiten im Schnitt nur Dreidreiviertel Stunden am Tag. Der Rest wird irgend rumgebracht. Dazu ist mir meine Lebenszeit eigentlich zu schade. Abtauchen und Lesen ist auch nicht immer möglich.
Es könnte ja auch mal unverhofft Arbeit reinkommen. Und dann müssten die anderen meinen Teil mitmachen. Unschön.

An der Stechuhr ist keine Schlange. Der superpünktliche Herr Jungfacharbeiter stanzt sich seine erste 6:22 auf die Karte.
Stechuhren verband ich immer mit Kapitalismus. Seit ich hier arbeite, sind sie ein Sinnbild für Großbetriebe. Große Pulks grauer Wesen, die es zum Tagwerk zieht. Ewiges, unpersönliches Hamsterrad. Spuren von Mordor.
Die Umkleide ist eine hohe düstere Halle mit Reihen von Spinden. Daß ich meinen trotzdem immer leicht finde, liegt nicht an der spärlichen Beleuchtung und auch an keiner großen Besonderheit. Ist aber so. Die meisten leisten sich den Luxus eines zweiten Spindes. Denn abgesehen, daß alles irgendwie nach Kakerlakentod riecht, nimmt das Innere des Spindes schnell den Geruch nach glühendem Metall und Öl an und nach der Asche, die im ganzen Kraftwerk tanzt. Mal mehr mal weniger große Teilchen aber immer präsent. Alles bedeckt sie in Rieselhöhe. Die kleinste Erschütterung wirbelt alles auf. Also vorsichtig Treppen steigen. Nirgendwo anstoßen. Sonst hebt sich eine Wolke, die sich je nach auf- oder absteigender Luft hoch oder runter bewegt.
Da die Etagen nur durch Lichtgitterroste getrennt sind, war dies auch ein beliebter Streich gegenüber unliebsamen Personen.
Die Lichtgitterroste hatten auch den Effekt, daß sie aus den Augenwinkeln im rechten Winkel nicht wahrgenommen wurden. Dadurch entstand manchmal der schwindelerregende Effekt, ins Leere zu treten. Dem ließ sich durch den alkoholbedingten Tunnelblick entgegenwirken.

Schleicher ist schon da und drückt mir statt der Hand ein Schnapsglas in selbige. Daß der Doktor Geburtstag habe, flüstert er mir zu. Also gehe ich die Schritte auf ihn zu und proste. Er erhebt sich von seiner Bank und dankt mit etwas glasigen Augen. Die zwei kommen immer mit dem Schichtbus, weil aus ihrer Richtung keine Normalschicht angefahren wird. So sind sie jeden Tag die ersten. Und heute war das dreiviertelstündige Warten ja offensichtlich sinnerfüllt.
Werden wir wohl den Großteil der fälligen Brennerwartung erst in den nächsten beiden Tagen machen. Das gibt wieder Gemecker von den Kesselfahrern, die eigentlich auf keinen Gasbrenner verzichten können, weil die Kohle viel zu nass und schweflig ist. Und keiner hat gerne Streit mit den Kesselfahrerern. Sind paar gute Frauen bei und meist recht umgängliche Leute. Also beste Vorraussetzungen für einen Schwatz und keine Anschissgefahr.
Aber so eine Sause muss gefeiert werden, das ist ja auch mal klar. Kurz vor halb kommt der Hilfsmeister zum Schauen vorbei und verleiert nur die Augen, als er Doktor grienen sieht. Dann traben alle langsam an und ich kassiere lediglich hochgezogene Augenbrauen, da die Hauptattraktion ja der 60. vom Doktor ist. Damit also bald in die Rente gerettet.

Feffe kommt übertrieben aufrecht in die Werkstatt gehastet, vorbeugend hebt er die Arme, um die Empörung abzuwiegeln. Er war grad noch auf einen Schwatz beim BGLer und der habe etwas von überraschender Inspektion geschwafelt und es läge irgendwas in der Luft. Freilich setzte sofort ein großes Hallo ein und die nächste Runde wurde eingeschenkt. Doch er schien es ernst zu meinen und so sicherten wir zu, daß das der letzte sei, bis wir genaueres wüssten. Er verschwand auch gleich wieder, weil es noch eine Blitzversammlung der Gewerkschaftsobleute der Abteilung gäbe.
Wir ließen vorsichtshalber die Flaschen verschwinden, holten auch das Bier aus dem Kühlschrank, versenkten sie in der Putzlappenkiste und verteilten uns an unsere Werkbänke. Kurz darauf kam der Meister. Meinte kurz und bündig, daß wir erstmal hier bleiben sollten, es stände irgendwas an. Keiner wegrennen und so Faxen.

Das Geburtstagskind war wohl am wenigsten erfreut über diesen unerwarteten Verlauf.
Schluss mit Saufen und in der Werkstatt rumgammeln. Nichtmal Privatpfusch war möglich, da nicht klar war, ob wir nicht Besuch bekommen könnten. So war Klönen dran.
Naja, einer war dann doch noch Pflicht. Na, und ein kleiner hinterher.
Jeffe kam völlig aufgeregt und mit hochrotem Gesicht vom Gewerkschaftstreffen zurück. Er schnappte nach Luft und als er anfing zu reden, rutschte seine Stimme arg in die oberen Bereiche ab. Es schien nicht ganz unerheblich zu sein, was er erfahren hatte. Er bekam ein Glas hingehalten, schüttelte aber nur hektisch den Kopf. Und japste dann, daß die Erschwerniszulage gestrichen werden solle.
Stille. Das Ticken der Werkstattuhr war zu hören. Der schweigsame Schweißer, faktisch der einzig nüchterne, weil er nie trank, stellte dann die erste Frage nach der Begründung.
Alle Köpfe wandten sich erst zu ihm und dann zum Gewerkschafter. Der schien nicht so recht zu wissen, was er sagen sollte, fühlte sich gefangen im Zwiespalt, einerseits die staatliche Seite vertreten zu müssen, andererseits zu uns zu gehören. Er zuckte nur langsam mit den Schultern. Irgendwie sind die Grenzwerte nicht mehr hoch genug. Das saß…
Stille…
Bis Karl auf seinem Amboss sitzend, leise glucksend anfing zu lachen.
„Die hamse nicht alle. Was soll sich denn verbessert haben?“

Jetzt gings durcheinander. Doktor meinte, daß es im Laufe der Zeit eigentlich immer schlimmer geworden sei. Ja, vor allem, seit die Schwefelfilter in die Schornsteine eingebaut wurden. Seither drückte nämlich das Schwefeldioxid durch die Kesselwände. Was zur Folge hatte, daß sich hinter den regelmäßig auszuwechselnden Metallplatten der reine Schwefel ablagerte. Da wir die Platten rausbrennen mussten, verbrannte der Schwefel freilich vorort. Gasmasken gehörten nicht zu unserer Ausrüstung.
Geschimpfe machte sich breit. Unser Parteivertreter kam rein und meinte ruhig, daß wir erstmal abwarten sollten, der Meister wäre grade auf Besprechung bei der Abteilungsleitung und würde es uns schon genau verklickern.

Die Stimmung war sehr merkwürdig, ein wenig ungläubig und Trotz begann sich breit zu machen. Als der Meister kurz vor der Frühstückspause reinkam, wurde es sofort still.
Die Inspektion habe bei Überprüfungsmessungen festgestellt, daß die Grenzwerte für die Erschwerniszulagen nicht mehr überschritten wurden. Deshalb sei die Erschwerniszulage gestrichen und auch die 3 Tage Erschwernisurlaub würden künftig wegfallen.
Die ganzen 56 Pfennige pro Stunde würden wegfallen? Immerhin wäre das nicht unerheblich bei Stundenlöhnen weit unter 3 Mark. Der Meister nickte. Aufgeregt schnappte der Gewerkschafter, daß doch nur 16 Pfennige davon, auf die Luftverschmutzung falle. Das saß. Er war bisher selten durch Kompetenz aufgefallen, jetzt aber erntete er anerkennende Blicke. Der Meister zuckte mit den Schultern und schrieb es sich auf.
Dafür wusste er genau, wie sie auf die neuen Messwerte kämen. Die Kessel wurden für die Messungen mit 80 Prozent gefahren. Und da wäre alles o.k. gewesen. Von den Gesprächen mit einer Kesselfahrerin wusste ich, daß wir normal mit 120 Prozent fahren, weil die Kohle zu schlecht war und immer schlechter wurde. Die bessere Kohle wurde exportiert. Ab 100 Prozent stiegen dann die Schadstoffwerte, die durch die Kesselwand gedrückt wurden, extrem an. Dafür waren die neuen Filteranlagen für die Schornsteine nicht ausgelegt. Die waren wegen des sauren Regens eingebaut worden.
Freilich wussten das auch die anderen und die Empörung wuchs. Der Meister meinte, er ginge nochmal rüber und käme zurück, wenn er mehr wüsste. Jetzt wäre eh Frühstück dran.
Ob die Asche und die Turbine auch betroffen wären. Die Frage erreichte ihn an der Tür, langsam drehte er seinen massigen Körper und schüttelte langsam den Kopf. Es könne aber sein, daß die anderen Brigaden dann später dran kämen.
Wir waren ziemlich perplex. Arbeiter-und-Bauern-Macht. Die Scheiß Bürokraten. Hätten keine Ahnung, was läuft. Wir müssten unsere Haut hinhalten. So ganz nebenbei erfuhren wir, daß selbst die hauptamtlichen Partei- und Gewerkschaftsvertreter der Abteilung die Erschwerniszulage erhielten. Denn ihre Aufgabe wäre es ja, die Arbeiter direkt am Arbeitsplatz anzusprechen und zu motivieren. Aber die hatte noch niemand am Kessel gesehen.
Unser Kessel begann langsam zu pfeifen.

Wir saßen jetzt schon über eine Stunde am Frühstückstisch und debattierten. Komischerweise wurde nicht mal mehr erwähnt, noch einen zu trinken. Die erste Aufgeregtheit war vorbei, Ernsthaftigkeit herrschte vor.
Da fiel das Wort: „Streik.“ Kurze Pause. Einer fragte zurück „Streik?“. Bedächtiges Nicken von mehreren.
„Meint Ihr, das das geht?“
Wir dürften es halt nicht so nennen. Wir würden einfach unsere Sicht darstellen und dann weitersehen. Das klang erstmal nicht so schlecht. Ein wenig mulmig war mir schon, aber das Empfinden von Ungerechtigkeit war größer.

Als der Meister zurückkam, traf er auf eine entschlossene Brigade, sogar unser Parteivertreter hatte sich angeschlossen, auch wenn wir merkten, daß ihm nicht sonderlich wohl dabei war.
Es sollte wirklich die ganze Erschwernis gestrichen werden, ebenso wie alle Erschwernisurlaubstage. Das bestärkte uns und wir teilten dies dem Meister mit. Er meinte nur, daß wir uns das sehr gut überlegen sollten, er könne da nicht mitmachen, er würde uns aber nach Kräften den Rücken freihalten. Dafür sollten wir ihn ständig über den Stand der Dinge informieren. Er hielt es auch für günstiger, wenn wir nicht groß über diese Sache mit anderen reden sollten. Das klang vernünftig. Zumindest vorerst. Wir waren nicht wirklich in der Lage, die Sache richtig zu überschauen. Selbst der Schweißer, der sonst immer von Repressionsgeschichten zu erzählen wusste, hielt sich zurück. Das Thema wurde im Moment von allen vermieden, schien es mir.

Wir verbrachten den ganzen Tag in der Werkstatt, beschäftigten uns mit Aufräumen und Sortieren. Geredet wurde wenig und wir erfuhren auch nichts über neuere Entwicklungen. Nur einmal kam eine Anfrage vom Kesselleiter des Kessels, den wir eigentlich heute warten sollten. Er wurde ohne wirkliche Begründung vertröstet, was er merkwürdigerweise akzeptierte.

Der Feierabend war anders als sonst. Wir gingen erst nach Viere zum Umziehen, anstatt wie sonst um Vier schon umgezogen an der Stechuhr zu stehen. Und wir gingen gemeinsam ein längeres Stück, ehe wir uns auf den sich schon leerenden Fabrikstraßen den jeweiligen Betriebstoren zuwandten.

Ich ging direkt zum Krämerladen, holte, statt des üblichen Wodkas oder Reisschnapses eine Flasche Kräuter, brachte nicht mal mehr meine Tasche nach Hause und ging gleich ins HdJ.
Das Haus der Jugend war wegen Baufälligkeit schon seit Jahren geschlossen. Doch aufgrund ungewisser Umstände konnte die örtliche Bluesband dort im Tanzsaal proben. Normalerweise waren wir dort in kleinerem Kreise, heute war jedoch irgendwie mächtig Betrieb. An die zwanzig Leute waren schon da und gut bestückte Bierkästen dabei. Bevor ich noch richtig grüßen konnte, sprach mich schon der Sänger an, was denn bei uns los wäre. Ich war ziemlich erstaunt, auch wenn er in der Nachbarbrigade Schlosser war, so war doch keiner von uns drüben in deren Werkstatt gewesen, wir wollten ja erstmal nicht drüber reden. Jetzt aber nichts zu sagen, wäre schon arg komisch gewesen. Obwohl ich die meisten nicht kannte, war mir schon bewusst, daß, egal, was ich jetzt sagte, wohl morgen in verschiedenen Betrieben der Gegend beredet werden würde.
So vorsichtig ich konnte, versuchte ich die Lage zu schildern und auch so ungefähr, wie wir uns verhalten wollten. Hielt aber alles sehr vage. Trotzdem hatte ich sofort die Aufmerksamkeit aller. Es kamen keine Nachfragen. Bald wurde wieder zum normalen Musizieren und Trinken übergegangen, doch beim Abschied drückte mir jeder einzelne stumm die Hand.
Ich hatte zugesehen, nicht gar so viel zu trinken, fühlte mich eh heftig angespannt, auch wenn das nicht unangenehm war.
Früh wachte ich pünktlich auf, nahm mir sogar Zeit richtig zu frühstücken und ging zeitig auf Arbeit.

Trotzdem erwartete uns der Meister schon in der Werkstatt. Er saß am Tisch. Ungewöhnlich genug. Er winkte nur ab, und bedeutete, daß er erst reden wolle, wenn alle da wären. Das war noch lange vor halb der Fall und hätte an anderen Tagen die merkwürdigsten Vermutungen über Ehestand, durchzechte Nächte und weitere Kuriositäten zur Folge gehabt.
Heute gab es nur ein Thema. Es war zu sehen, daß sich jeder so seine Gedanken gemacht hatte. Sorgenvolle Gesichter herrschten vor.
Der Meister schilderte nochmal die Lage und kündigte an, daß halb Neun die halbe Abteilungsleitung hier aufkreuzen würde. Da hätten wir doch aber Frühstück… Das entlockte sogar dem Meister ein brummendes Lachen. Er sagte nur, daß er schon drüben beim Kessel gewesen wäre und die Lage geschildert hätte. Wir könnten mit vollem Verständnis rechnen und sie würden schon irgendwie über den Tag kommen. Er habe auch schon die Aufgaben etwas langfristiger verteilt. Dann fragte er, wie wir die Sache sähen.
Es stellte sich heraus, daß eigentlich alle eher skeptisch waren, ob es irgendetwas bringen würde. Aber wir hätten nunmal damit angefangen und es wäre auch irgendwie blöd, jetzt einfach aufzuhören. Außerdem wurmte es, einfach etwas abzugeben, was einem zustand. Immerhin gab es Stellen in den Kraftwerken, wo Nichtraucher keine Chance hatten, länger zu arbeiten. Selbst wir Raucher arbeiteten dort maximal eine Viertelstunde, um dann auf dem Balkon in der frischen Luft eine zu rauchen, ehe es weiter ging. Dummerweise war das der älteste Kessel. Noch aus der Zeit, als der Stahl grade erfunden wurde. Dort war einfach alles ein paar Stufen enger. Vielleicht waren die Menschen damals auch noch kleiner. Eigentlich war das nur ein Notkessel. Aber der lief genauso durch, wie alle anderen.
Nach und nach wuchs die Entschlossenheit wieder, die sich in der Vereinzelung des Feierabends verloren hatte. Das gipfelte dann in der Überlegung, ob wir Streikposten aufstellen sollten. Ein prustendes Lachen… Dann folgte aber die ernstgemeinte Frage, ob vielleicht die Nachbarbrigaden einfach unsere Arbeit übernehmen würden und wir ziemlich doof da ständen.
Aber so recht glaubte niemand daran. Dazu würde sich wohl keiner hergeben. Eine Unsicherheit blieb aber. Der Meister wiegelte ab. Er hätte schon mit den anderen Meistern gesprochen. Die würden schon genug Ausreden finden, damit das nicht ginge. Immerhin hatte dort keiner die Erlaubnisscheine für die Gasbrennerreparatur. Und den Schein zu machen, würde schon ein paar Tage dauern. Karl meinte, er kenne da wen und könnte mal fragen, wie die grade ausgelastet wären. Vielleicht ließe sich da was drehen oder zumindest könnten die uns informieren, falls sich da was tun würde.
Es tat gut, etwas konkretes zu tun zu haben. Schon das Nichtstun des gestrigen Tages hatte an den Nerven gezerrt. Und ständig die Gedanken, wie die da oben wohl reagieren würden. Feffe meinte, daß das Streikrecht nicht wirklich geregelt sei, daß wir vermutlich wegen Arbeitsverweigerung mit Verweisen zu rechnen hätten. Zumindest so lange es nach Recht und Gesetz ginge. Alle Blicke wanderten zum Schweißer. Der hatte so seine Erfahrungen damit, wenn es aufhörte, nach dem Gesetz zu gehen. Doch er war nicht zum Plaudern aufgelegt und meinte nur, daß sich die Zeiten geändert hätten und er nicht glaube, daß wir ein Stasifall werden würden. Immerhin wäre auch die Führung hierzulande ein wenig nervös geworden, seit den Streiks in Polen. Sie würden wohl eher vermeiden, daß hier sowas passiert. Das war mit Abstand die optimistischste Einschätzung, die ich je von ihm gehört hatte.
Es beruhigte auch die anderen.
Wir sollten bis auf Karl in der Werkstatt bleiben, im Moment wären sowieso die jährlichen Arbeitsschutzbelehrungen fällig. Und ohne diese dürften wir eigentlich nicht an die Kessel. Wir würden also schon irgendwie eine Ausrede finden, falls sich die Sache zu merkwürdig entwickeln sollte.
Im Gehen drehte er sich nochmal um und meinte, daß der Schichtleiter im Ernstfall die zwei Kessel runterfahren würde, weil die Gasbrenner nicht ohne Austausch der Elektroden weiterbetrieben werden könnten. Das klang nach Dienst nach Vorschrift und roch irgendwie nach Solidarität.

Halb Neun traten sieben Grünkittel und zwei Graukittel in die Werkstatt. Erstere von der Abteilung. Sie meinten, daß wir wohl Fragen hätten und sie hier wären, um diese zu beantworten.
Aber zuerst wollten sie die Lage schildern. Ich erwartete wohl nicht als einziger erstmal einen Vortrag über die Wichtigkeit der Stromerzeugung für die sozialistische Produktion und das Wohlbefinden der werktätigen Bevölkerung. Aber nein, es ging gleich zur Sache.
Die beiden Graukittel stellten sich als Arbeiter-und-Bauern-Inspekteure vor und umrissen ihre Aufgabe, daß sie Schluder, Pfusch und Geldverschwendung aufdecken sollten. Es ginge ja um Eigentum des Volkes.
Sie schilderten ihre Messtätigkeit. Und da waren wir bei den 80 Prozent. Warum sie bei dieser Leistung messen würden. Sie schauten uns etwas unverständig an. Es sei doch genau die Leistung, für die die Kraftwerkskessel im Dauerbetrieb ausgelegt wären. Der ganze Instandhaltungsplan, die Materialzulieferung und der Gesundheits- und Arbeitsschutz orientiere sich an dieser Nennleistung. Das meinten die ernst. Sie wären vor drei Tagen unangemeldet hier angekommen und die Kessel wären mit 80 Prozent gefahren.
Das war uns auch aufgefallen, hatten es aber auf die anstehenden Wartungsarbeiten geschoben, daß die Kessel nicht so brüllten und auch die Luft recht atembar war.
Karl meinte nur, daß es seit wer weiß wie langer Zeit, das erste Mal gewessen wäre, daß die Kessel so weit unten gefahren wären.
Es stellte sich raus, daß der ganze Laden nur nach der möglichen Nennleistung berechnet wurde. Die beiden großen Kessel eigentlich nur zur Unterstützung der Hauptkesselanlage betrieben wurden und nur bei ca. 40% fahren sollten und der Notkessel wirklich nur in Notfällen hätte hochgefahren werden sollen. Fakt war aber, daß alle Kessel ständig auf Volllast liefen.
Verwirrte, ungläubige Blicke der Inspektoren, die von etlichen Najas der Abteilungsleitung untermalt wurden.
Unsere Zuversicht wuchs, der Meister saß schmunzelnd in der Ecke und Feffe räusperte sich. Wie immer um übertriebene Ernsthaftigkeit bemüht, bemerkte er, daß ja nur ein Teil der Erschwernis auf die Luftverschmutzung zurückzuführen wäre, daß aber alles gestrichen werden solle. Denn der Staub wäre auch bei geringerer Last da und die Temperaturen am Arbeitsplatz bis zu 50 Grad lägen auch in Bereichen abseits der Normalität. Gar nicht zu reden vom ohrenbetäubenden Brüllen der Kessel. Ohne Schreien war keine Verständigung möglich.
Wir stellten auch die anderen betreffenden Fragen, was dazu führte, daß sich die Abteilungsleitung erstmal zwecks Beratung zurückzog. Nicht ohne uns zu versichern, daß sie sobald als möglich, darauf antworten werde.

Für uns war das ein kleiner Sieg. Es bestärkte unsere Zuversicht und wir sahen dem Geschehen etwas optimistischer entgegen.

Die nächsten beiden Tage waren recht durchmischt. Einerseits kamen die verschiedensten Kollegen vorbei. Teils unter Vorwand, teils einfach so auf einen Schwatz. Rein zufällig alles freilich, aber doch arg auffällig. Wie in einem Taubenschlag. Auch aus der Leitungsebene ließ sich der eine oder andere sehen, ohne das Geschehnis anzusprechen. Andererseits bekamen wir auch unsere Rotlichtbestrahlung. Die Parteileitung wurde vorstellig, um uns an die Gepflogenheiten im real existierenden Sozialismus zu erinnern. Die Betriebsgewerkschaftsleitungen der verschiedensten Ebenen mahnten uns, unsere Pflicht als klassenbewusste Werktätige zu erfüllen. Das Wort Streik fiel dabei nie.
Insgesamt erfüllte uns die Angst, daß die ganze Angelegenheit auf eine prinzipielle Ebene gehoben werden würde und wir uns damit enorme Scherereien einhandeln würden. Alles lief darauf hinaus, daß der Freitag die Entscheidung bringen sollte. Es war der vierte Tag an dem wir nicht arbeiteten.
Am Vormittag schneiten nochmal die verschiedensten Kittel in unsere Werkstatt. Es war nicht herauszulesen, was passieren sollte. Erst nach der Mittagspause erreichte uns die Nachricht, daß für halb Vier eine Gewerkschaftsversammlung anberaumt werde. Halb Vier. Am Freitag. Psychologisch sehr ungünstig für uns. Feierabend ist heilig und am Freitag gleich hoch zwei. Die Stunden bis dahin verstrichen nur langsam. Geredet wurde auch nicht mehr viel.
Letztendlich lief alles sehr unscheinbar ab. Zwei BGLer, die offensichtlich auch keine Überstunden machen wollten, eröffneten uns, daß nochmal gemessen wurde bei 120%. Obwohl der Betrieb in diesem Bereich eigentlich nicht dauernd zugelassen sei. Die Bedürfnisse der sozialistischen Produktion legten allerdings… Blablabla…
Das Ende vom Lied war dann, daß nur noch die Stunden, die wir tatsächlich im Kraftwerk arbeiteten, auf die Erschwernis angerechnet würden. Dafür wurde der Zuschlag auf 1,76 angehoben und es gab einen Erschwernisurlaubstag mehr als zuvor.
Offen wurde nicht gefragt, ob wir damit einverstanden wären. Für uns würde das mit der Bezahlung mindestens aufs selbe hinauslaufen, wie zuvor. Insgesamt also machbar. Wir hatten nichts dagegen einzuwenden.
Wie wir später erfuhren, gab es doch noch Verlierer bei der ganzen Geschichte: die hauptamtlichen Gewerkschafts- und Parteifunktionäre. Die würden den Erschwerniszuschlag nicht mehr erhalten. Komische Sache das.

(Das Ganze ist 1984 in etwa so geschehen, paar künstlerische Freiheiten seien mir verziehen und die Personendarstellungen sind lediglich angelehnt an die real existierenden Akteure.)

Fjieldsgröhn

Editorischer Hinweis

Der Text wurde uns zur Zweitveröffentlichung von Jörg Finkenberger überlassen. Die Erstveröffentlichung erfolgte auf der Website: Das grosse Thier - so steht es geschrieben.