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Wissenschaftsgeschichtliche Miszelle über „Literaturgesellschaft“ und „Leseland“ DDR der 1980er Jahre als deutsch-deutsche Kontoverse.


von Richard Albrecht

10/2019

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Es gab Mitte der 1980er Jahre tatsächlich einmal eine kappe, so offen wie öffentlich ausgetragene Debatte zu den beiden unterüberschriftig angedeuteten Themenfeldern. Warum damals zwei prominente DDR-Literaturwissenschaftler – einer dieser weiland auch Vorstand des DDR-Schriftstellerverbands  – auf (m)einen speziellen Beitrag zur empirischen Literatursoziologie und Lese(r)forschung, der vergleichbare wissenschaftliche Maßstäbe anlegte wie bei der Kritik bundesdeutscherForschungsstudien und der durchaus als kritisch-solidarischer Beitrag angelegt war, so (über)reagierten – konnte ich auch später, Ende der 1990er Jahre, in einem späteren vier-Augen-Gespräch mit einem der DDR-Forschungsgruppe angehörenden Autor, der sich an der Polemik der beiden 1985 nicht beteiligte, nicht erfahren. Und daran, daß ich damals als junger „fortschrittlicher bürgerlicher Wissenschaftler“ galt, der in der DDR sowohl in den „Weimarer Beiträgen“ wie auch in der 1980 neugegründeten  Zeitschrift „Germanistik“ publiziert wurde, dürfte´s mutmaßlich nicht gelegen haben;-) …

Der erste SPIEL-Text (1984)[1] klang so aus: Allen beeindruckenden Daten übers „Leseland“ Deutsche Demokratische Republik relativierend, gibt es offensichtlich in der DDR-„Literaturgesellschaft“ zumindest in weiten Teilen gegenüber der „sozialistischen Gegenwartsliteratur“ gleichgültige und  indifferente Lesantriebe und Lektüreausrichtungen. Sie korrespondieren formal mit vergleichbaren unterhaltungsliterarischen Bedürfnissen realkapitalistischer westlicher Gesellschaften  – nicht zuletzt der Bundesrepublik -, bedeuten aber nicht notwendig ein literarische Flucht in den Westen, sondern zunächst nur Distanz(en) gegenüber dem DDR-Alltag uni seiner literarischen  Verdopplung […] Zugleich scheinen sowohl im tatsächlichen, aktuellen Leseverhalten – das natürlich auch in der DDR immer in hohen Maße von über den Büchermarkt verfügbaren Büchern und fiktionalen Lesestoffen abhängt – als auch in den tieferliegenden Lesantrieben, Lektüreinteressen, themen- und genrebezogenen Lesestoffen Momente einer verborgenen Gesellschaft auf. Sie mögen gewertet werden als wertbezogener gesellschaftlicher  Kontrapunkt oder auch als spurenhafte Elemente historisch älteren volkstümlichen Drangs nach eigenem vitalen Ausdruck – verweisen aber in jefem Fall auf die „ungelöste Wechselwirkung … zwischen dem fertig Gestalteten und dem Suche nach eigenem Ausdruck“ (Peter Weiss). Leseverhalten und Lektüreinteressen in der DDR der 70er Jahre veranschaulichen aber auch das empirisch vorhandene Ausmaß gesellschaftlicher Differenzierung. Die breit und nicht zuletzt im Lager der „unmittelbaren Produzenten“ (Marx) vorhandenen Leseinteressen und Lektürebedürfnisse verwiesen auch in ihrer offensichtlichen Gleichgültigkeit und Indifferenz gegenüber „sozialistischer Gegenwartsliteratur“ damit durchaus auf die „Vitalität der Bedürfnisse“. Deren ideeller Ausdruck ist […] jene Spannungs- und Entspannungsliteratur als Ausdruck von Entlastungs-, Flucht- und Verweigerungstendenzen gegenüber dem DDR-Alltag, seiner relativen Sicherheit, aber auch der mit ihr notwendig einhergehenden Statik und Monotonie. Diesem steht der noch immer vorhandene „Hunger nach Unmittelbarkeit“ (Siegfried Kracauer) in Form erkennbarer Lektüreinteressen und Lesemotive drängend und in seiner zunächst immer gegeben Ambivalenz gegenüber. Die Untersuchung von Leseverhalten, Lektüreinteressen und Leseerfahrung in der DDR zeigt aber noch einen weiteren Aspekt: daß nämlich jene Autoren und Werke der DDR, die in der Bundesrepublik als die DDR-Literatur diskutiert werden, in der DDR-Lesestoffe einer Minderheit sind. Dem nachzuspüren, warum das so ist, wäre freilich eine andere Untersuchung.

Kleines, verwundertes Nachwort hieß unter Bezug auf ein Anna-Seghers-Zitat der zweite knappe SPIEL-Text (1985):

 „Ob der „Kernpunkt“ meines […] Beitrags einen „Komplex von Vorurteilen … über die gesellschaftlichen Verhältnisse“ in der DDR beförderte, weiß ich nicht. Und als Autor stecke ich auch, um die zugestandenen Antwortzeilen einhalten zu können, dunkel über mich Angedeutetes wie mir sprachlich Unklares ebenso weg wie die schlußendliche Rubrizierung als „Konvergenztheoretiker“. Trotzdem finde ichs schade, daß Sommer/Walter (S&W) meine systematische Arbeitsweise in ihrem Rückbezug auf „gesellschaftliche Verhältnisse“ in der DDR so wenig strukturiert ansprechen wie sie die „dahinter stehende Vorstellungswelt“ kritisch offenlegen. Gerade dies hätte mich interessiert. Denn das – von mir, zugegeben, nur im Schlußakkord angedeutete Konzept von „hidden society“ könnte auch – hüben wie drüben – prominente Literatursoziologen gerade dann interessieren, wenn sie sich nicht auf ein Funktionsverständnis von Datenrapporteuren reduzieren lassen wollen […] S&W verwechseln … zweierlei: erstens ihre soziotechnische Methode mit der erfragten Realität, und zweitens mein – zugegeben idealtypisches – Verfahren mit einer mechanischen – ideologischen – Vorstellung. Erstgenanntes habe ich in der Tat angewandt. Letztere unterstellen mir S&W, weil ich, ihrem Auswertungsverfahren gegenüber skeptisch, so verfahren bin. Schließlich vermag ich nicht zu erkennen, warum S&W einerseits ihre Befragungsergebnisse als „Präponderanz“ des Lebens gegenüber Kunst/Literatur betonen – und auf der anderen Seite die in meiner Interpretation stärker betonte Flucht-These so zentral, ausgiebig und (vielleicht auch) langweilig attackieren. Zumal ich immer noch denke, in auch für S&W nachvollziehbarer Form festgehalten zu haben, daß diese Flucht nicht mit der Flucht aus der DDR (etwa in die BRD) ineinsgesetzt werden kann. S&W befinden zum Schluß, mein Beitrag eigne sich nicht als „Ausgangspunkt für einen wissenschaftlichen Meinungsstreit“, bescheinigen zugleich eingangs „wohlwollendes Nachdenken.“ Die eine Wertung scheint mir so problematisch wie die andere überflüssig. <27.II.1985>

Aber wie auch immer: Wenn diese wissenschaftsgeschichtliche Debatte, die implizit auch eine zwischen einem realsozialistisch-staatsalimentierten Autorenkollektiv und einem unabhängigen, westmarxistisch engagierten „Sozialwissenschaftsjournalisten“ (Lars Clausen) war und in einer soziokulturellen Kerndimension die politische Frage des „dritten“ gesellschaftlichen Wegs zwischen Spätkapitalismus und Realsozialismus in Deutschland ansprach dann verweist sie auch Jahrzehnte später in der Rückschau auf eine „linke“ Merkwürdigkeit: daß grad jene (in der referierten Debatte von mir selbstbewußt vertretene) unabhängige marxistische Strömung westlicher Provenience mit ihren subjektwissenschaftlichen Zügen nicht nur unbegriffen blieb  sondern als nahezu schon staatsfeindliche Ideologie attackiert wurde. Dieser Tendenz entsprach der Tatbestand, daß auch der damalige DDR-„Bücherminister“ Klaus Höpcke eine 1987 angeregte öffentliche Debatte anläßlich einer Tagung in Neuwied/Rhein Ende 1988[2] so gar nicht als Chance marxistischen Lernens in der Beschreibung, Untersuchung und Debatte realexistierender Widersprüche verstand …

Die (von mir als damals vierzigjährigem Autor so kundig wie engagiert vertretene) third position erwies sich schon wenige Jahre später als machtpolitisch illusionär – auch wenn eine ähnliche Position des „dritten“ Weges jenseits von Spätkapitalismus und Realsozialismus in der noch existierenden DDR Ende November 1989 von damals prominenten DDR-Bürgern und Intellektuellen wie (dem von mir geschätzten) Stefan Heym im bewegenden Aufruf Für unser Land öffentlich propagiert und bis Mitte Januar 1990 von etwa einer Million DDR-Bürgern mitunterzeichnet wurde. Ähnlich wie das gleichentags, am 28. November 1989, verkündete Zehn-Punkte-Programm[3] wandten sich die Verfasser des DDR-Aufrufs gegen die „Wiedervereinigung“ genannte deutsch-deutsche Staatsvereinigung und betonten[4]: „Entweder können wir auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen und versuchen, mit allen unseren Kräften und in Zusammenarbeit mit denjenigen Staaten und Interessengruppen, die dazu bereit sind, in unserem Land eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind. Oder wir müssen dulden, daß, veranlaßt durch starke ökonomische Zwänge und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflußreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik Deutschland vereinnahmt wird. Laßt uns den ersten Weg gehen. Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind.“

Literatur:

[1] Englische Zusammenfassung: THE GDR – A PARADISE FOR THE READER AND A NEW LITERARY SOCIETY? Some Systematic Notes on the Use of Literature within the German Democratic Republic. According to the image of the GDT-society, it must be some paradise for the reader: “Leseland” (Klaus Höpcke), and an advanced literary society “Literaturgesellschaft (J.R. Becher). That´s, indeed, not the very truth: besides all the impressive data, e.g. on book production and the network of literary institutions like public libraries, there do exist problems. Some of them are discussed in this essay: e.g., the need of readers for literature due to entertainment. Surveying as much as empirical data from within as he could find out the author of this piece argues that the literary system of the GDR looks pretty more contradictory than its image: although there is no doubt about the fact that the DGR-society succeeded in overcoming those literary genres and texts of so-called popular literature as basically produced in the advanced capitalist societies this development itself gad produced new problems – both relevant within the literary and the social process itself. (SPIEL 1/1984: 99)
[2] “Mut, nochmals Mut immerzu Mut”. Protokollband des internationalen wissenschaftlichen Friedrich-Wolf-Symposions der Volkshochschule der Stadt Neuwied vom 2.-4. Dezember in Neuwied aus Anlaß des 100. Geburtstags von Dr. Friedrich Wolf *23.12.1988 in Neuwied. Neuwied: Kehrein, 1990, ii/318 p.; Beitrag Höpcke 38ff., Beitrag Albrecht 187ff.
[3] http://webarchiv.bundestag.de/
[4] https://web.archive.org/web

Publikationen [des Autors] (Auswahl)

(1) Lesbares; Gedrucktes

Das Buch in der BRD; in: Weimarer Beiträge 21 (1975) 12: 129-145 – Leseverhalten und Lektüregebrauch, in: Diskussion Deutsch 7 (1976) 30: 367-384 – Romanzeitung in der DDR: Literatur als Massenmedium; in: publikation, 25 (1979) 7: 13-21 – Aspekte der gegenwärtigen Literatursoziologie; in: Diskussion Deutsch, 11 (1980) 54: 434-443 – Some Aspects of the Sociology of Literature; in: British Journal of Sociology, 32 (1981) 4: 483-492 –  Die meisten Leser erwarten eine Leiche: Über den Krimi in der DDR, in: die horen, 26 (1981) 124: 115-130 – [Mitautorin Wilma Ruth Albrecht] Krimi – und Literaturwissenschaft, in: Literatur in Wissenschaft und Unterricht, 13 (1980) 2: 124-142; auch in: Zeitschrift für Germanistik 2 (1981) 4: 438-450 – Der Leser als Objekt; in: Literaturwissenschaft und empirische Methoden (Hg. Helmut Kreuzer;  Reinhold  Viehoff), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1981 [= Literaturwissenschaft und Linguistik/Beiheft 12]: 329-347 – ´Sozialistische Gegenwartsliteratur´ und ´echte Geschichten´; in: L ´80, 32/1984: 75-85 – Wolfgang Schreyer et le roman d´aventures; in: Conaissance de la DRA, 18.1984, 51-76 – „Literaturgesellschaft DDR“? – Leseverhalten, Lektüreinteressen und Leserfahrungen in der DDR; in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 7. 7. 1984: 17-26; erweitert auch in: Bertelsmann Briefe 115/1984: 15-24 – Das Bedürfnis nach „echten Geschichten“. Systematischer Versuch über Unterhaltungsliteratur in der DDR; in: Jahrbuch zur Literatur in der DDR 4 (1985): 185-213 – Leseverhalten, Lektüreinteressen und Leseerfahrungen in der DDR; in: Siegener Periodikum für internationale empirische Literaturwissenschaft (SPIEL) 3 (1984) 1: 99-118 – Keines, verwundertes Nachwort; in: SPIEL 4 (1985) 1: 203-204 – Wolfgang Schreyers Abenteuerromane; in: L´80, 35/1985: 132-144; erweitert auch in: Diskussion Deutsch, 16 (1985) 86: 620-637 – „Leseland“ DDR oder das Bedürfnis nach „echten Geschichten“; in: deutsche studien 14 (1986) 94: 133-142; auch in: Germanistische Mitteilungen, 24/1986: 15-26 – Leseland DDR – Ein Mythos; in: Buch Magazin 7/1987: 20 – Das Bedürfnis nach echten Geschichten. Zur zeitgenössischen Unterhaltungsliteratur in der DDR. Frankfurt/Main: Peter Lang, 1987, 134 p. [= Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 15.  Hg. Helmut Kreuzer; Karl Riha]

(2)  Hörbares; Gesendetes

Die meisten Leser erwarten eine Leiche“: Über den Krimi in der DDR und seine Entwicklung (SFB 6./13.2.1981) – Über Bücher und andere Drucksachen: Leseinteressen und Lektüreverhalten in der DDR (DLF 25.8.1984) –„Wir haben eine Spur gezogen“: Der DDR-Unterhaltungsschriftsteller Wolfgang Schreyer (DLF 25.10.1984) – „Literaturgesellschaft“ DDR (RB 17.6.1986) – „Leseland“ DDR (SDR 1.10.1986) – Das Bedürfnis nach „echten Geschichten“: „Literaturgesellschaft“ DDR (HR 18.4.1987) – „Literaturgesellschaft“ DDR (SWF 16.10.1988) – Westmedien in der DDR (WDR 10.5.1989) – Von der Kühlschrank-Theorie zum Clockwork-Orange-Syndrom: Über kulturelle Grenzen der deutsch-deutschen Annäherung (WDR 3.10.1991)

Editorische Hinweise

Dr. Richard Albrecht lebt als freier Sozialwissenschaftsjournalist in Bad Münstereifel. Letzte Buchveröffentlichung: HELDENTOD. Kurze Texte aus langen Jahren (Aachen: Shaker, 2011).

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe. Er wurde erstveröffentlicht bei https://soziologisch.wordpress.com [2013]

Alle Rechte beim Autor (2019)