Strukturalismusdiskussion
Zu einer Strukturaltheorie der Ideologien

von
Lucien Sebag

10/2020

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Tatsächlich haben die Wissenschaften vom Menschen mehr und mehr einen Bruch zwischen der Ordnung, die sie dachten, und ihren verschiedenen Ausdrücken zugegeben und es sich versagt, mühelos ihre eigenen intellektuell einsehbaren Modelle und die von der Gesellschaft direkt gelieferten zu homo­genisieren.

Unter diesem Gesichtspunkt mag die Critique de la Raison Dialectique einen guten Ausgangspunkt liefern; was da beschrieben wird, ist eine ständige In-teriorisierung des Feldes der Bezeichnungen, das sich zunächst individuell, dann auf dem Niveau der Gruppe realisiert, eine Interiorisierung, die das genaue Gegenteil der Erzeugung dieser selben Bezeichnungen darstellt. Der Ubergang von einer zur anderen Ebene geht sicher nicht kontinuierlich vor sich; die Ge­sellschaft läßt sich in ihrer Realität nicht in die Vielzahl von individuellen Pro­jekten auflösen; aber diese Diskontinuität verliert etwas von ihrer Bedeutung, wenn das Individuum wie auch die Gruppe eine Beziehung gleicher Ordnung zur Außenwelt unterhalten. Auf allen Stufen des sozialen Lebens existiert also eine Kontinuität, die in der lebendigen Intention des historischen Subjekts wur­zelt, die der Gesamtheit des Feldes gegenwärtig ist. Gegenwärtig bedeutet natür­lich nicht klares Bewußtsein; wenn man die Formulierungen von Das Sein und das Nichts aufgreift, kann man sagen, daß die Realität wie die Subjektivitätsich in einem «nicht-thetischen Modus» gibt; aber in jedem Augenblick ist eine Ver­kehrung des Gesichtspunktes möglich, die das Außen auflöst und es von innen wiederherstellt.

Diese psychologischen Bezüge beruhen nicht auf einem Zufall; denn der Ver­such Sartres läßt sich nur als Beschreibung der Beziehung zwischen dem Subjekt und den sozialen Bezeichnungen in psychologischen Ausdrücken verstehen. So erinnert auch Lucien Goldmann, wenn er die Thesen über Feuerbach kom­mentiert, an das Kind, das seine wirklichen Handlungen interiorisiert und in logische Schemata umformt — Phänomene, die Piaget hervorragend analysiert hat. Kollektive Praxis und individuelle Praxis überlagern sich demnach, die Gruppe wird als ein komplexeres Individuum aufgefaßt, in dem der Sinn ganz und gar aufgeht.

Aber die wissenschaftliche Forschung auf so verschiedenen Gebieten wie Sprach­wissenschaft, politische Analyse oder Ethnologie führt uns dazu, zwischen der menschlichen Dialektik, die sich in ihrer Eigenbewegung entfaltet, und der Ordnung der Signifikanten einen ursprünglichen Bruch festzustellen, den wir klar erfassen können, wenn wir bestimmte Eigenschaften der politischen Spra­che betrachten, die deutlich werden, sobald diese Sprache einen gewissen Grad der Starre erreicht; das trifft insbesondere für die «totalitären»(1) Parteien zu, die in dieser Hinsicht ein Sonderproblem darstellen. Ihre außerordentliche Wider­standskraft gegen alle Widerlegungen durch die Erfahrung, die Leichtigkeit, mit der sie die auffällige Diskrepanz zwischen dem, was sie sagen, und dem, was sie tun, überwinden, bezeichnen sehr genau die Unzulänglichkeit jeder «ratio­nalistischen» Denunzierung des trügerischen Charakters der Ideologien.(2)[...]

Die Erfahrung der Individuen oder der Gruppen verteilt sich auf ein zweifaches Register; sprachlich ist sie gänzlich artikuliert und kann in jedem Augenblick, so arm auch die Signifikanten sind, zu denen man Zuflucht nimmt, in eine organisa­torische Sprache übersetzt werden; sie geht indessen immer über diese Sprache hinaus und zeichnet die ständige Möglichkeit einer sprachlichen Neustruk-turierung. Diese widersprüchliche Situation ist durchaus nicht erstaunlich: Die Sprache ist auf Grund der Willkür der Zeichen, die sie konstituieren, gefüllt; in­dem sie verallgemeinert, überdeckt sie in jedem Augenblick alle denkbaren Signifikate; nichts in ihr ist unausdrückbar; auf Grund dieser Willkür steht sie auch diesseits dessen, was sie bezeichnet, verwirklicht eine bestimmte Eintei­lung, vergewaltigt notwendigerweise das Reale.

Alle soziale Erfahrung liegt innerhalb eines Teilfeldes von Bezeichnungen; sie kann der Definition nach niemals das Korrelat der Sprache sein, die sie über­deckt; das Individuum begegnet einer konstituierten Sprache(3), die ihm geeignet erscheint, den Sinn seiner Geschichte zu übertragen; es macht sie sich zu ei­gen, bereichert sie mit allem, was seine Existenz an Spezifischem an sich haben kann, gleichzeitig aber verliert diese Existenz ihre Chaotik, ordnet sich und be­gegnet anderen menschlichen Leben an einem intelligiblen Ort: Ein junger Bauer kommt vom Lande und tritt in eine Fabrik ein; er steht einer Gesamtheit von Tatsachen, Situationen und Problemen gegenüber, die er in einer chaoti­schen Unmittelbarkeit erlebt, in die alles hineinspielt: Müdigkeit, Langeweile, die durch die Fließbandarbeit verursacht wird, niedriger Lohn, schwierige Ver­hältnisse zum Meister und so weiter, lauter Ereignisse, die ihn betreffen und das Zeichen der Individualitäten tragen; ein anderer erträgt alles viel leichter: Er weiß sich beim Meister Respekt zu verschaffen, oder er wird krank. Gemein­schaftlichkeit und Unterschiedlichkeit wohnen also eng beieinander. Und plötz­lich(4) wird dieses ungleiche und heterogene Milieu neu strukturiert; eine Sprache dient zum Ausdruck, gibt einen Sinn, zeigt die Gleichheit der Lebensbedingun­gen; deshalb wird sie für gültig genommen(5) und in ihrer Allgemeinheit über­nommen. Die Zufälligkeit der Begegnung(6) bleibt dennoch manifest. Der beste Beweis liegt in der Tatsache, daß eine andere Sprache zuweilen «das Geschäft machen» kann. Im Deutschland von 1932 waren die Arbeiter, die entweder der kommunistischen und sozialistischen oder der nationalsozialistischen Partei angehörten, ursprünglich durch dieselben Erfahrungen gegangen, hatten die gleichen Schwierigkeiten gekannt, aber die Wirklichkeit ihrer Erlebnisse wurde in beiden Sprachen auf verschiedene Weise ausgedrückt und auf entgegenge­setzte Erklärungssysteme bezogen. Zufällige Gründe (psychologischer oder so­zialpsychologischer Art) gaben Rechenschaft über die Entscheidung, die getrof­fen wurde.

Nichts kann also besser die Heterogenität von Realem und Symbolischem be­zeichnen und die Unzulänglichkeit des ersteren, die Ordnung zu unterbauen, die das letztere bringt; die Praxis der Individuen oder der sozialen Gruppen bricht sich notwendigerweise auf eine spezifische Art in einer Sprache, die nur verbunden mit der Gesamtheit der Sprachen, die diese als ein Ganzes genom­mene Gesellschaft erzeugt, bezeichnend ist. Wir haben, als wir den Mythos analysierten, diesen charakterisiert als Rede, die als bezeichnende Einheiten ein Material verwendet, das bereits durch sich selbst bezeichnend ist; aber die ganze Beziehung zwischen Realität und Ideologien, zwischen «Basis» und «Überbau» läßt sich auf ähnliche Weise behandeln; daraus ergeben sich diesel­ben methodologischen Konsequenzen: Die Beziehung zwischen dem Signifikan­ten und dem Signifikat(7) ist sicher nicht willkürlich, aber sie ist nicht, wie im Mythos, die einzig mögliche; da die Rede unter der Vielzahl der Modi aus­wählt, in denen das Wirkliche auftritt, werden einige Merkmale bestimmend; diese Auswahl wiederum zerstört gleichzeitig die Eindeutigkeit der Beziehun­gen zwischen beiden Bereichen; denn jede ideologische Formulierung läßt sich als Teil nur illusorisch denken; zunächst muß die Totalität der Gesellschaft -sofern man nicht den extremen Fall einer vollkommen ungegliederten sozialen Einheit annimmt, die aus zwei Welten besteht, zwischen denen die Kontakte auf ein Mindestmaß reduziert sind - und die Totalität des ideologischen Feldes betrachtet werden. Zwischen dem, der einen Ausdruck sucht, und dem Ausdruck selbst, zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat ist also keine absolute Übereinstimmung denkbar. Der Trennungsstrich zwischen beiden er­scheint im Gegenteil wie eine strukturelle Gegebenheit. Wir stehen zwar nicht einer totalen Willkür gegenüber, doch besteht die Kluft wirklich, und zwar auf mehreren Ebenen. [...]

Die individuelle Praxis kann daher keineswegs als der autonome Pol angesehen werden, von dem aus sich die soziale Realität in ihrer Gesamtheit denken ließe; und das, obwohl zugegeben werden darf, daß diese Praxis auf eine Intentio-nalität bezogen werden kann, die ihr entspräche, was die Psychoanalyse entschlossen in Frage gestellt hat. Auf keinen Fall können wir die Eigenmacht der Gesellschaften und die schöpferische Tätigkeit der Gruppen nach dem Mo­dell individueller Dialektik begreifen. Die philosophische Grundlage der Wis­senschaften vom Menschen wird uns daher nicht durch einen Versuch zugäng­lich, die Sozialität und das ganze Feld der Bezeichnungen von der Teleologie des Subjekts her zu konstituieren, für die man sich als absoluten Beziehungs­punkt entscheiden könnte; denn diese Teleologie zeigt sich immer, wenn sie nicht ganz formal gesehen wird, in einer dezentrierten Beziehung zu den Gebie­ten, in denen sie sich entfaltet.

Man sieht also, in welcher Form die Beschreibung, die wir hier von der Bezie­hung des Menschen zu seinen eigenen Produkten geben, zusammengeht mit der epistemologischen Zweiteilung, wie wir sie früher dargestellt haben: Wenn näm­lich jede Gesellschaft auf mehreren Ebenen Form annimmt, synthetisiert jede individuelle oder kollektive menschliche Erfahrung nach einem originellen Mo­dus verschiedener Elemente, die heterogenen Gesamtheiten entnommen und vorübergehend innerhalb einer vereinheitlichten Geschichte zusammenge­bracht worden sind; diese Elemente schöpfen dabei niemals ihren ganzen se­mantischen Wert aus; ihre Wirkungsebene bleibt das Symbolsystem, aus dem sie ihre letzte Gültigkeit gewinnen, und dieses System ist nur zu erkennen durch eine wissenschaftliche Untersuchung, die es ausdrücklich zum Gegen­stand nimmt und Modelle entwickelt, die es erlauben, Aussagen zu machen. Abstrakt genommen ist eine Koinzidenz zwischen dem totalen Sinn, dessen Träger eine Gesellschaft ist, und dieser Gesellschaft selbst, sofern sie in sich die Heterogenität der Gesichtspunkte und die Verschiedenheit der Interessen überwunden hätte, denkbar. Faktisch aber ist sie ausgeschlossen, wenn man von daher eine Transparenz des historischen Handelns ins Auge faßt; und dies nicht nur aus soziologischen Gründen — Vorhandensein einer Spanne nicht  mehr reduzierbarer sozialer Irrationalität —, sondern weit mehr auf Grund des immer gegenwärtigen Bruches zwischen der wahren Ordnung und dem unmit­telbaren Inhalt jeder Existenz. Dieser Rahmen, den die wissenschaftliche Ratio­nalität bestimmt(8), kann niemals das Korrelat von Erscheinungen sein, die in ihrer Gesamtheit genommen werden; er setzt eine grundlegende Abstraktion voraus, die sich auf seinen Gegenstand richtet, eine gewisse Willkür in der Wahl der Variablen, eine Verallgemeinerung der ins Spiel gebrachten Gegeben­heiten(9); und diese Arbeiten lassen notwendig eine Unbestimmtheit weiterbe­stehen, die von jedem Handeln, jeder wirklichen Wahl aufgeladen wird, da die­se eine nicht irreduzible Zufälligkeit mit sich führen. Aber die Beziehung zwi­schen der Wissenschaft und ihrem Objekt ist unter diesem Gesichtpunkt nicht grundlegend verschieden von der, die die Sprache, welches auch immer ihre Form sei, an die soziale Wirklichkeit bindet; in keinem der beiden Fälle ist eine vollständige Deckung denkbar: Die Rede steht niemals in einer eindeutigen Beziehung zu dem, was sie bezeichnet; die Anstrengung, die Ideologien auf einen wirklichen Ort zu beziehen, von dem aus sie ihre Undurchsichtigkeit ver­lieren würden, hat also nur begrenzte Tragweite, ist nur für gewisse Fälle gül­tig, die man herausheben und klassifizieren kann; durch ihre organisatorischen Prinzipien gibt jede Rede der Realität, auf die man sie abstrakt beziehen möch­te, eine neue Definition und eine Ordnung. Ordnen bedeutet hier, über das hin­ausgehen, was das Wirkliche von sich aus hergeben würde, indem ich es auf einen Ort beziehe, wo es sich abklärt, einen Teil seines Inhalts verliert; aber ich kann den Inhalt einer solchen Arbeit nur erfassen, wenn ich ihr ihre ganze Autonomie gebe, sie als real denke. Dagegen ist jeder historische Prozeß ein Amalgam ganz verschiedener Elemente, da die von den Handelnden erlebten und beabsichtigten Sinngebungen sehr verschiedenartig sind. Was den Über­gang von einem Gebiet zu einem anderen ermöglicht, ist nicht so sehr ein ge­meinsamer Nenner, den einp Phänomenologie entschleiern könnte, vielmehr die Schaffung des intellektuellen Systems, das solche Handlungen verwirklicht und das noch nicht einmal von denjenigen gekannt zu werden braucht, die deren Subjekte sind. [...]

Der Intellekt ist also von Anfang an eine Quelle von Problemen, während die Realität erst dann problematisch wird, wenn sie der logischen Architektonik des Geistes gegenübersteht. Die wahrscheinlichste Hypothese, die sowohl die Anthropologie wie die Geschichte zu bestätigen scheinen, ist die, daß diese Probleme von Anfang an Gegenstand der Reflexion und der Geistesarbeit gewesen sind. Als Dürkheim von der Tendenz des menschlichen Geistes sprach, die Welt mittels Klassifikationen auszuloten, forderte er etwas dieser Art. Im Vergleich zu der Anerkennung dieser Tatsache erscheint der Wille, aus diesen Klassifizierungen eine Widerspiegelung der wirklichen Teilung der Tier­arten zu Zwecken der Ernährung zu machen, wie eine merkwürdige Illusion. Sie ist tatsächlich sowohl auf dem lexikalischen wie auf dem syntaktischen Ni­veau unwirksam; lexikalisch kommen die klassifizierten Lebewesen nur zu ei­nem ganz geringen Teil in den Nahrungsklassen vor(10); also isoliert man nur durch eine willkürliche Operation diese Klassen, um sie als vorrangig zu be­trachten; syntaktisch ist es absurd, die logische Tendenz zur Klassifizierung von der ursprünglichen Verteilung der Nahrung deduzieren zu wollen, denn diese Verteilung ist selbst eine Klassifizierung, die einen Intellekt voraussetzt, der fähig ist, sie zu handhaben, wenn sie erst einmal eine bestimmte Dauer be­sitzt und nicht mehr nur auf den reinen triebhaften Wettstreit gegründet ist. Die Logik geht den verschiedenen Ebenen der sozialen Organisationen voraus, die als ebenso viele Verwirklichungen dieser Logik erscheinen, entsprechend den zahlreichen Zwecken, die der Mensch sich setzt. Wenn man auf die intel­lektuelle Ebene übergeht, auf der diese bis dahin implizit angewandte Logik selbst zum ausgesprochenen Objekt der Behandlung wird, werden besondere intellektuelle Zwecke angestrebt. Sie müssen als solche erkannt werden. Alles weist darauf hin, daß diese Probleme Gegenstand der Reflexion gewesen sind, seit eine menschliche Gesellschaft besteht, und daß die gegebenen Ant­worten, auch wenn sie von dem Ganzen der sozialen Entwicklung abhängen, nicht nur einfache Epiphänomene dieser Entwicklung gewesen sind; vorge­schlagene Lösungen verweisen auf eine Geistesarbeit, die von «Denkern» gelei­stet worden ist, von Menschen, die nachgedacht haben und sich als Menschen den aufgeworfenen Fragen gestellt haben; nichts wäre törichter in dieser Hinsicht als die Vorstellung einer kollektiven Schöpfung, durch die man zuweilen die Werke der archaischen Völker von unseren eigenen Erzeugnissen zu unterscheiden versucht hat: Unter diesem Gesichts­punkt setzten ein Volkslied, ein Mythos oder ein philosophisches System glei­chermaßen Individuen voraus, die sie ersonnen haben und die wußten, was sie taten(11). Sie zu verwirklichen, bedurfte es einer Arbeit, also der Umformung einer Gegebenheit, die sich nicht aus dieser Gegebenheit selbst erklären läßt. In diesem Sinne ist es müßig, aus den verschiedenen Sprachen einfache Über­bauten zu machen, die angeblich nur eine vorgegebene soziale oder ökonomi­sche Tatsache auf besondere Weise wiedergeben.

Aus all diesen Gründen, die sowohl mit dem Inhalt dessen zusammenhängen, was gesagt wurde, wie auch mit den Bedingungen, unter denen es gesagt wur-de, können die intellektuellen Systeme, die der Mensch bisher aufgestellt hat, nicht als einfache Ideologien gewertet werden, die von sozialen Gruppen er-sonnen wurden, um ihre soziale Stellung zu rechtfertigen oder bestimmte Zwecke zu erreichen. Möglich ist dagegen die ideologische Verwendung dieser Systeme, die Entwicklung bestimmter Themen, die mit besonderen Zwecken funktional zusammenhängen. Auch da kann der Mythos als gutes Beispiel die-
nen: In einer bestimmten Gesellschaft läßt sich die Gesamtheit der Varianten eines Mythos nicht einfach auf irgendeine Form des Interesses oder der beson- deren Ziele, die einige Individuen oder Gruppen verfolgen, zurückführen; durch ihn denkt sich eine Gesellschaft, das heißt sie entwickelt und systematisiert, was sie in allen ihren Tätigkeitszweigen skizziert; zuweilen indessen prägt sich eine Variante genauer aus: Es geht etwa darum, die Mächte dieser oder jener Bruderschaft oder den von einer bestimmten Familie innegehabten Besitz gewisser sakraler Gegenstände zu rechtfertigen. Der Mythos sanktioniert also gewisse reale Vorrechte; aber er tut es nur durch Anwendung seiner allgemei-nen Kategorien, die in ihrer Totalität von dieser besonderen Situation aus er-zeugen zu wollen absurd wäre.

Anmerkungen

1) Der Ausdrucke «totalitär» wird hier ohne negativen Sinn gebraucht. Die Werturteile könnten erst einer adäquaten Kenntnis des Phänomens folgen; überdies lägen sie innerhalb seiner Sphäre.
2) Auf diese Denunzierung greifen zum Beispiel ebenso überzeugt wie unwirksam die Gruppen der äußersten Linken zurück, wenn sie die stalinistischen Parteien kritisieren.
3) Wir lassen hier das Problem der Konstitution im eigentlichen Sinn beiseite. Es richtet sich übrigens nach ähnlichen Prinzipien.
4) Es handelt sich da natürlich um die Schematisierung eines sehr komplexen Prozesses. Der jähe Bruch erweist sich a posteriori als ganz selbstverständlich, aber in Wirklichkeit stehen wir einer Reihe von kleinen Unregelmäßigkeiten gegenüber, die im gegebenen Augenblick eineneue Gestalt sehen lassen. Diese ideologische Transponierung wird, um den Geist zu beeindrucken, die langsame Entwicklung, ohne deren Bezeichnung abzuwandeln, auf ein brutales Ereignis beziehen, das dann eine totale Rückverwandlung hervorruft. Vgl. neuerdings La vie de Patrice Lumumba von Pierre de Vos.
5) Wir wollen noch hinzufügen, daß das Zusammentreffen mit dieser Sprache nur selten abstrakt und theoretisch ist; es vollzieht sich durch die Vermittlung von Individuen (den Kämpfern der Partei), die ihre bewußten Träger sind und sie in ihrer Existenz verkörpern. Sie stellen sich also gleichsam als vereinheitlichende Formen dar, denen die andern sich angleichen; seltsamer­weise sind sie die eigentlichen Signifikate einer solchen Sprache.
6) Doch hat dieses Zusammentreffen, auch wenn es zufällig ist, unumkehrbare Wirkungen; das Individuum wird durch die Sprache gezeichnet, die seine Erfahrung totalisiert hat; hier manife­stiert sich die fast biologische Einwirkung des Signifikanten auf den Menschen.
7) Der Gebrauch solcher Ausdrücke geschieht hier metaphorisch; in Wirklichkeit bezeichnet die Rede durch die Verwendung des von der Sprache gelieferten bezeichnenden Materials einige der Aspekte des Wirklichen. Die soziale Realität bricht sich in unsteter Weise in der Sprache.
8) «Wissenschaftlich» wird hier im strengen Sinne des Ausdrucks gebraucht: als Heraushebung not­wendiger Beziehungen zwischen den Phänomenen. In diesem Sinne ist die Geschichtsschreibung nicht «wissenschaftlich», denn die Beziehungen, die sie zwischen den «Ereignissen» einführt, sind immer zufällig. Diese Aussage mag überraschen; doch ist klar, daß auf der Ebene, auf die sich der Historiker stellt, keine Notwendigkeit eingeführt werden kann; und dies, weil zwi­schen einer «Ursache» und einer «Wirkung» immer eine Unendlichkeit von Gegebenheiten liegt, über die man nicht Rechenschaft zu geben beabsichtigt. In Wirklichkeit kann die Notwendig­keit sich nur auf zwei Ebenen zeigen: entweder auf der einer übermenschlichen Intelligenz, die die Totalität der Tatsachen betrachtet, ohne einen einzigen Ubergang zu vernachlässigen; oder auf einer hinreichend allgemeinen und gereinigten Ebene, so daß eine bestimmte Anzahl von Variablen, die sich gegenseitig definieren, isoliert werden kann.
9) Wir beziehen uns hier auf gewisse allgemeine Charakteristika der wissenschaftlichen Arbeit, aber angesichts des gestellten Problems — das Verstehen der heutigen Praxis unserer Gesellschaf­ten — ist in diesem Fall das Phänomen selbst nicht so hinreichend entwickelt, daß die Ordnung, die es regiert, sich ganz und gar offenbaren könnte.
10) Vgl. dazu die zwei letzten Werke von Levi-Strauss: Le totömisme aujourd'hui, Paris 1961 (deutsch: Das Ende des Totemismus, Frankfurt am Main 1965) und La Pensäe sauoage, Paris 1962.
11) Was variiert, ist weniger die Individualität der Schöpfung als die Art und Weise, wie diese Individualität durch den Gebrauch, der von dem Werk gemacht wird, teilweise negiert wird.

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Alternative Nr. 54, Westberlin Juni 1967, Strukturalismusdiskussion, S. 115-119, übersetzt von Hans Naumann.

Lucien Sebag (1934, Tunis - 1965, Paris) war ein französischer marxistischer Anthropologe, ein Schüler von Claude Lévi-Strauss . Als Forscher am Centre national de la recherche scientifique wurde er für seinen Versuch bekannt, Strukturalismus und Marxismus in einem Buch mit dem Titel "Marxismus und Strukturalismus" (1964) miteinander zu versöhnen. 1965 beging er Selbstmord, nachdem er sich in die Tochter Judith von Jacques Lacan  verliebt hatte.

"Marxismus und Strukturalismus" erschien 1975 auf Deutsch und beflügelte fortan an den Universitäten der BRD Revisionen des akademischen Marxismus.  In der DDR erschien dazu eine ideologiekritische Zurückweisung durch Otto Finger in: Philosophie der Revolution, Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Berlin 1975.