Spiel mit dem Feuer – wie Staaten ihre Zukunft verspielen

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on Guenther Sandleben

10/2020

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Eine galoppierende Inflation bis hin zur Währungskrise ist keine seltene und keineswegs eine historisch längst überholte Erscheinung. Man mag zunächst an die galoppierende Inflation von 1923 in Deutschland und an die Währungsreform von 1948 denken. In einer für den Internationalen Währungsfonds zusammengestellten Datenbank wurden zwischen 1970 und 2007 insgesamt 124 Bankenkrisen, 326 Währungskrisen und 64 Staatsverschuldungskrisen auf nationaler Ebene gezählt.

Oftmals standen Inflation und Währungsverfall in engerem Zusammenhang mit Wirtschaftsrückgang, hoher Staatsverschuldung und mit dem „Anwerfen der Notenpresse“, was schließlich zur Flucht aus der nicht mehr am Gold gebundenen Währung führte. Ist Ähnliches in den kapitalistischen Zentren, etwa in der Eurozone möglich? Für ein solches Szenario könnte die riskante Geld- und Finanzpolitik sprechen, mit der die Staaten derzeit auf die schwere Wirtschaftskrise reagieren. Was wären mögliche politische Folgen?

Derzeit werden Inflationsgefahren vor allem mit einer zügigen Wirtschaftserholung in Verbindung gebracht, nicht jedoch mit einer wirtschaftlichen Depression, von der gesagt wird, sie berge gerade keine Inflationsrisiken sondern das Gegenteil, die Gefahr deflationärer Preisentwicklung. Eine solche Betrachtungsweise geht von der Annahme aus, dass das Vertrauen in die Banknoten nicht erschüttert wird, d. h. dass z. B. die Warenbesitzer die Banknoten als Wertzeichen für die von ihnen fortgegebene Ware uneingeschränkt akzeptieren. In diesem Fall behalten die Banknoten ihre Geldeigenschaft, da sie sich trotz konjunkturbedingter Inflations- oder Deflationstendenzen weiterhin in der Form unmittelbarer Austauschbarkeit mit allen Waren befinden. Alle Warenbesitzer drängen zum Geld, worin sie den Wert ihrer Waren realisieren, um mit dem Geld die Waren ihres Bedarfs zu erwerben.

Die Einschätzung heutiger Inflationsgefahren ändert sich, sobald man die objektiven Faktoren näher betrachtet, auf die sich das Vertrauen in die Stabilität des Geldes stützen. Hier liegt der Schwerpunkt nachfolgender Analyse. Unsere These, dass die Politik von Regierung und Notenbank die Stabilität der Währung untergräbt, hat die große Wirtschaftskrise von 2007/09 und den jüngsten Wirtschaftseinbruch zur Voraussetzung, wodurch die politischen Handlungszwänge erst entstanden sind. Die folgende Analyse beginnt daher mit der Wirtschaftskrise und ihren Folgen für die Wirtschaftspolitik.

1. Wirtschaftskrise, Not- und Konjunkturprogramme

Nach der großen Krise von 2007/09 hatte eine Wirtschaftserholung eingesetzt. Wie schon zuvor wurde auch dieser Konjunkturaufschwung durch einen ansteigenden Investitionszyklus getragen(1). Bereits vor Corona bahnte sich eine konjunkturelle Krise an, die nach dem zyklischen Muster der Vergangenheit längst überfällig war, jedoch durch die heftigen Interventionen vor allem der Notenbanken (Null-Zinspolitik, Anleihekaufprogramme) verzögert wurde. Im Verlauf des vorigen Jahres verlor der Investitionszyklus trotz niedriger Zinsen an Dynamik mit der Konsequenz, dass die nachlassende Nachfrage zu einem Rückgang im verarbeitenden Gewerbe führte.

Überproduktion und Absatzstockungen sind Kennzeichen einer zyklischen Krise, mit der ein wirtschaftlicher Rückgang eingeleitet wird. Der Geldrückfluss gerät wegen wachsender Absatzschwierigkeiten ins Stocken, Geschäftsleute müssen – um selbst zahlen zu können - Zwangsverkäufe in Waren, Aktien etc. vornehmen. Das Vertrauen in die Kreditwürdigkeit der Geschäftspartner schwindet. Der normale Kredit wird erschüttert – bare Zahlung ist angesagt. Eine Geld-, Kredit- und Börsenkrise ist die Folge. Eine solche zyklische Wirtschafts- und Finanzkrise bahnte sich ab Herbst vorigen Jahres an. Corona und Lockdown wirkten als Katalysatoren.

Dass sich die Krise schon vor Corona zuspitzte, signalisierte der US-Geldmarkt bereits im September vergangenen Jahres. Einige große Geschäftsbanken, die den Geldmarkt mit Liquidität versorgt hatten, wurden wegen möglicher Kreditausfälle misstrauisch und zogen sich unerwartet zurück. Daraufhin verzeichnete der US-Geldmarkt Renditesprünge, die weit über die damaligen zinspolitischen Vorgaben der US-Notenbank Fed (1,50% bis 1,75%) hinausgingen. Der Interbankenhandel, die Schlagader des Kreditgeschäfts, drohte wie zuvor schon in der großen Krise auszutrocknen. Wie damals flutete die Fed den Geldmarkt mit Liquidität, und die EZB reaktivierte wegen wachsender Unsicherheiten im November 2019 ihr Anleihekaufprogramm in Höhe von monatlich 20 Mrd. €.

Zur Begrenzung der Krise stellten Notenbanken Mitte März 2020 Riesensummen an Krediten zur Verfügung. Die Regierungen spannten Rettungsschirme, um einen wirtschaftlichen und finanziellen Zusammenbruch der Wirtschaft zu verhindern. Statt dass der Staat von der Wirtschaft, scheint nun die Wirtschaft vom Staat zu leben. In beinahe allen Ländern beobachten wir eine dramatische Entkoppelung von steuerfinanzierten Staatseinnahmen und Ausgaben mit der Folge, dass die Staatsverschuldung sprunghaft steigt.

„Beim Schutzschild für Beschäftigte, Selbstständige und Unternehmen handelt es sich um das größte Hilfspaket in der Geschichte der Bundesrepublik“, schreibt das Bundesfinanzministerium. „Der Umfang der haushaltswirksamen Maßnahmen beträgt insgesamt 353,3 Milliarden Euro (gut 10 % des Bruttoinlandsprodukts) und der Umfang der Garantien insgesamt 819,7 Milliarden Euro.“(2 )Anfang Juni hat die Regierung ein Konjunkturprogramm von 130 Mrd. € beschlossen. Zudem hat die EU-Kommission ein Konjunkturhilfe-Programm in Höhe von 750 Mrd. € verabschiedet, finanziert durch Kreditaufnahmen am Kapitalmarkt. Erstmals wird die EU als Ganzes bedeutender Akteur im Aufbau neuer Schuldentürme.

In den USA ist das größte Rettungspaket der Geschichte von zunächst mehr als zwei Billionen US-Dollar geplant – in 2008 waren es 700 Mrd. US-Dollar. Die japanische Regierung beschloss am 27.5. einen zweiten Zusatzhaushalt zur Finanzierung eines Konjunkturpakets von insgesamt 230 Billionen Yen (2008: 75 Billionen Yen), das sind rd. 2 Bill. €. Premierminister Shinzo Abe sprach von der größten Finanzspritze der Welt - etwa 40 % des japanischen Bruttoinlandsprodukts - , um die Wirtschaft vor einer Jahrhundertkrise zu schützen.

2. Wie die Notenpresse ins Laufen kam

Wie finanzieren die Regierungen ihre Rettungsschirme? Steuern kommen nicht infrage, da wegen des Wirtschaftseinbruchs eine zusätzliche Belastung kaum noch verkraftbar wäre. Auch die Kreditaufnahme am Kapitalmarkt ist inmitten der wirtschaftlichen Depression vor allem für Länder mit bereits hoher Verschuldung und mit einem krisenbedingt hohen Kreditbedarf schwierig geworden. Das Problem wird deutlich, wenn man einen Blick auf die jüngste Entwicklung der Finanzmärkte wirft.

Als die Wirtschaft Ende Februar einbrach, schnellten z. B. die Renditen für 10jährige italienische Staatsanleihen von knapp 1% auf 2,6% (18.03.) hoch. Dieser Anstieg entstand durch hohe Kursverluste, d.h. durch eine Entwertung der Anleihen, ausgelöst durch Panikverkäufe. Die Besitzer verkauften, weil sie fürchteten, der italienische Staat könnte wegen der hohen Verschuldung und der Wirtschaftsstockungen ernsthafte Schwierigkeiten bekommen, seinen Kreditbedarf über den Kapitalmarkt durch die Ausgabe neuer Anleihen zu decken. Man fürchtete weitere Kursverluste. Eine Fortsetzung dieser Entwertungsspirale wäre wahrscheinlich gewesen, hätte die EZB nicht durch ihre Käufe die Panik und damit den Renditeanstieg gestoppt.

Vergleichbares war auf dem Markt für Unternehmensanleihen zu beobachten. Auch hier stiegen die Renditen sprunghaft an, da die Besitzer der Anleihen mögliche Zahlungsausfälle als Folge des Wirtschaftseinbruchs fürchteten und deshalb rasch verkauften. Angesichts der Verkaufswelle hätte sich in beiden Fällen die Kreditaufnahme erheblich verteuert oder wäre am Kapitalmarkt durch die Emission neuer Anleihen gar nicht mehr möglich gewesen.

Getrieben von solchen Marktprozessen blieb der Notenbank nichts anderes übrig, als Staats- und Unternehmensanleihen massenhaft zu kaufen. Sie wurde vom Finanzmarkt in die Rolle hineingezwungen, Kreditgeber der letzten Instanz zu werden. Und der Finanzmarkt wiederum reagierte mit Verkaufswellen auf die wirtschaftlichen Stockungen, von denen man befürchtete, sie könnten besonders krisenanfällige Schuldner zur Insolvenz treiben.

Diese Wirkungs- und Reaktionskette, bestehend aus wirtschaftlicher Stockung, panikartigen Wertpapierverkäufen, sprunghaft steigenden Zinsen und schließlich aus Kredithilfen der Notenbank, um den hohen Kreditbedarf von Staat und Wirtschaft zu decken, existiert keineswegs nur in der Eurozone, sondern in allen kapitalistischen Zentren. Durch ihre Käufe sorgt die jeweilige Notenbank für wieder steigende Anleihekurse und für fallende Renditen, so dass sich Regierungen und Unternehmen zu weiterhin niedrigen Zinsen verschulden können und die Besitzer der Anleihen keinen Wertverlust erleiden. Auf diese Weise stoppte sie vor allem Mitte März 2020 die Abwertungsspirale an den Finanzmärkten und verhinderte erst einmal eine neue Schuldenkrise.

Dieser Interventionspfad ist keineswegs neu. Er ist nur die Fortsetzung einer Politik, die während der großen Krise von 2007/09 etabliert und nun weiter beschritten wird. Damals wurden die Weichen zum jetzt gültigen Krisenreaktionsmuster gestellt. Die Sachzwänge von heute sind vor allem die Folgen der damaligen Wirtschafts- und Finanzkrise. Sie entstanden durch die Art und Weise, wie die Finanz- und Geldpolitik seinerzeit reagierte. Nun ist dieser Politikpfad etabliert und man gewinnt den Eindruck, dass eine Umkehr gar nicht mehr möglich ist.

Einige Beobachter sprechen von wirtschaftspolitischen Fehlern, die während der großen Krise gemacht worden seien, als man zur Linderung der Wirtschafts- und Finanzkrise hohe Staatsdefizite einging und die Notenpressen ins Laufen brachte. Um ein leichtfertiges Urteil oder gar eine Schuldzuweisung zu vermeiden, sollte man sich die Dramatik früherer Ereignisse vor Augen führen.

Damals lag Endzeitstimmung in der Luft, der Kapitalismus schien sich im Todeskampf zu befinden. „Wir standen vor einer Situation, die schlimmer als 1929 zu werden drohte. Niemand traute mehr irgendjemandem im Bankensystem“, fing der damalige britische Premierminister Gordon Brown die Stimmung ein. „Die Menschen gerieten in Panik und fragten sich, welche Bank als Nächstes zusammenbrechen würde. Das Finanzsystem stand am Abgrund“(3). „Es gab Stimmen“, meinte der damalige deutsche Finanzminister Peer Steinbrück „die vom Ende des Kapitalismus sprachen.“(4)

Unter dem gewaltigen Druck der Märkte entschlossen sich Regierungen und Notenbanken alles zu tun, was erforderlich war, um die Katastrophe irgendwie abzuwenden. Der Zusammenbruch des Systems musste verhindert werden, selbst wenn die Folgen des eigenen Handelns längerfristig ein Desaster bedeuten konnten. Die Politik schien alternativlos zu sein; alle gesellschaftlich relevanten Kräfte, die besitzenden Klassen ebenso wie die Gewerkschaften und die im Parlament vertretenen Parteien waren in dem Interesse geeint, das kapitalistische System zu retten(5). Allein der Augenblick zählte.

Die Konsequenzen des damaligen Handelns waren hohe Schulden, hohe Anleihebestände in den Bilanzen der Notenbanken, aufgenommen zur Finanzierung der Verschuldung, sprunghaft steigende Zentralbankgeldmengen, Null-Zins-Politik. In allen kapitalistischen Zentren sind solche Veränderungen mal mehr mal weniger stark ausgeprägt zu beobachten.

Als sich die Wirtschaft ab Ende 2009 allmählich erholte, fand keine größere wirtschaftspolitische Korrektur statt. Die Altlasten blieben bestehen, teilweise kamen weitere Verwerfungen hinzu: Durch die Niedrigzinspolitik konnten selbst solche Unternehmen fortexistieren, die unter normalen Zinsbedingungen keine Überlebenschance gehabt hätten. Zudem hat das niedrige Zinsniveau riskante Geschäftsprojekte gefördert, die einen unbedingt günstigen Geschäftsverlauf erforderten und in der jetzigen Depression entweder scheitern oder durch öffentliche Kredite geschützt werden müssen.

Die niedrigen Zinsen begünstigten ebenso die Kreditaufnahme der Regierungen. Von wenigen Ausnahmen – darunter Deutschland – abgesehen, konnte die Staatsverschuldung trotz der Wirtschaftserholung kaum abgebaut werden. Das Risiko ist deshalb gewachsen, dass einige Staaten scheitern werden, wenn sie jetzt versuchen, den Wirtschaftseinbruch durch hohe Ausgaben und sprunghaft steigende Verschuldung zu lindern. Sie könnten in eine Schuldenkrise geraten. Statt die Krise zu lindern, würden sie selbst zum ökonomischen Krisenfaktor.

Auch die Notenbanken haben die Konjunkturerholung nicht für einen Kurswechsel nutzen können. Weder wurden die hohen Anleihebestände zurückgefahren, noch wurden die Zinsen stärker angehoben. Zaghafte versuchte der US-Notenbank Fed, den eingeschlagenen Politikpfad durch Zinsanhebungen und durch ein Abschmelzen des Anleihebestands zu verlassen, wurden Ende 2018 rasch korrigiert. Die Börsen brachen ein, da man einen Wirtschaftsabschwung fürchtete. US-Präsident Trump setzte diese Marktzwänge in politischen Druck auf die US-Notenbank um, bis diese einknickte und den beginnenden Zinserhöhungszyklus entgegen ihren eigenen Vorhersagen abrupt beendete und Zinssenkungen einleitete.(6) Wenn ein zins- und geldpolitischer Kurswechsel selbst in günstigen Konjunkturphasen nicht mehr möglich ist, wie sollte er in einer Abschwungsphase durchsetzbar sein?

3. Die große Flut

Der jetzige Wirtschaftseinbruch lässt einer Politik, die den kapitalistischen Rahmen für unverzichtbar hält, keine andere Wahl: Sie muss den eingeschlagenen Politikpfad fortzusetzen. Statt ihn kritisch zu prüfen, wird er fast nur noch gerechtfertigt.

Man erfindet „gute Argumente“, um weiter zu machen wie bisher. So sei in Europa Japans Staatsschuldenquote von fast 300% noch längst nicht erreicht. Weitere Schulden seien möglich, ohne eine größere Inflation zu riskieren, wie der Japan-Fall zeige. Die deutsche Politik rechtfertigt ihre Neuverschuldung mit der hohen Staatsschuldenquote von 2010, die damals zu keiner größeren Inflation geführt habe und in diesem Jahr noch nicht einmal erreicht werde.

Andere behaupten, Inflation sei nur während eines konjunkturellen Aufschwungs etwa durch höhere Löhne und steigende Nachfrage nach Waren, nicht jedoch während einer wirtschaftlichen Depression möglich. „Das Risiko, dass die Pandemie in der Weltwirtschaft eine Deflation auslöst, ist insgesamt größer“, meint z.B. Peter Bofinger, bis 2019 Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.(7) Auch Lucas Zeise beruhigte seine linke Leserschaft jüngst in der Tageszeitung „jungen Welt“ mit dem Hinweis, dass die Geldflut inzwischen zwar ein „Krisenzeichen des Weltkapitalismus“ wäre. „Aber weltweite Inflation wird nicht das Resultat sein“.(8) Keynesianisch orientierte Autoren hoffen auf einen dauerhaft existierenden „Hang zur Liquidität“, den Menschen angeblich besitzen würden und deshalb annähernd grenzenlos dem Geld zugeneigt wären. Wegen dieser prinzipiellen Vorliebe für das Zentralbankgeld wird eine Flucht in Sachwerte theoretisch ausgeschlossen.

In der Vergangenheit jedoch hat das Zentralbankgeld seinen Besitzer keineswegs vor Verlusten geschützt. Der Inflationsschub in den 1970er und 1980er Jahren führte zu hohen Geldentwertungen, ebenso die Währungskrisen danach, etwa die in Lateinamerika und Asien. Etliche Währungsreformen haben Lohnabhängige, Rentner, kleine Sparer und selbst größere Geldbesitzer ruiniert. Spätestens wenn das Vertrauen in die Banknoten erschüttert ist, erweist sich die monetäre Vorliebe als Illusion; die zuvor noch begehrten Banknoten können sich rasch in wertlose Papierlappen verwandeln, die keiner mehr haben will.

Länger zurückliegende Erfahrungen werden gern verdrängt, wenn gegenwärtige Trends den eigenen Optimismus zu stützen scheinen. In den kapitalistischen Zentren verharren die offiziell ausgewiesenen Inflationsraten in den zurückliegenden 30 Jahren auf relativ niedrigem Niveau. Man neigt dazu, diesen Trend der Vergangenheit bruchlos fortzuschreiben, ohne genauer zu prüfen, ob sich die ökonomischen und wirtschaftspolitischen Voraussetzungen möglicherweise geändert haben und schon bald einen Trendbruch bewirken könnten. Immer noch ist das Vertrauen groß, die Notenbank könnte die Kaufkraft ihrer Banknoten planen und steuern, selbst wenn sie deren Menge im Verhältnis zur Warenmenge extrem ausweitet. Ihr eigenes Handeln ist ein offenes Buch für diese Sorglosigkeit, in das wir kurz hineinblicken möchten.

Anfang März 2020 bot die US-Notenbank Fed unter Hinweis auf „extrem ungewöhnliche Störungen“ Wertpapierpensionsgeschäfte in Höhe von 1,5 Bill. US-$ an; panikartig senkte sie ihren Leitzins auf Null. Wie schon zuvor in der Eurozone und in Japan sind weitere zinspolitische Lockerungsschritte nun kaum noch möglich. Am 23. März verkündete sie Anleihekäufe in unbegrenzter Höhe.

Die EZB verabschiedete Mitte März das „Pandemic Emergency Purchase Programm“ (PEPP) in Höhe von 750 Mrd. € und stockte dies schon gigantische Programm Anfang Juni 2020 um weitere 600 Mrd. € auf. Die Bilanzsumm der EZB stieg von Ende Februar 2020 bis Ende Mai um fast eine Billion auf 5,6 Bill. €. Ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt der Eurozone lag 2007 – dem Beginn der großen Krise – bei knapp 13%, jetzt beträgt die Quote 47%. Entsprechend nahm die Menge des von der EZB in Umlauf gebrachten „Zentralbankgelds“ stark zu: von 1,3 Bill. € vor Ausbruch der Eurokrise auf 3,7 Billionen Ende des vergangenen Jahres. Das auf jetzt 1,35 Bill. € aufgestockte PEPP entspricht in etwa der gesamten Zentralbankgeldmenge von damals, die nun verdoppelt wird, ohne dass die produzierte Warenmenge, d. h. das Bruttoinlandsprodukt, zunimmt.

Eine direkte Finanzierung ist der EZB nicht erlaubt. Also wird ein kleiner Umweg eingebaut: Statt die Schuldtitel durch direkte Kreditvergabe von den Euro-Staaten und den Unternehmen zu beziehen, kauft die EZB deren Kreditpapiere den Geschäftsbanken ab, die diese vielleicht wenige Tage zuvor erworben hatten. Die Notenbank monetarisiert Schulden, indem sie Regierungen und Unternehmen durch den Kauf entsprechender Schuldtitel Banknoten physisch oder elektronisch indirekt gibt, die es zuvor nicht gab. Da die Kredite letztendlich durch frisch gedruckte Banknoten und nicht durch bereits vorhandenes Geld über den Kreditmarkt finanziert werden, bleiben die Zinsen niedrig. Dies ist eine zusätzliche Einladung, Schulden zu machen.

4. Inflation

Solche Massenkredite der Notenbanken, finanziert durch die Notenpresse, bleiben nicht folgenlos. Vor allem zwei Vorgänge sind kritisch zu bewerten.

Zunächst einmal wird die Notenbank durch die drohenden Kapitalentwertungsprozesse zur Fortsetzung des eingeschlagenen Politikpfads getrieben. Sie muss Banknoten drucken, um Anleihen zu kaufen oder Kredite in anderer Form zu vergeben, selbst wenn die Kredite in der gegenwärtigen Krise stark gefährdet sind. Die ihr von den Finanzmärkten aufgezwungene Operationsweise besteht darin, gerade solche Anleihen zu kaufen, die unter besonderen Verkaufsdruck geraten, da hier das Risiko als besonders groß empfunden wird. Denn größere Kursverluste würden zur Verteuerung neuer Kredite führen, die sich die entsprechenden Schuldner gerade in einer kritischen Situation nicht mehr leisten könnten. Also muss die Notenbank handeln!(9)

Solche Abwertungsrisiken verschwinden jedoch nicht, wenn sie verkauft werden – deren Verteilung ändert sich nur. Durch die Anleihekäufe nehmen die jeweiligen Notenbanken die potentiellen Verluste in ihre Bilanz. Die Entwertungsrisiken bleiben, allerdings befinden sie sich nun im Geschäftsbereich der Notenbank.

Sollten sich die Befürchtungen der einstigen Verkäufer der Anleihen bestätigen, hätte die Notenbank die Entwertung der Anleihen zu tragen. Verluste würden entstehen, die wegen des hohen Anleihebestands das im Vergleich dazu geringe Eigenkapital leicht überschreiten könnten. Ein normales Unternehmen müsste wegen Kapitalverlust, Überschuldung oder drohender Zahlungsunfähigkeit sofort Konkurs anmelden und würde möglicherweise abgewickelt werden.

Für eine Notenbank gelten etwas andere Bedingungen. Formal betrachtet, kann sie ihre fälligen Verbindlichkeiten immer bezahlen, da sie die entsprechenden Zahlungsmittel selbst druckt. Sie müsste den Verlust nicht ausgleichen.

Ökonomisch gesehen würde jedoch eine quasi-bankrotte Notenbank von der Geschäftswelt vermutlich stärker gemieden als ein bankrottes Unternehmen. Denn wie keine andere Institution ist gerade die Notenbank vom Vertrauen abhängig. Mit diesem Vertrauen ist das Vertrauen in die Banknoten verbunden, die von der Notenbank herausgegeben werden. Welche auswärtige Notenbank würde Devisenreserven in einer Währung halten, die ein bankrottes Institut emittiert hat? Welcher Warenbesitzer würde diese Banknoten als Wertzeichen für die verkaufte Ware akzeptieren, wenn er kein Vertrauen mehr hat, dass er mit den Wertzeichen Waren seines Bedarfs erwerben kann, ohne einen Wertverlust zu erleiden?

Problematisch ist nicht nur die sich verschlechternde Bilanzqualität der Notenbank als Folge riskanter Kredite etwa in Form der Anleihekäufe, sondern auch die anschwellende Menge von Zentralbankgeld, die durch solche Käufe entsteht. Diese Geldmenge expandiert ohne zusätzliche Warenproduktion; gegenwärtig ist diese sogar eingebrochen.

Die neuen Zentralbankgelder – zur Veranschaulichung hier auch als „Zentralbanknoten“ oder kurz „Banknoten“ bezeichnet - existieren in Form von Sichtguthaben bei der Notenbank oder als Bargeld in Form von Papiergeld (Banknoten im engeren Sinne) und Münzen. Sie wandern zunächst zu den Verkäufern der Anleihen und zu Banken, sofern diese Kredite direkt von der Zentralbank erhalten. Bald verliert sich die Spur der neuen Zentralbanknoten. Ein Teil bleibt vielleicht als Sichtguthaben bei der Notenbank. Andere Teile mögen als Zahlungsmittel für das Zeichnen frisch emittierter Staats- und Unternehmensanleihen dienen. Nun verfügen Staat und Unternehmen über die neuen Zentralbanknoten, die es vorher nicht gab und die nun zur Bezahlung von Rechnungen oder für Warenkäufe verwendet werden. Weitere Teile des frisch gedruckten Zentralbankgelds werden vielleicht zum Kauf von Aktien, Immobilien, Edelmetallen etc. eingesetzt.

Hier eröffnet sich ein weites Feld zur Spekulation: Käufe solcher Waren versprechen hohe Gewinne, wenn sie mit eigenem oder geliehenem Geld bezahlt werden, das bald an Kaufkraft verliert. Die eigenen Schulden werden mit entwertetem Geld zurückbezahlt, während die gekauften Waren ihren Wert behalten. Der starke Anstieg der Gold- und Silberpreise um 27 % bzw. um fast 100 % (Stand: 30.9.20) seit Mitte März – dem Zeitpunkt der einsetzenden Geldflut - ist nicht nur ein Ausdruck für solche Spekulationen, sondern heizt diese kräftig an. Man sieht den Erfolg, der andere zu ähnlichen Käufen animiert. Bald schon könnten weitere Waren zum Spekulationsobjekt werden, vor allem dann, wenn eine nachhaltigere Inflation befürchtet wird.

Das Tor zur Flucht aus den Banknoten ist bereits geöffnet. Da die Notenbank weiterhin große Kreditmengen mit frisch gedruckten Banknoten finanziert, obwohl die Warenproduktion kaum zunimmt oder sogar stockt, wächst mit dieser Disproportion die Gefahr, dass die inzwischen angeschwollene Banknotenmenge spekulativ und massenhaft in die Warenzirkulation tritt. Äußerlich und massenhaft in den Zirkulationsprozess hineingeworfen, würden viel mehr Banknoten zirkulieren, als Kauf und Verkauf von Waren für eine gegebene Periode erforderten. Nun würde nicht mehr das Bedürfnis der Warenzirkulation, d. h. die in Geld zu realisierende Preissumme der insgesamt zirkulierenden Waren (konstante Geschwindigkeit des Geldumlaufs unterstellt) die Zahl der erforderlichen Banknoten bestimmen.(10) Es wäre umgekehrt: Die spekulativ in die Zirkulation hineingepressten Banknoten würden durch ihre Quantität die Preissumme der insgesamt zirkulierenden Waren bestimmen.(11) Eine gegebene Wertsumme von Waren, zuvor ausgedrückt in vielleicht 100 Milliarden Euro, würde sich durch den äußeren spekulativen Eintritt der Banknoten in die Zirkulation in vielleicht 150 Milliarden Euro ausdrücken – eine Verteuerung um 50%.

In der Eurozone wird der Warenpreis in Euros ausgedrückt, d. h. in Einheiten des Zentralbankgelds. Geld sind sie nur in dem Maße, wie sich die Euro-Noten in der Form unmittelbarer Austauschbarkeit mit allen Waren befinden, d. h. sie müssen in jede Ware unmittelbar umsetzbar sein, um ihre Geldeigenschaft zu behalten. Wenn jedoch die Warenbesitzer die Banknoten nicht mehr als Wertzeichen für ihre fortgegebene Ware akzeptierten, wäre die unmittelbare Austauschbarkeit nicht mehr oder nur eingeschränkt vorhanden. Die Banknoten hätten ihre Geldeigenschaft vollständig oder teilweise eingebüßt. Die Bedürfnisse der Warenzirkulation würden rasch für Ersatz sorgen, um nun darin statt in den Banknoten den Wert der Ware zuverlässig zu realisieren. Was an die Stelle der allgemein diskreditierten Banknoten treten würde, wäre eine Frage der praktischen Zweckmäßigkeit. Vielleicht bediente man sich wieder Gold- und Silbereinheiten oder direkt darauf bezogener Wertzeichen, die als „Gold-Papiere“ bereits auf große Nachfrage stoßen.(12)

Es sind die Warenbesitzer, nicht die Notenbank, die darüber entscheiden, inwieweit sie die Zentralbanknoten als Geld akzeptieren. Nur wenn der tägliche Warenverkehr ihnen das Vertrauen schenkt, dass sich der Wert ihrer Waren zuverlässig in Banknoten realisieren lässt, die ohne einen Wertverlust zu erleiden in jede beliebige Ware unmittelbar umsetzbar sind, erhalten diese Banknoten ihre Geldeigenschaft. Sie werden dann als Wertzeichen für die fortgegebene Ware allgemein akzeptiert.

An diesem Vertrauen endet die Macht der Notenbank. Geht das Vertrauen verloren, mag die Notenbank mit ihrer Notenpresse zwar immer noch Banknoten drucken, denen jedoch keine Geldeigenschaft mehr anhaften wird, da die Warenbesitzer sie nicht länger als Wertzeichen akzeptieren. Nun würde offensichtlich, dass die Notenbank kein Geld druckt, dass ihre Macht über das Geld eine Illusion ist, die nur so lange besteht, wie die Voraussetzungen für die Geldeigenschaft der Banknoten fortexistieren. Nicht die Unterschrift, mit der die Notenbank ihre Noten kennzeichnet, sondern die tatsächliche gesellschaftliche Aktion der Warenbesitzer verleiht den Banknoten ihren Geldcharakter.

Das Vertrauen in die Banknoten stützt sich vor allem auf objektive Faktoren, auf die Erfahrung, die man mit der tatsächlichen Kaufkraftentwicklung des Geldes macht und auf ökonomische Gegebenheiten.

Die allgemeine Inflationsrate ist derzeit zwar noch moderat, jedoch zeigen sich stark inflationäre Tendenzen bereits auf den sogenannten „Vermögensmärkten“. Eine partielle Flucht aus Banknoten in „Sachwerten“ findet bereits statt. Konsequenz davon ist, dass eine gegebene Menge Banknoten, z. B. 750 Euro, während der Krise von 2008/09 etwa eine Feinunze Gold (31,103 Gramm) repräsentierten, waren es Anfang Oktober 2020 weniger als die Hälfte (14,4 Gramm).

Dass sich diese Flucht spekulativ verstärkt und auf weitere Waren übergreift, wird vor allem von der Bonität der Kreditbestände der Notenbank und vom Umfang der emittierten Zentralbanknoten abhängen. Diese beiden ökonomischen Gegebenheiten bilden die Achillesferse und man kann gut beobachten, wie sich beide verwundbaren Stellen gegenwärtig stark öffnen.

Bedingt durch die schwere Wirtschaftskrise verschlechtert sich die Qualität der Forderungstitel. Die Voraussetzungen, dass diese Staats- und Unternehmensanleihen schwere Wertverluste erleiden oder gar wertlos werden, sind bereits teilweise vorhanden, wie man am Kurseinbruch von Anfang März 2020 ablesen konnte. Allerdings bleiben diese Risiken verborgen, da die Notenbanken durch permanent neue Anleihekäufe die Finanzmärkte politisch stabilisieren. In dem Maße, wie der wirtschaftliche Rückgang anhält und die aufgespannten Rettungsschirme ihre Wirksamkeit verlieren, nehmen auch die Entwertungsprozesse zu. Um die Entwertung zu vertuschen und Zinssteigerungen zu vermeiden, wird die EZB immer weitere Anleihen mit frisch gedruckten Banknoten kaufen müssen und indem sie ihre Bilanz damit aufstockt, gerät sie in eine immer bedrohlichere Schieflage. Der Verdacht, sie verwandle sich in eine „Bad Bank“, wird gelegentlich schon vorgebracht. Die Sachzwänge drängen sie in Richtung eines Quasi-Bankrotts, so dass ein allgemeiner Meinungsumschwung in der Bewertung der Notenbank mehr und mehr vorbereitet wird.

Der Vertrauensverlust könnte noch durch den möglichen Vorwurf verstärkt werden, die gigantischen Anleihekäufe hätten zu einer Insolvenzverschleppung hochverschuldeter und möglicherweise bereits zahlungsunfähiger Unternehmen und einiger Staaten beigetragen. Man könnte von Betrug sprechen. Ein gigantischer Betrug wäre das, wegen der ungeheuren Ausgabe neuer Zentralbanknoten, mit denen die EZB und andere Notenbanken Anleihen kaufen.

Wie man im Finanzsektor stets beobachtet, ist ein Vertrauensverlust eine ziemlich plötzliche Angelegenheit. Gerade dann, wenn großes Vertrauen in die Stabilität der Märkte besteht, tritt die Katastrophe ein. Ein oftmals wenig bedeutsamer Anlass genügt, um den Akteuren bewusst zu machen, wie schlecht die fundamentalen Faktoren geworden sind. Der genaue Zeitpunkt des Zusammenbruchs des Vertrauens ist nicht prognostizierbar.

Für das Vertrauen in die Stabilität des Geldes gilt ähnliches: Derzeit verlieren die objektiven Faktoren, die das Vertrauen stützen, an Bedeutung. Ein größeres Inflationsproblem wird dennoch nicht gesehen, weil die gemessenen Inflationsraten für die Stabilität des Geldes sprechen. Dass die Banknoten immer weniger Goldeinheiten repräsentieren, wird derzeit noch nicht als Indikator für einen möglichen Währungsverfall angesehen. Gleichwohl werden die objektiven Faktoren durch den ökonomischen Prozess und durch die Handlungen von Regierung und Notenbank immer weiter untergraben, bis schließlich die Erosion soweit fortgeschritten sein wird, dass ein Anlass genügt, um das Vertrauen zu erschüttern. Tritt dies ein, wird man massenhaft versuchen, die entsprechenden Banknoten rasch in wertbeständige Waren umzusetzen. Eventuell kämen noch als stabil geltende Auslandswährungen in Frage, mit der Folge, dass sich durch die rasche Abwertung der Währung die Weltmarktwaren verteuerten. Eine galoppierende Inflation würde einsetzen. Im Falle einer allgemeinen Diskreditierung der Banknoten wäre eine Währungsreform kaum zu vermeiden.

Mögliche politische Folgen

Vom russischen Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin (1870 - 1924) soll die Überlegung stammen, wer die Kapitalisten vernichten will, der muss ihre Währung zerstören. Derzeit sind Regierungen und Notenbanken dabei, genau dies zu tun, indem sie entgegen ihrer Absicht eine ökonomische Katastrophe befördern, die weltweit revolutionäre Möglichkeiten eröffnen könnte.

Große Menschenmassen hat die Krise bereits aus ihren gewohnten Lebensbahnen geworfen. Nach wochenlangem Quasi-Hausarrest, den viele Menschen auch noch ohne Job, verbunden mit Existenzängsten und ohne die gewohnten Unterhaltungsmöglichkeiten durchleben mussten, wird die Empörung mehr und mehr auf die Straße gebracht. In den heftigen Massenprotesten der USA zeigt sich mehr als nur eine Empörung gegen Rassismus, Diskriminierung und Polizeibrutalität. Die soziale Unsicherheit, die Vernichtung beruflicher Existenzen, die Einschränkung persönlicher Freiheiten und die Unzufriedenheit mit den Handlungen des Staates treiben die Proteste weltweit an. Die Empörung wächst.

Zur Begrenzung von Protesten haben vor allem Regierungen der reicheren Länder Rettungsschirme gespannt, die nicht nur die Kommandohöhen der Wirtschaft schützen, sondern für einige Monate auch die soziale Lage von Kleinbetrieben, Selbständigen und Lohnabhängigen absichern. Die Regierungen verbinden diese Hilfsprogramme mit dem Versprechen, dass die Wirtschaft sich rasch erholen und das hohe Wachstum zu einer Rückführung der Staatsverschuldung führen werde.

Im März 2020 verabschiedete der US-Kongress ein zeitlich begrenztes Hilfsprogramm, von dem Armutsforscher meinten, „dass die Regierung mit dem Programm die Armut gesenkt habe – einmalig in der Geschichte von Wirtschaftskrisen“.(13) Eine Studie des Becker Friedman Instituts an der Universität Chicago stellte fest, dass 68 % der US-Arbeitslosen dank der staatlichen Zahlungen mehr Geld zur Verfügung hätten als während der vorangegangenen Beschäftigung. Arbeitslosen zahlte die US-Bundesregierung bis Ende Jule Woche für Woche 600 US-$ (ab August noch 400 US-$)auf die klassische Arbeitslosenhilfe drauf; jeder Erwachsene bekam 1.200 US-$, wenn er weniger als 99.000 US-$ im Jahr verdiente. Hinzu kamen 500 US-$ für Kinder.

Aus Furcht vor heftigen Protesten verschob die französische Regierung die Verhandlungen über die geplante Rentenreform. Ebenso vertagte sie die Kürzungen beim Arbeitslosengeld, obgleich das Parlament diese schon beschlossen hatte. Die deutsche Regierung verabschiedete Schutzschirme für Kleinunternehmer, Selbständige, Kurzarbeiter und Auszubildende. Ein Kinderbonus von 300 Euro je Kind wurde bezahlt, die Mehrwertsteuer vorübergehend gesenkt.

Die sozialen Konflikte werden sich verschärfen, wenn die staatlichen Hilfsprogramme auslaufen und vor allem dann, wenn die Inflation spürbar zunimmt. Opfer der Inflation werden Lohnabhängige, Selbständige, kleine Gewerbetreibende sein, die jetzt noch mit staatlichen Zuschüssen und hoffnungsvollen Versprechungen ruhig gestellt werden. Sobald die erhofften Erfolge ausbleiben und die sich verschlechternde Lebenslage zu der Einsicht drängt, dass die kapitalistische Gesellschaft unfähig ist, ihrer erwerbstätigen Bevölkerung die Existenz selbst innerhalb des bislang bescheidenen Rahmens zu sichern, weil sie die Produktion blockiert und nicht nur durch Arbeitslosigkeit sondern zudem noch durch Inflation die Lebenslage herabdrückt, wird die Empörung sprunghaft wachsen. Wie lange werden die hochverschuldeten Staaten ihre Kreditwürdigkeit bewahren, wenn sie fortfahren, die fehlenden Betriebseinnahmen und Einkommen durch hohe Geldausgaben zu ersetzen? Spöttisch spricht man schon von einer „Graf-Dracula-Wirtschaft“, die vor allem vom Blut der Konjunkturpakete und der Banknotenproduktion der Zentralbanken leben würde. „Ich fürchte“, meinte kürzlich der US-Ökonom Nouriel Roubini, „die 2020er-Jahre werden geprägt sein von Verderben und Desaster“.(14)

Kehrt der „Wunsch zur Revolution“ zurück, wie beispielsweise im deutschen Inflationsjahr 1923? Konservative werden auf besondere historische Umstände wie die Ruhrbesetzung verweisen, die sich nicht wiederholen werde. Andere meinen vielleicht, die heutige Situation könnte sich stärker zuspitzen als damals, weil durch die Urbanisierung ländliche Fluchtpunkte fehlen würden.

Im Wirbel der damaligen Geldentwertung, schrieb Arthur Rosenberg in seiner Geschichte der Weimarer Republik, hätten sich alle hergebrachten Begriffe von Ordnung, Eigentum und Gesetzlichkeit aufgelöst. „Es hat nie in der neueren deutschen Geschichte einen Zeitabschnitt gegeben, der für eine sozialistische Revolution so günstig gewesen wäre wie der Sommer 1923.“

Anmerkungen

1) Nähere Ausführungen dazu: Guenther Sandleben, Wenn die Wirtschaft aus den Fugen springt, in: Sabine Nuss (Hrsg.), Der ganz normale Betriebsunfall, Dietz Verlag Berlin, 2018

3) So Gordon Brown in seinem Buch: Was folgt. Wie wir weltweit neues Wachstum schaffen, (engl: Beyond the Crash), Frankfurt 2011, S. 18, 84)

4) Peer Steinbrück, Unterm Strich, Hamburg 2010, S. 200

5) Einzelheiten dazu in: G. Sandleben, Politik des Kapitals in der Krise. Eine empirische Studie, Hamburg 2011

6) Der Fed-Chairman Jerome Powell sei rasch zurückgerudert, sagte der US-Ökonom Nouriel Roubini in dem Spiegel-Interview „Es ist zu viel kaputt“ vom 13.6.2020, „und heute ist die Fed-Bilanz doppelt so groß wie damals. Langfristig wird das in Inflation münden.“ Roubini meint, dass die Fed die Notenpresse wegen der Marktzwänge nicht mehr stoppen könne. „Langfristig kommt sie aus der Nummer nicht mehr heraus. Da geht es ihr wie allen großen Notenbanken.“

7) Peter Bofinger, Im Sinkflug, 22.06.2020; https://www.ipg-journal.de/regionen/global/artikel/detail/im-sinkflug-4445/

8) „Sandlebens Inflationslawine“, Kolumne von Lucas Zeise in der jW vom 27./27. Juni 2020

9) Am 9. April gab die US-Zentralbank bekannt, „Junk-Bonds“ zu kaufen, das sind tendenziell faule Kredite. „Damit es im Zuge der derzeitigen Krise nicht zu einer Kreditklemme kommt, wirft die Europäische Zentralbank (EZB) ihre bisherigen Grundsätze über Bord und kauft nun auch so genannte Schrottanleihen. Dabei handelt es sich um Papiere, die keinen Investment Grade mehr haben. (…)Die Notenbank will mit der nun beschlossenen Lockerung vermeiden, dass Wertpapiere, die wegen der Coronakrise nicht mehr als Sicherheit akzeptiert werden, massive Kursverluste erleiden. (…) Die EZB folgt mit ihrem Schritt im Grunde der US-Notenbank Fed. Die Federal Reserve hat unlängst verkündet, Unternehmensanleihen, die einzig wegen der Corona-Pandemie auf Ramsch abgestuft werden, weiterhin erwerben zu wollen.“ (https://boerse.ard.de/anlageformen/anleihen/ezb-nimmt-jetzt-auch-ramschanleihen100.html)

10) In dieser Kausalität bleiben die Modifikationen in der Zahl umlaufender Banknoten unberücksichtigt, welche dadurch entstehen, dass bloße Kredittransaktionen Zahlungen vermitteln oder dass der Ausgleich wechselseitiger Zahlungen keine Banknoten erfordert, oder der umgekehrte Fall, dass Banknoten zusätzlich als bloße Zahlungsmittel zum Ausgleich von Forderungen zirkulieren müssen.

11) Wir berühren hier einen in der ökonomischen Theorie kontrovers diskutierten Zusammenhang, der die Frage betrifft, ob der Geldumlauf durch die Preissumme der zirkulierenden Waren (bei gegebener Geschwindigkeit des Geldumlaufs) bestimmt wird, oder ob er stattdessen die Höhe der Preise bestimmt, wie die Quantitätstheoretiker meinen. Eine Darlegung der Argumentationsketten würde den Rahmen sprengen. Nur so viel: Waren treten in den Verkaufsprozess mit einem bereits vorhandenen Wert, der sich als Preis ausdrückt. Unter normalen Bedingungen der Kaufkraftstabilität des Geldes (kein Vertrauensverlust) bestimmt im Großen und Ganzen die Preissumme der zirkulierenden Waren die Höhe der Geldzirkulation. Die Quantitätstheorie hat keine Bedeutung. Sobald jedoch dieser normale Zustand durch einen Vertrauensverlust in die Stabilität des Geldes verloren geht und deshalb größere Mengen von Zentralbanknoten äußerlich in die Warenzirkulation drängen, wird das zuvor bestehende Gesetz des Geldumlaufs durch ein spezifisches Gesetz ergänzt, worin nun die Menge der in die Zirkulation drängenden Banknoten eine zentrale Bedeutung für das Anschwellen der Preise (Inflation von lat. inflatio „Aufblähen“, „Anschwellen“) erhält. Theoriegeschichtlich betrachtet hat Karl Marx in seiner Geldtheorie die Quantitätstheorie des Geldes grundlegend kritisiert, zugleich jedoch das „spezifische Gesetz der Papiergeldzirkulation“ hervorgehoben, das Bedeutung erhalten würde, sobald „das Papier sein Maß, d. h. die Quantität von Goldmünze gleicher Denomination“, die stattdessen zirkulieren müssten, überschreitet. In diesem Zusammenhang spricht Marx „von der Gefahr allgemeiner Diskreditierung“ des Papiergelds. (Marx, Das Kapital, Band I, MEW 23, S. 141f).

12) „Zwischen dem Jahresbeginn und dem 24. Juli hatten internationale Investoren 864,4 Tonnen Gold neu in Gold-Papiere gesteckt, die einen physischen Anspruch auf das Edelmetall bieten. 549 Tonnen davon kamen von US-Anlegern, 275 Tonnen von europäischen Investoren.“ (Veronika Csizi, Goldige Rendite, in: Tagesspiegel vom 30. Juni 2020.) Nach Angaben des World Gold Council befinden sich in den Tresoren und Kellern der großen Gold-Papier-Anbieter inzwischen Goldbarren mit einem Gewicht von 3.621 Tonnen. Die Zuflüsse in Papiergold setzten sich im August fort (netto +38,8 Tonnen).

13) Winand von Petersdorff, Amerikas Bedürftigen droht Hunger, in: FAZ vom 18.7.2020

14) „Es ist zu viel kaputt“, Spiegel-Interview vom 13.6.2020

Editorische Hinweise

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