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Von der LETTRISTISCHEN INTERNATIONALE zur SITUATIONISTISCHEN INTERNATIONALE

von clabauter@gmx.de

1957 war G.E. Debord, als Wortführer der I.L., einer der wichtigsten Betreiber, bei der Gründung einer neuen Internationalen - der "Situationistischen Internationalen" (S.I.). Hier traf Debord mit dem dänischen Maler Asger Jorn zusammen, der durch seine bisherigen Arbeiten die Verbindungen besaß, eine wirklich internationale Organisation aufzubauen. Bald formierten sich kleine situationistische Gruppen, über ganz Westeuropa verteilt, bis Nordafrika (Algerien) und es gab sogar eine amerikanische Sektion. Es muß allerdings gesagt werden, daß es sich dabei um nie mehr als insgesamt 70 Personen handelte.

Die Verhaltensweisen der LettristInnen wurden zum Programm der S.I.: Umherschweifen, Psychogeographie, Konstruktion von Situationen des Aufruhrs, Zweckentfremdung (Entwendung, détournement) aller Mittel und Möglichkeiten, die ihnen zwischen die Finger kamen, und Propagierung eines spielerischen Lebens. (siehe genaueres im 2. Teil).

Die S.I. gab eine Zeitschrift mit metallisch glänzendem Einband heraus, die ebenfalls wie zuvor der Potatch mit einem Anti-Copyright versehen war.

Bis 1962 war die S.I. immer noch eine Gruppe von Malern, Künstlern und Straßenaktivisten. 1961 wären die SituationistInnen von einem reichen Kunstliebhaber - Paolo Marinotti - gesponsort worden, eine Experimentalstadt auf einer kleinen Mittelmeerinsel zu errichten. Er bewilligte alle finanziellen Mittel; in der Stadt sollten emotionale Viertel angelegt werden; es sollte auch ein Viertel der Angst geben. Der Plan scheiterte, denn die SituationistInnen wollten nicht eine Stadt, wie sie in den meisten Utopien entworfen wird, sondern eine gebaute Kritik dieser Ideale, und sie wollten sich auch nicht mit den Abfällen der Industriegesellschaft zufrieden geben. Brisanter jedoch war eine andere Forderung: es sollte der S.I. freigestellt sein, ihre Konstruktion jederzeit in die Luft jagen zu können. Sie wollten nicht, daß eventuell Werbefilmer oder die Mannequins von Marinottis Textilunternehmen vielleicht eines Tages als künstliche Menschen im situationistischen Utopia umherlaufen würden.

Kurze Zeit später verließ die S.I. nun endgültig die Sphäre der Kunst, die sie bis dahin noch auf deren Terrain heftigst angegriffen und sabotiert hatte; danach empfanden sie die Kunst nicht einmal mehr einer derartigen Beachtung für würdig. Nach heftigen Kämpfen innerhalb der Organisation, ob Kunst noch nützlich bei der Schaffung von Situationen sei, wurden alle Maler und Künstler Schlag auf Schlag ausgeschlossen.

Die S.I. wirkte daraufhin eine Zeitlang wieder nur in Paris, wo sie sich mit der Analyse der modernen Warengesellschaft und Aufstandsbewegungen beschäftigte und meiner Meinung nach die effektivste und radikalste Kritik des modernen Kapitalismus ihrer Zeit hervorbrachte. Darauf werde ich noch genauer eingehen.

1966 machten die SituationistInnen erneut von sich reden. In Straßburg gelang es einer Gruppe von S.I. beeinflußten StudentInnen, die Mehrheit in der Studentenvertretung zu erlangen. Daraufhin wandten sie sich an die S.I. und gingen der Frage nach, wieviel Ärger man mit dem zugebilligten Jahresbudget von 1,2 Millionen Franc (damals war das Geld noch mehr wert) anstellen kann. "Wir haben ein Stück Macht," sagten sie, "das wollen wir kaputtmachen. (...) Wir wollen Unruhe stiften, soviel wir können - doch wie?" "Macht es alleine", antwortete die S.I. und fügte ein Zitat hinzu, das Debord einige Jahre davor schrieb: "Eine revolutionäre Organisation darf nie vergessen, daß ihr Ziel nicht darin besteht, die Leute dazu zu bringen, daß sie den Reden fachmännischer Führer lauschen, sondern darin, daß sie für sich selbst reden." Die S.I. machte jedoch noch ein paar Vorschläge, die von den StudentInnen begierigst aufgenommen wurden, u.a. auch den Vorschlag, eine Broschüre zu machen, die dann allerdings doch von einem Situationisten - Mustapha Khayati - verfaßt wurde, als sich herausstellte, daß die studentischen Verschwörer sich als unfähig erwiesen hatten, mit einem eigenen Statement an die Öffentlichkeit zu treten.

Bald waren die Mauern von Straßburg mit Comiczeichnungen vollgeklebt, die schwer verständliche Texte über Weltwirtschaft und Revolution in den Sprechblasen hatten. Bezeichnet wurde dies Aktion als "Die Rückkehr der Colonne Durruti" und war ebenfalls als kleine Broschüre erhältlich. Anläßlich der Eröffnung des Semesters wurde den versammelten StudentInnen die erstgenannte Broschüre überreicht, nachdem die Antrittsrede eines Professors mit reifen Tomaten verkürzt wurde. Der Titel des an eine wissenschaftliche Untersuchung erinnernden Heftchens lautete: "Über das Elend im Studentenmilieu, betrachtet unter seinen ökonomischen, politischen, psychologischen, sexuellen und besonders intellektuellen Aspekten und über einige Mittel, diesem abzuhelfen."

Der erste Satz lautete: "Ohne große Gefahr, uns zu irren, können wir behaupten, daß der Student in Frankreich nach dem Polizisten und dem Priester das am weitesten verachtete Wesen ist ...". Die Broschüre endete mit den Worten:

"Die radikale Kritik und die freie Neukonstruktion aller von der entfremdeten Wirklichkeit aufgezwungenen Werte und Verhaltensweisen sind sein (dem Proletariat, Anm. CB) Maximalprogramm und die befreite Kreativität bei der Konstruktion aller Augenblicke und Ereignisse des Lebens ist die einzige Poesie, die es (das Proletariat, Anm. CB) anerkennen kann; die Poesie, die von allen gemacht wird, der Beginn einer großen revolutionären Fete. Die proletarischen Revolutionen werden Feten sein, oder sie werden nicht sein, denn das von ihnen angekündigte Leben wird selbst unter dem Zeichen der Fete geschaffen werden. Das Spiel ist die letzte Rationalität dieser Fete, Leben ohne tote Zeit und Genuß ohne Hemmnisse sind seine einzig anerkannten Regeln."

Nachdem sie die Schmähschrift verteilt hatten, gaben sie der aufgebrachten Universitätsleitung die Versicherung, sofort alle Ämter niederzulegen, um zu zeigen, was sie von der kleinen Rolle hielten, die ihnen im Demokratiespiel zugedacht war.

Die Broschüre wurde in fast alle Sprachen Europas übersetzt und in den Großstädten verteilt - gemeinsam mit einem Gerichtsurteil, das den SituationistInnen bescheinigte, sie hätten ihre studentischen Kollegen, Professoren, Gott, die Kirche, jede Regierung und das soziale System in der ganzen Welt durch den Schmutz gezogen.

Khayati sagte kurz danach, es sei für die S.I. nur ein kleines Experiment, ein bescheidener Versuch gewesen, die Praxis herbeizuführen, mit der man die Krise der Gesellschaft insgesamt beschleunigen könne.

An Universitäten in ganz Frankreich bildeten sich nach dem Straßburger Vorbild kleine Gruppen und bestürmten die S.I. mit der Bitte nach Instruktionen; die einzige Instruktion der S.I. lautete, daß sie autonom handeln und die Revolte vorantreiben sollen, die ihnen ja selbst etwas bedeute.

1968 war die S.I. wieder beteiligt, die Ereignisse, die unterschwellig rumorten, in einem verschlafenen Vorort von Paris - Nanterre - eskalieren zu lassen.

Ein Häuflein S.I.-Fans, die sich "Les Enragés" (die Wütenden) nannten, kamen in Nanterre zusammen und sprengten zwei Monate lang die Seminare. Sie bemalten die Wände mit Slogans wie: "Die Gewerkschaften sind Bordelle", "Alles zweifelhafte muß angezweifelt werden", "Ich nehme meine Sehnsüchte als Realität, weil ich an die Realität meiner Sehnsüchte glaube" "Je mehr ihr konsumiert, desto weniger lebt ihr" usw.

(Kleine Anmerkung am Rande: Fred Vermorel, ein Freund von Malcolm McLaren - der spätere Manager und Designer der Sex Pistols - und von Jamie Reid, besuchte in dieser Zeit die Pariser Nobeluniversität Sorbonne. McLaren hatte später auch Kontakt zu Christopher Gray, der bis 1967 Mitglied in der S.I. war. Er vermarktete nicht nur die Sex Pistols, sondern auch die Wandparolen von Paris, die er auf T-Shirts drucken ließ. So läßt sich eventuell einer der Gründe erklären, warum die Outfits und die Gesten der Punks so viel Ähnlichkeit mit denen der LettristInnen hatte.)

Die Parolen der Wütenden mit vielen Zitaten aus der Zeitschrift der SituationistInnen verschönerten also die Wände der Universität: "Leben ohne tote Zeit", "Langeweile ist immer konterrevolutionär", "Kunst ist tot - iß nicht von einer Leiche". In den Auseinandersetzungen um Studiumsfragen wurde von der bedrängten Universitätsleitung die Polizei zu Hilfe gerufen, aber auch die konnte die Tumulte nicht unter Kontrolle bringen, und der Aufruhr breitete sich im Mai 68 bis Paris und noch weiter aus.

"Was folgte", hieß es in einem Le Monde-Bericht über die Nacht des 6. Mai 1968, "übertraf an Ausmaß und an Gewalt alles, was an einem ohnehin erstaunlichen Tag geschehen war." Sorgfältig überwachte, gewaltlose Demonstrationen verwandelten sich in einen Potlatch aus Tränengas, Schlagstöcken sowie Brandbomben auf der einen Seite und Pflastersteinen, Barrikaden, brennenden Autos und Molotowcocktails auf der anderen.

Es gab Unibesetzungen, Fabrikbesetzungen. Die Arbeiter, die ihre Fabriken besetzten, handelten nicht aus Solidarität mit den Leuten, die in Paris Randale machten; wie die Leute in Paris, nahmen sie den Zusammenbruch der Autorität zum Anlaß, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Es kam zum größten Aufstand in der Nachkriegsgeschichte Frankreichs, der Staat zog schon das Militär zusammen, um die Erhebungen, die auf die Fabriken übergriffen und zu einem Generalstreik geführt hatte, zu unterdrücken. Charles De Gaulle, der kurz vor der Flucht stand, sagte in einer Fernsehansprache am 7.7. 1968:

"Diese Explosion ist hervorgerufen worden von einigen Gruppen, die sich gegen die moderne Gesellschaft auflehnen, gegen die Konsumgesellschaft, gegen die mechanische Gesellschaft, sei sie nun im Osten oder kapitalistisch im Westen. Gruppen, die im übrigen nicht wissen, durch was sie die bisherige Gesellschaft ersetzen würden, aber die sich an der Negation, der Zerstörung, der Gewalt, der Anarchie ergötzen, die die schwarze Fahne schwingen."

Am 14. Mai vereinigten sich die Wütenden mit der Situationistischen Internationale. Ein Enragé - René Riesel - wurde in das Besetzungskommitee der Sorbonne gewählt. Während einige Wortführer für eine Humanisierung des pädagogischen Apparates eintraten, plädierte Riesel für die Abschaffung der Universität, der Ware, des Klassensystems, der Lohnarbeit und die Enteignung allen Besitzes und aller Macht, sowie einen Neuaufbau des Gemeinwesens als Föderation autonomer, nur sich selbst verantwortlicher Räte. Die "Enragés" und die S.I. handelten im Namen der Versammlung und begannen Kontakte zu den besetzten Fabriken herzustellen, gaben Flugblätter heraus und verschickten Telegramme; so z.B. an das Politbüro der KPdSU im Kreml:

"ZITTERT BUEROKRATEN STOP DIE INTERNATIONALE MACHT DER ARBEITERRAETE WIRD EUCH BALD VOM TISCH FEGEN STOP DIE MENSCHHEIT WIRD ERST AN DEM TAG GLUECKLICH SEIN AN DEM DER LETZTE BUEROKRAT AN DEN GEDAERMEN DES LETZTEN KAPITALISTEN AUFGEHÄNGT WORDEN IST STOP ES LEBE DER KAMPF DER MATROSEN VON KRONSTADT UND DER MACHNOWTSCHINA GEGEN TROTZKI UND LENIN STOP ES LEBE DER RAETEAUFSTAND VON BUDAPEST 1956 STOP NIEDER MIT DEM STAAT STOP ES LEBE DER REVOLUTIONAERE MARXISMUS STOP BESETZUNGSKOMITEE DER AUTONOMEN VOLKSSORBONNE"

Noch am selben Tag verließen sie das Besetzungskomitee, dessen Unentschlossenheit und Zersplitterung sie verurteilten. Mit vierzig anderen rief das Dutzend "Enragés" und SituationistInnen den "Rat zur Aufrechterhaltung der Besetzungen" ins Leben, verbreitete bis zum 15. Juni einige hunderttausend Kopien ihrer Plakate, Manifeste und Comics überall in Frankreich und, in ein halbes Dutzend Sprachen übersetzt, auf der ganzen Welt.

Der Mai 68 von Paris ist mittlerweile fast völlig aus der offiziellen Geschichte verschwunden. Doch während er verschwunden ist, wurde die Rolle, die die S.I. dabei gespielt hat, fast von Anfang an praktisch ausgemerzt. Das liegt sicherlich auch ein stückweit daran, daß sie sich so viele Feinde gemacht haben - und daran, daß die absoluten Forderungen, die sie an das Ereignis gestellt richteten, so extreme Definitionen seines Erfolges und Mißerfolges hinterließen, daß keine vernünftige wissenschaftliche Abhandlung darüber sich auf sie beziehen konnte ohne sentimental, verrückt oder beschämt zu wirken.

Das Ereignis selbst gehorchte jedoch nicht den Gesetzen der traditionell marxistischen Geschichtsschreibung. Es gab keine Wirtschaftskrise; die politische Legitimation war von keinem in Frage gestellt worden, der über ein für diese Infragestellung angemessene Form verfügte. Es gab einen modernen, gut funktionierenden kapitalistischen Wirtschaftsstaat, mit einem Mann von enormem öffentlichem Prestige an der Spitze - Charles de Gaulle.

Aber es gab die Allgegenwart dessen, was Henri Lefèbvre (ein marxistischer Philosoph) später die Negation nannte, die die Moderne in sich birgt: die Ahnung, wie der Situationist Réné Viénet formulierte, daß "das Vertraute im entfremdeten Leben und in der Ablehnung dieses Lebens nicht notwendigerweise bekannt ist."

So enorm die Ereignisse während der Hochphase dieser Kämpfe auch waren, das Ergebnis ist jämmerlich: Bildungsreform für die StudentInnen und eine Lohnerhöhung für die FabrikarbeiterInnen. Auch hier behielten die SituationistInnen einmal mehr recht, als sie zwei Jahre vorher an die paar StudentInnen aus Straßburg schrieben:

"Auch wenn ihr die von der Gesellschaft für euch vorgesehenen Karrieren aufs Spiel setzt, müßt ihr bedenken, daß der Kompromiß keinerlei Schutz gewährt, daß allein der Erfolg des Skandals diejenigen schützt, die ihn auslösen, daß man sich sein eigenes Grab schaufelt, wenn man die Revolution nur halbherzig macht."

Nach mehreren Ausschlüssen und internen organisatorischen Debatten lösten die beiden als letztes verbliebenen SituationistInnen Debord und Sanguinetti die S.I. 1972 auf. Sie veröffentlichten noch ein Zirkular, in dem sie einige wesentlichen Gründe des Scheiterns benennen, aber auch das, was die S.I. erreicht hat:

"Während die Scheinerben des Marxismus in einer mit Positivität vollgestopften Welt den Teil des Negativen vergaßen und damit zugleich die Dialektik ins Museum brachten, verkündigten die SituationistInnen die Auferstehung eben dieses Negativen und erkannten die Wirklichkeit eben dieser Dialektik, deren Sprache und deren aufrührerischen Stil sie fanden." (Debord/Sanguinetti)
  • Anmerkung: Der hier veröffentlichte Text ist Teil einer umfassenden Arbeit zur Geschichte der Situationalistischen Internationale.
    Den gesamten Text gibt es im WWW unter:
    http://machno.hbi-stuttgart.de/~hk/si/index.html
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