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DOKUMENTATION

Gruppe Blauer Montag
August/September 1998

Gegen die Hierarchisierung des Elends
Ueberlegungen zu Prekarisierung, Existenzgeld und Arbeitszeitverkuerzung


Der Hintergrund fuer das folgende Papier sind zwei
unterschiedliche Diskussionsstraenge in ebenfalls jeweils
unterschiedlichen Zusammenhaengen. Zum einen wird die
Prekarisierungsdiskussion aufgegriffen, wie sie in Teilen
der Betriebs- und Gewerkschaftslinken gefuehrt wird. So haben
wir uns etwa seit dem Fruehjahr diesen Jahres an
entsprechenden Debatten im Rahmen der TIE/Express-Treffen
beteiligt. Schwerpunkt dieser Diskussion ist das Verhaeltnis
der "atypischen" oder prekaeren Formen von Arbeit und
Existenzsicherung zum sog. "Normalarbeitsverhaeltnis". Bei
der damit verbundenen Debatte um Kampfmoeglichkeiten und
Kampforientierungen muss sich diese Diskussionen mit
linkssozialdemokratischen Vorschlaegen aus Gewerkschaften und
Parteien auseinandersetzen, die angesichts zunehmender und
unuebersehbarer Luecken tariflicher und betrieblicher
Regulierungsmoeglichkeiten auf eine neue, staatlich
organisierte Regulierung von Arbeitsbedingungen und
Existenzsicherung setzen. Der zweite Diskussionsstrang, der
in dieses Papier eingegangen ist, bezieht sich auf unsere
Auseinandersetzung mit den Forderungen nach Existenzgeld und
Arbeitszeitverkuerzung. Hier war der unmittelbare Anlass ein
Debattenvorschlag der Gruppe F.e.l.S aus Berlin, die damit
alte Diskussionen der gewerkschaftsunabhaengigen
Erwerbslosenbewegung aufgegriffen hat und mit dieser
Orientierung fuer einen groesseren internationalen Kongress zur
Krise der Arbeitsgesellschaft in Berlin mobilisiert.

Wir haben lange ueberlegt, ob wir zwei getrennte Papiere
veroeffentlichen sollten, die sich dann deutlich auf die
jeweiligen Diskussionszusammenhaenge bezogen haetten.
Letztlich haben wir uns aber doch zu dem Versuch
entschlossen, beide Diskussionen, die in unseren Augen
zusammengehoeren, auch zusammenzufuehren; daher ein
zusammenhaengender Text. Gleichzeitig haben wir uns im Laufe
der Diskussion von den unmittelbaren "Vorlagen" entfernt und
legen hiermit einen allgemeineren Diskussionsbeitrag vor,
mit dem wir in diese laufenden Auseinandersetzungen
eingreifen wollen. Im ersten Teil gehen wir auf die Debatte
um prekaere Beschaeftigungsverhaeltnisse ein. Unsere These ist
dabei die, dass es bei der Prekarisierung letztlich um eine
allgemeine Neudefinition dessen geht, was heute "normale"
Arbeit ist. Im zweiten Teil stellen wir die Verbindung zu
der Debatte um Existenzgeld und Arbeitszeitverkuerzung her.
Beide Forderungen werden dabei nicht zu einer wirklich
gemeinsamen Klammer der Kaempfe von (prekaer) Beschaeftigten
und Erwerbslosen fuehren, so lange sie nur als Forderungen
nach gesetzlichen Massnahmen verstanden werden. Das aendert
sich dann, wenn diese Forderungen in jeweils
unterschiedlicher Form die Weigerung transportieren, das
eigene Leben bedingungslos den Anforderungen "der Arbeit" zu
unterwerfen.

I. Prekarisierung - Ueberlegungen zu einer prekaeren Debatte
Kampf um das "Normalarbeitsverhaeltnis"

Die Prekarisierungsdiskussion krankt an der Unschaerfe des
Begriffs, und die Unklarheiten nehmen noch zu, weil Sinn und
Zweck der Debatte nicht deutlich werden. Ganz zu schweigen
von den politischen Schlussfolgerungen, den
Handlungsorientierungen. Um es gleich vorweg zu sagen: Es
macht keinen Sinn, Prekarisierung oder Prekaritaet als
Begriff anzuwenden, um eine bestimmte Gruppe, Schicht oder
gar Fraktion der Lohnabhaengigen definieren zu koennen. Es
gibt keinen "positiven" Begriff von Prekarisierung, er macht
nur Sinn im Verhaeltnis zum sogenannten
Normalarbeitsverhaeltnis. Deshalb bevorzugen ja auch andere -
wie etwa Karl Heinz Roth - den Begriff der "atypischen"
Beschaeftigungsverhaeltnisse. Was aber ist nun "Norm" bzw.
"typisch"?

Auch auf die Gefahr hin, dogmatisch-abstrakt zu erscheinen,
wollen wir zunaechst etwas Grundsaetzliches hervorheben: Es
gibt im Kapitalismus prinzipiell keine  garantierten
Beschaeftigungsverhaeltnisse. Das einzige, was wirklich
garantiert bleibt, solange das Kapital durch
Klassenherrschaft existiert, ist die Lohn abhaengigkeit
(nicht bloss von Einzelpersonen, sondern von privaten
Haushalten). Und die Grundform dieser Lohnabhaengigkeit ist
prekaer. Im aelteren Wortschatz hiess dies einmal:
"Proletaritaet", die garantierte Unsicherheit der
Lebensbedingungen. Was wir Normalarbeitsverhaeltnis nennen,
ist keine Norm kapitalistischer Reproduktion im allgemeinen
Sinne - auch historisch galt diese Norm  weltweit  ja nie -,
sondern ein  historisches Verhaeltnis , geronnen in dem, was
neuerdings "fordistischer Klassenkompromiss" genannt wird.
Dieser Klassenkompromiss war kein Handel zwischen Gleichen,
er ging vielmehr aus Klassenkaempfen hervor und beruhte, wenn
auch vermittelt in vielen Formen von gesellschaftlichen
Auseinandersetzungen, auf einem permanenten Klassenkonflikt.
Im Kern enthielt dieser Kompromiss einen  Deal  mit
wechselseitigen "Garantien". Dieser Deal beinhaltete
einerseits einen stoerungsfreien Ablauf der Produktion, was
ein erhebliches Ausmass an Regulierung und Kontrolle der
Arbeitskraft nach sich zog. Dafuer war insbesondere die
institutionelle Arbeiterbewegung (Gewerkschaften,
Betriebsraete, Linksparteien) mit zustaendig. Andererseits
handelte sich diese Arbeiterbewegung dafuer einen relativen
Massenwohlstand, auch als Massenwohlfahrt in
Sozialstaatssystemen, ein.

Dieser Klassenkompromiss, und damit auch das historische
Normalarbeitsverhaeltnis, ist nicht nur von oben aufgekuendigt
worden. Spaetestens Ende der 60er Jahre zeigten sich
Blockaden, Stoerungen im Produktionsprozess - teils durch
offene Revolten in den Fabriken, teils durch stille
Renitenz; jedenfalls ein deutliches Bewusstsein von der
eigenen Macht in der Produktion und ein starkes Beduerfnis,
gegen den Arbeitsdruck und die Arbeitsbedingungen
vorzugehen. Die Widerstaendigkeiten gegen die Bedingungen der
Produktion bedeuteten natuerlich nicht, dass Ansprueche auf
staatliche Transferleistungen aufgegeben worden waeren. Sie
bedeuteten auch keine bewusste Ablehnung des gesamten
fordistischen Modells. Dennoch kollidierte die Ablehnung der
spezifischen Produktionsform sofort mit diesem Modell
kapitalistischer Vergesellschaftung, seine Grenzen waren
damit gesetzt. Daraufhin begannen in den 70ern die Angriffe
der herrschenden Klassen, mit denen ein neues
Ausbeutungsmodell mit hoeheren Ausbeutungsraten durchgesetzt
werden sollte. Diese Angriffe wurden in den 80ern wesentlich
intensiviert und von den konservativen Regierungen
weitergefuehrt. In Laendern mit einer stark entwickelten
Arbeiterbewegung und entsprechenden Machtpositionen in
Betrieb und Gesellschaft ging das nur in heftigen Bruechen,
schweren Kaempfen vor sich - extrem etwa in Grossbritannien.
In der BRD vollzog sich dieser Prozess eher schritt- und
scheibchenweise, bis etwa Anfang der 90er Jahre.
Prekarisierung , wie sie schon damals diskutiert wurde,
bedeutet: Mit Hilfe von Deregulierung der Arbeitsmaerkte und
Entrechtung der Lohnabhaengigen einerseits und einem
erheblichen Druck auf die Sozialleistungen andererseits wird
der  Zwang zur Arbeit  verschaerft durchgesetzt.

Schon seit Anfang der 80er Jahre gibt es eine Debatte ueber
Prekarisierung. Nur hat sie erst in den vergangenen Jahren
an Breite gewonnen. Das beruht offensichtlich auf der
beschleunigten Ausweitung prekaerer
Beschaeftigungsverhaeltnisse. Aber wenn diese ins Verhaeltnis
zum Normalarbeitsverhaeltnis gesetzt werden, dann faellt
schnell auf, dass die Prekarisierungsdebatte in demselben
Masse zunimmt, wie der Begriff Prekarisierung an Trennschaerfe
verliert. Die Trennschaerfe schien Anfang der 80er Jahre noch
gegeben, als sich recht deutlich voneinander unterscheidbare
Gruppen ausmachen liessen, damals insbesondere durch die
Unterscheidung zwischen Rand- und Stammbelegschaften. Fast
alle Statistiken von prekaeren Beschaeftigungsverhaeltnissen
orientieren sich an dieser Unterscheidung. Wie wenig
Trennschaerfe jedoch heute noch gegeben ist, sieht man an der
Einordnung von Teilzeitkraeften als prekaere Verhaeltnisse (in
einigen Statistiken) und ihrer Auslassung (in anderen
Statistiken). Gleiches gilt fuer die Erfassung von
tarifierten Bereichen. Kann jemand genau erfassen, wieweit
sich Tarifpraxis und Tariflosigkeit in vielen Einzelfaellen
noch voneinander unterscheiden?

Die Schwierigkeit, den Prekarisierungsbegriff zur Analyse
von unterscheidbaren sozialen Gruppen anzuwenden, deutet auf
das Ausmass hin, mit dem Prekarisierung  als Tendenz  schon
fortgeschritten ist. In dem Zusammenhang, wie hier
Prekarisierung im Verhaeltnis zum historischen
Normalarbeitsverhaeltnis bestimmt wurde, ergibt sich daraus
eine erste, grundsaetzliche Schlussfolgerung:  Prekarisierung
ist nicht (nur) die Schaffung von Sonderverhaeltnissen neben
einem unberuehrten Normalarbeitsverhaeltnis, sondern gehoert zu
jenen Prozessen, die zusammengenommen historisch neu
definieren, was als Norm fuer Arbeitsverhaeltnisse zu gelten
hat.  In jedem Fall handelt es sich also um ein
Kampfverhaeltnis, etwas, das weder statisch in Tabellen
einzufrieren noch als schematisches Szenario in die Zukunft
hinein zu verlaengern ist. Und es handelt sich um ein
Kampfverhaeltnis, das in jedem Fall den gesamten Zusammenhang
der lohnabhaengigen Klasse, das gesamte Klassenverhaeltnis
betrifft. Wohlgemerkt, das gilt fuer die historische Analyse,
es ist aber schon ein Hinweis darauf, dass der Schluessel fuer
den Kampf gegen die Prekarisierung weder allein in dem einen
noch in dem anderen Sektor der Klasse zu finden ist.

Re-Regulierung oder De-Regulierung?

Natuerlich bleibt die Ungleichheit zwischen den
Lebensbedingungen, vor allem aber zwischen den
Kampfbedingungen der verschiedenen Sektoren der Klasse
enorm. Nur ist dies kein Beleg dafuer, dass zwischen
Prekarisierung und Normalarbeitsverhaeltnis klar zu trennen
waere. Die Ungleichheit ist naemlich Voraussetzung dafuer, dass
sich die sogenannten typischen Arbeitsverhaeltnisse den
atypischen angleichen, die prekaeren Arbeitsverhaeltnisse also
zur Norm werden. Dies wiederum ist Voraussetzung dafuer, dass
dann Menschen in noch miesere Arbeitsbedingungen getrieben
werden. Wie weit diese Schraube bereits angezogen worden
ist, kann an der Erosion der kollektivvertraglichen
Regulierung, der Tarifpolitik und der kaum noch zu
erkundenden Grauzone von Tarifpraxis abgelesen werden.

Nun bietet diese Entwicklung zwar allerhand Stoff fuer dunkle
Szenarien, aber es ist auch Vorsicht angesagt, was derartige
Horrorprognosen betrifft. Einmal abgesehen davon, dass die
Aufloesung des bisherigen Normalverhaeltnisses noch keineswegs
vollstaendig vollzogen ist, bleibt auch fraglich, ob eine
totale Deregulierung wirklich im Interesse der herrschenden
Klasse liegt. Ein voelliges Tabula rasa in der Tarifpolitik
und den arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen bedeutet ja
zugleich einen erheblichen Kontrollverlust ueber die
Arbeitskraft. Regulierung oder Re-Regulierung heisst daher
immer auch Kontrollgewinn ueber die Arbeitskraft, Rueckkehr
zum organisierten Pakt fuer eine stoerungsfreie Produktion. Es
gibt schon heute einige Erfahrungen damit, dass bereits erste
Anzeichen eines ernsthaften Widerstandes zu schnellen
Regulierungsangeboten seitens der Unternehmer fuehren koennen.
Auf der anderen Seite hat sich auch die Sichtweise seitens
der Gewerkschaften ein wenig veraendert. Deren Politik konnte
man bis vor einigen Jahren - und heute noch ueberwiegend - so
charakterisieren: der Prekarisierung widerstehen, um die
Kontrollmoeglichkeiten im Betrieb zu behalten. Was aber nicht
hiess, Prekarisierte in Richtung auf kollektive Kaempfe zu
organisieren, sondern sich in den Betrieben gegen die
Bedrohung von aussen zu verbarrikadieren. Die Wirklichkeit
hat diesen hartnaeckigen Widerstand zur Bestandssicherung der
Stammbelegschaften mehr und mehr ins Leere gehen lassen.
Sicher dominiert diese Haltung noch innerhalb der
Gewerkschaften, aber die ploetzliche Bereitschaft zur Debatte
ueber Prekarisierung ist letztlich der Erfahrung zu
verdanken, dass die Staumauern zwischen Rand- und
Stammbelegschaften zwar noch nicht eingebrochen, aber
bereits kraeftig unterspuelt worden sind.

In den Gewerkschaften wird sehr wohl gesehen, dass der
Bereich, der tarifpolitisch nicht abgedeckt wird, immer
groesser wird. Auch der Druck auf die Sozialleistungen kann im
tarifierten Bereich kaum noch aufgefangen und durch
Tarifvereinbarungen ausgeglichen werden. Diese Luecke kann
nach der Logik gewerkschaftlicher Politik - und auch nach
der Logik etwa massgeblicher PDS-PolitikerInnen - nur durch
eine arbeitsmarkt- und sozialpolitische Gesetzgebung gefuellt
werden. Grundsicherung, gesetzliche Arbeitszeitregelungen,
Mindestlohn usw. - dies alles sind Stichworte fuer eine
Re-Regulierungspolitik. Nun wird niemand etwas gegen eine
Verbesserung der gesetzlichen Regelungen haben, - es ist ja
nicht alles reformistisches Teufelswerk, was das Leben
besser macht. Aber hier druecken sich Gewerkschaften und
linke Sozialpolitiker nur gleichermassen um das Problem: Denn
was koennen die parlamentarischen Sozialpolitiker schon im
Gesetzeswerk bewegen, wenn es keine ausserparlamentarische
soziale Mobilisierung, also Kaempfe gibt?

Wenn es stimmt, dass Prekarisierung der Angriff auf und der
Kampf um die  Norm  der Arbeitsverhaeltnisse ist, dann laesst
sich jetzt schon sagen, dass eine Re-Regulierung von
staatswegen nur auf dem Niveau stattfinden wird, das
entweder kaempfend oder eben kampflos erreicht wurde. Wuerde
sich die herrschende Klasse auf dem heutigen Stand auf eine
Neuregulierung einlassen, kaeme exakt das dabei heraus, was
zum Beispiel in Grossbritannien unter New Labour geschieht
und moeglicherweise in der BRD unter Schroeders Rot-Kohl auch
ansteht: Einfrieren des Status quo und damit Festschreibung
aller bisherigen Angriffe des Kapitals und Niederlagen des
marginal gebliebenen sozialen Widerstandes.

Arbeit, Einkommen und die Hierarchie des Elends

Alles deutet darauf hin, dass die absolute Arbeitszeit
ausgeweitet wird, dass die Menschen immer mehr Zeit mit
(Lohn-)Arbeit verbringen. Nicht nur der Blick auf das
"amerikanische Jobwunder" zeigt, dass die Forderung nach
"Vollbeschaeftigung" z.Z. auf unheimliche Weise erfuellt wird.
Auf aehnlich unheimliche Art und Weise verwirklicht sich
damit auch die alte radikale Forderung nach einer
Entkoppelung von Arbeit/Produktivitaet und Einkommen: Frueher
hiess es "Mehr Lohn, weniger Arbeit". Existenzsichernde und
menschenwuerdige Einkommen sollten unabhaengig von der
Arbeitsleistung sein. Heute hingegen werden fuer immer
niedrigere Loehne immer laengere Arbeitszeiten und immer
schlechtere Arbeitsbedingungen akzeptiert. Hier hat nicht
nur die Erwerbslosigkeit an sich, sondern insbesondere die
Durchsetzung prekaerer Beschaeftigungsverhaeltnisse - mit den
darin typischen hohen Ausbeutungsraten - schon Massstaebe
gesetzt. Wenn heute ArbeiterInnen einer
Arbeitszeitverlaengerung zustimmen, weil sie so ihr Einkommen
in der gewohnten Hoehe behalten, dann kommt das einem totalen
Zusammenbruch an gewerkschaftlichem Bewusstsein gleich -
wohlgemerkt, ein ganz normales Lohnabhaengigenbewusstsein im
Kapitalismus! Sich im Widerstand gegen Prekarisierung des
Normalarbeitsverhaeltnisses auf das soziale Masseneinkommen
zu reduzieren, ohne zugleich die Arbeitsbedingungen -
Arbeitszeit und Intenstitaet der Arbeit - zu thematisieren,
ist fahrlaessig; und zwar deshalb, weil dann nur noch der
Schein von sozialer Gerechtigkeit aufrecht erhalten wird,
waehrend der wirkliche Erfolg der neoliberalen Politik
unangetastet bleibt: dass Arbeit immer billiger wird.

Wer kaempft mit wem und gegen wen? Es gibt eine fatale Schere
im Massenbewusstsein: auf der einen Seite die Tendenz zur
entwuerdigenden Haltung "Nehme jede Arbeit an"; auf der
anderen Seite das Bewusstsein einer konservativen
Besitzstandswahrung - bei Beschaeftigten, die das Recht auf
kollektivvertraglichen Schutz zum Privileg umwandeln. Ein
Recht kann zum Privileg verwandelt werden, wenn seine
Allgemeingueltigkeit in Frage gestellt wird (Wir erinnern
hier nur an die heftigen Widerstaende gegen Illegale statt
gegen Illegalisierung). Verstaerkt werden diese Fronten im
Massenbewusstsein durch eine Hierarchisierung des Elends,
worin leider Linke die groessten Meister sind.
Argumentationsmuster wie "Euch geht's ja noch gut, ihr
profitiert vom Elend der Armen und Entrechteten"
reproduzieren bei den fest Beschaeftigten nur das Bewusstsein
vom Glueck und Privileg: "Warum soll ich noch kaempfen, wenn
es anderen doch noch viel schlechter geht?"

Es gibt aber auch die Moeglichkeit der Umkehrung: vom
Privileg zum Recht. Das bedeutet, den Kampf fuer sich
zugleich  fuer alle  zu fuehren. Und wenn es etwas gibt, das
die vielzitierten und haeufig mystifizierten Erfahrungen in
Frankreich zu Lehren fuer uns werden laesst, dann ist es diese
Oeffnung. Es gaebe kaum eine derartig wirksame Bewegung von
Prekaeren und Erwerbslosen in Frankreich, wenn nicht zuvor
eine allgemeine soziale Bewegung aus dem Kampf eines -
durchaus "privilegierten" - Sektors des traditionellen Kern
der Lohnabhaengigen hervorgegangen waere. Am Anfang stand die
Orientierung: "Was wir fuer uns tun, tun wir fuer alle!"
Mittlerweile heisst es schon haeufiger: "Nichts fuer uns, alles
fuer alle!"

Solidaritaet und Ausgrenzung bestimmen sich nicht danach, wer
wo in der Hierarchie des Elends steht, sondern danach, ob
und wofuer  gekaempft  wird. Ein Kampf gegen illegale
Beschaeftigungsverhaeltnisse der von "Legalen" fuer und mit
"Illegalen" gefuehrt wird, ist richtig und notwendig.
Umgekehrt kann ein Kampf fuer allgemeine Rechte nicht deshalb
aufhoeren, weil prekaer Beschaeftigte - zum Beispiel waehrend
eines Streiks - ihrer Arbeitsmoeglichkeiten beraubt werden;
als Streikbrecher waeren sie "Schmutzkonkurrenz". Wenn aber
Festbeschaeftigte sich um ihren Betriebsrat und die
Gewerkschaft scharen, um sich die Prekaeren mit Hilfe der
institutionellen Politik ausgrenzend vom Hals zu halten,
sind diese Festbeschaeftigten selbst die Schmutzkonkurrenz.

Bewegung nur auf dem Papier?

Alle fuer sich und niemand fuer alle, so sieht es im Moment
aus. Selbst wenn wir jetzt, noch immer stark vermittelt ueber
die institutionelle Gewerkschaftspolitik, Erfahrungen mit
Erwerbslosenaktionen gewonnen haben, hat sich an der
Selbstbezogenheit von Teilbereichsinitiativen sehr wenig
geaendert. Natuerlich ist es eine neue und positive Erfahrung,
wenn Erwerbslose selbstbewusst fuer sich eine politische
Oeffentlichkeit herstellen. Das kann Rueckwirkungen haben bei
den Beschaeftigten, aber wer nimmt diese Rueckwirkungen auf,
und wie? Zwischen den Aktiven in den Betrieben, auch den
Betriebslinken, und den sozialen Initiativen liegen Welten.

Aus dem bislang Gesagten geht wenigstens eines hervor: Es
macht keinen Sinn, wenn die bruechigen oder gerade erst
entwickelten Organisations- und Kommunikationsstrukturen in
dem einen Bereich zugunsten eines anderen aufgegeben oder
aufgeloest wuerden. Der entscheidende Fortschritt tritt auf
beiden Seiten erst ein, wenn Debatten und
Organisierungsversuche aufeinander bezogen werden. Hier ist
ja immer von der "Klasse" die Rede, ihren inneren Bruechen,
aber auch von der Notwendigkeit, das gesamte
Klassenverhaeltnis im Blick zu behalten. Die Wortwahl,
"Klasse", ist noch ganz Ausdruck der jetzigen Misere, dass
wir uns naemlich in den grossen Bezuegen auf die
Klassenverhaeltnisse und moegliche Bewegungen immer noch in
der Phase des Trockenschwimmens befinden. Wenn Initiativen
und Bewegungen einmal tatsaechlich fusionieren, also so etwas
wie eine  Soziale Bewegung  existiert, die in der Praxis
sehr wohl weiterhin aus Teilbereichsaktivitaeten bestehen
wird (Es sei denn, sie naehme den schrecklichen Weg, ihr
Schicksal einer Partei zu ueberantworten), dann wird statt
des kargen Worts "Klasse" eben nur noch von dieser Sozialen
Bewegung die Rede sein.

Das kann in der heutigen Praxis gewiss nicht kuenstlich herbei
gefuehrt, allenfalls in Debatten vorweggenommen werden. Was
heute schon praktisch moeglich ist, das ist freilich die
Verweigerung von Identitaeten, die nur die Hierarchie des
Elends reproduzieren . Als entscheidenden Fortschritt in den
franzoesischen Bewegungen haben Aktivisten von  AC!  die
Ueberwindung der Erwerbslosen-Identitaet genannt: Sie seien
vom Ausgangspunkt her nicht Erwerbslose oder Beschaeftigte
gewesen, sondern haetten zum Grundsatz gemacht, dass jeder
Erbwerbslose ein potentieller Erwerbstaetiger und jeder
Erwerbstaetiger ein potentieller Erwerbsloser sei. Das
zusammen ergibt die  Prekaritaet . Ein qualitativer Sprung
waere erreicht, wenn in den Aktivitaeten von Betriebslinken
und Menschen aus den sozialen Initiativen ein aehnlicher
Bezug aufeinander hergestellt werden koennte. Auch wenn
Welten zwischen den Bereichen liegen und die Kampfformen und
-bedingungen sehr verschieden sind - die Inhalte einer
radikalen Orientierung z.B. von Grundsicherung und
Arbeitszeitverkuerzung als gemeinsame Bezugspunkte sind
keineswegs so weit voneinander entfernt.

In der jetzigen Situation ist deshalb diese inhaltliche
Debatte selbst eines der wichtigsten Momente der
Organisierung. Sie ist real die "Vernetzung", von der
andauernd die Rede ist und deren Einforderung ein Uebermass an
Verbindungen herstellt, Verbindungen, in denen viel
geschieht, jedoch auch nur wenig kommuniziert wird. Sich zu
organisieren, heisst nicht, den Ort der eigenen Praxis zu
verlassen, sondern sich in der Debatte jedem Modell eines
privilegierten Ortes - etwa der Zentralitaet des
Grossbetriebes und der Fabrik oder der rein lokalen
Organisierung in Soziallaeden und Sozialzentren - zu
verweigern.

II. Kampf gegen die(se) Arbeit

Gerade die Forderungen nach Existenzgeld und
Arbeitszeitverkuerzung (AZV) zeigen, wie schwach die
inhaltlich Bezugnahme unterschiedlicher Diskussionen
ausgepraegt ist. Obwohl diese Forderungen sowohl im Rahmen
der Prekarisierungsdiskussion als auch bei den (neuen)
Erwerbslosenprotesten eine erhebliche Rolle spielen, ist es
bisher nicht gelungen, eine gemeinsame  inhaltliche  Klammer
in diesen Diskussionen zu entwickeln. Dies liegt auch an der
Art und Weise, wie diese Forderungen heute i.d.R. vertreten
werden, naemlich losgeloest von der urspruenglich in ihnen
enthaltenen Kritik an der (Lohn-)Arbeit. Gerade in der
radikalen Kritik der real existierenden Arbeit liegt aber
der Schluessel fuer eine inhaltliche Klammer, die ueber
zugewiesene Identitaeten hinausgeht. Es geht darum, den
umfassenden Anspruch des Kapitals auf die grenzen- und
bedingungslose Verfuegbarkeit ueber die Ware Arbeitskraft
zurueckzuweisen. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum
muss nicht erst "verdient" werden; der Zwang, arbeiten gehen
zu muessen, bedeutet nicht, dass die Ansprueche an
Arbeitsbedingungen, Loehne etc. unberechtigt waeren. Und vor
allem bedeutet dieser Zwang nicht, dass man sich fuer "die
Arbeit" entwuerdigen muss. Eine solche Orientierung gegen die
Unterwerfung des eigenen Lebens unter die Arbeit waere eine
inhaltliche Gemeinsamkeit sowohl der Kaempfe gegen
Prekarisierung als auch derjenigen der Erwerbslosen.
Unterschiedliche Forderungen wie z.B. Existenzgeld oder
Arbeitszeitverkuerzung koennen dann Ausdruck einer gemeinsamen
inhaltlichen Stossrichtung sein.

Existenzrecht unabhaengig von Arbeit

Die Existenzgeldforderung entwickelte sich in der
politischen Auseinandersetzung der BRD Beginn der achtziger
Jahre. Die gewerkschaftsunabhaengigen Erwerbslosen- bzw.
Jobberinitiativen stellten sie ausdruecklich den
gewerkschaftlich orientierten Forderungen nach Arbeit fuer
Alle und Arbeitszeitverkuerzung entgegen. Es sollte nicht
mehr um einen Platz im Verwertungssystem der Lohnarbeit
gekaempft werden, sondern um die Anerkennung einer
Existenzberechtigung fuer jede unabhaengig von ihrer
Verwertbarkeit. Die Forderung richtete sich nicht an den
Staat, sondern war als Orientierung fuer die Kaempfe gedacht,
die in den achtziger Jahren um die Fragen von Arbeit und
Einkommen erwartet wurden. Folgerichtig wurde die Forderung
in den ersten Jahren ausdruecklich nicht beziffert. Vielmehr
suchte man nach Aktionsformen, die ausdruecken: "Wir nehmen
uns, was wir brauchen!" Diese Forderung drueckte sich in
vielen Aktionen aus, die teilweise in erbitterten
Auseinandersetzungen mit anderen Teilen der
Erwerbslosenbewegung durchgesetzt wurden: Forderungen nach
Nulltarif fuer (mindestens) alle oeffentlichen Einrichtungen
wie Nahverkehr, Kultureinrichtungen, Schwimmbaeder,
Buechereien, Volkshochschule etc., aber auch Mietstreiks,
Besetzungen, Nachdrucken von Fahrausweisen oder die
gemeinsame Beschaffung von Lebensmitteln und anderen
benoetigten Dingen

Um den Unterschied in der Orientierung zu den seit einigen
Jahren diskutierten "Grundsicherungsmodellen" deutlich zu
machen, geben die Erwerbsloseninitiativen seit etwa 1992
auch eine Hoehe an. Zwischen 1200,-DM bis 1500,- DM plus
Mietkosten fuer jede/n wird gefordert. Unabhaengig vom exakten
Betrag ist aber der Gedanke wesentlich, dass auch ohne den
Zwang - oder die Moeglichkeit - zur entfremdeten Arbeit eine
Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum moeglich sein soll.
Dennoch ist klar, dass durch diese Festlegung auf einen
Betrag viele Kompenenten der urspruenglichen Forderung nicht
mehr mitgedacht werden.

Damals wurde die Existenzgeldforderung von einer politischen
Bewegung getragen. Die Hoffnung auf eine massenhafte
Bewegung von Erwerbslosen, SozialhilfeempfaengerInnen oder
prekaer Beschaeftigten, also all denen, die aus dem
Normalarbeitsverhaeltnis herausfielen und -fallen, hat sich
in den vergangenen 15 bis 20 Jahren aber nicht erfuellt.
Warum sollten auch ausgerechnet diejenigen die Vorkaempfer
gegen die gesellschatlichen Enrwicklungen sein, die aus den
sicher scheinenden Lebenssituationen ausgeschlossen werden?
Hinzukommt, dass Bewegungen, die Menschen auf eine bestimmte
Lebenssituation festlegen und entsprechende
Teilbereichs identitaeten  formulieren, letztlich
Spaltungsmechanismen nachvollziehen:
hier die Erwerbslosen, dort die Beschaeftigten und
schliesslich noch die Fluechtlinge.

Die politische Bewegung von damals gibt es derzeit nicht.
Was es heute noch in grosser Zahl gibt, sind kleine, sehr
unterschiedlich orientierte Gruppen mit dem
Themenschwerpunkt Erwerbslosigkeit ohne einen klar
erkennbaren Bezug aufeinander. Das wird auch nicht durch die
erfreuliche Entwicklung des Fruehjahres 1998 mit den
Erwerbslosenaktionstagen relativiert. So wunderbar es ist,
dass wieder in vielen Staedten Menschen auf die Strasse gehen
um gegen die Erwerbslosigkeit und die damit verbundene
Ausgrenzung zu protestieren, sowenig kann hier von einer
politischen Bewegung mit erkennbaren gemeinsamen Zielen oder
Strategien gesprochen werden. Die direkte Aneignung, und sei
es symbolischer Art, ist nur sehr vereinzelt Bestandteil
dieser Aktionstage. Das politische Vakuum, das entsteht,
wenn nicht mehr erfolgreich die Teilhabe aller Menschen am
gesellschaftlichen Leben und Reichtum eingefordert werden
kann, wird ueberbrueckt durch die Forderung an die Regierenden
nach "Arbeit" und nach Ruecknahme der letzten Verschaerfung.
Bestenfalls koennte ein so orientierter Protest eine neue
Festschreibung auf erreichtem schlechten Niveau sichern. Das
waere zwar immer noch besser, als weitere Verschlechterungen,
hat aber mit der Existenzgeldforderung nichts zu tun.

Verblueffenderweise ist aber gerade im jetzigen Protest die
Forderung auf dem Papier viel unumstrittener als es Anfang
der achtziger Jahre der Fall war. Das ist nur erklaerbar ueber
eine Aenderung des - gedachten - Inhaltes. Reduziert auf eine
Geldforderung an den Staat, deren Hoehe dann allemal von
politischen Kraefteverhaeltnissen bestimmt wuerde, werden all
die weitergehenden Vorstellungen von einer Teilhabe am
gesellschaftlichen Reichtum ausgeblendet. Dabei geraten die
Vorstellungen darueber, wie diese Teilhabe denn praktisch
aussehen muesste, gleich mit aus dem Blick.

Arbeitszeitverkuerzung wozu?

Es ist nicht verwunderlich, dass der konkrete Inhalt der
Forderung nach Arbeitszeitverkuerzung eine vergleichbare
Entwicklung erlebte wie die Existenzgeldforderung. Sie ist
heute fast unumstritten, dafuer aber eines klaren Inhalts
beraubt.

Die urspruengliche gewerkschaftliche Forderung entstand zu
einer Zeit, als der Einfluss auf die Gestaltung der Arbeit -
jedenfalls in den Debatten - noch eine wesentliche Rolle
spielte. Arbeitszeitverkuerzung meinte eine Verringerung der
Arbeitsmenge bei Erhalt der Einkommensmoeglichkeit und -hoehe.
Die Verwirklichung dieser Idee haette eine weit staerkere
Einflussnahme auf den Inhalt der Arbeit vorausgesetzt, als
sie dann moeglich war. Tatsaechlich ist es in den letzten
Jahren zwar gelungen, Arbeitszeitverkuerzung tarifpolitisch
zu vereinbaren. Die Einflussnahme auf die Gestaltung und
Organisation der Arbeit hat jedoch eher ab- als zugenommen:
Arbeitsverdichtung, vermehrter Einsatz von
LeiharbeiterInnen, Vergroesserung der nicht mehr tarifierten
Bereiche innerhalb eines Betriebes, Auslagerung von
Produktion, untertarifliche Bezahlung als Regel in
zahlreichen Branchen. All diese Veraenderungen der Arbeit
waren Gegenstand von Auseinandersetzungen, die schliesslich
bis heute weitgehend erfolglos blieben.

Die Erfolglosigkeit liegt vor allem darin, dass die
Verfuegungsmoeglichkeit ueber die Arbeit heute mehr als vor
zwanzig Jahren den Chefs zugestanden wird. Das Bewusstsein,
dass die Lohnabhaengigen auf die Gestaltung ihrer Arbeit einen
Anspruch erheben koennten, ist geringer geworden. Nicht erst
seit den Debatten um den Standort Deutschland machen deshalb
die Beschaeftigten die Probleme der Chefs zu ihren eigenen:
"Wie soll der Betrieb kurze Arbeitszeiten, viel Urlaub und
hohen Lohn erwirtschaften?" Mit solchem Denken ist der
Erpressung von oben nicht viel entgegenzusetzen.

Die Entwicklung der AZV-Forderung hat zu diesem Denken
beigetragen. In erster Linie wurde ueber die Verteilung der
Produktivitaetsgewinne diskutiert: Lohnerhoehungen oder
kuerzere Arbeitszeit. Es stand nicht das Lebensgefuehl im
Vordergrund "Wir wollen weniger kaputt nach Hause kommen,
aber das Gleiche verdienen". Es gab keinerlei betriebliches
Selbstbewusstsein dafuer, dass der Anspruch berechtigt sein
koennte, nicht kaputt nach Hause zu kommen. Oder es wurde
zugelassen, dass innerhalb des Betriebes KollegInnen als
LeihartbeiterInnen o.ae. weniger Geld fuer die gleiche Arbeit
bekamen. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich die
Arbeitszeitverkuerzung zu Lohnkuerzung und Arbeitsverdichtung.
Dabei war den KollegInnen eine verkuerzte Arbeitszeit weit
weniger wichtig als ein gesichertes Einkommen oder der
Erhalt des Arbeitsplatzes. Das fuehrte dazu, dass in
zunehmenden Bereichen der Tarif nur noch auf dem Papier
steht. So trifft man etwa im Bereich Metall und
Elektroindustrie betriebliche Vereinbarungen zwischen 28.8
Stunden und ueber 40 Stunden Regelarbeitszeit, und das nicht
nur in kleinen Betrieben.

Die flexible Verfuegbarkeit wurde in den letzten Jahren in
vielen Betrieben Normalitaet, mit Unterstuetzung grosser Teile
der Gewerkschaften, mit Unterstuetzung der Betriebsraete
sowieso. Mit Arbeitszeitverkuerzung ist so immer oefter nur
noch eine Anpassung an die Auftragslage gemeint. Wenn der
Laden nicht laeuft, beinhaltet diese Tendenz die Verringerung
der Arbeitzeit bei voller Lohnkuerzung oder auch die
Verlaengerung ohne Ueberstundenzuschlaege. Fuer mehr Freizeit
und das Beduerfnis, weniger kaputt nach Hause zu kommen, ist
damit nichts erreicht. Arbeitszeitverkuerzung ist bei den
Beschaeftigten zunehmend unpopulaer, an einen vollen
Lohnausgleich glaubt auch niemand mehr.
Arbeitszeitverkuerzung mit Lohnkuerzung wird gegen befristete
Arbeitsplatzgarantien getauscht.

"... koennen wir nur selber tun"

Die unterschiedliche Situation in den verschiedenen
Betrieben und die zunehmenden "atypischen"
Arbeitverhaeltnisse sind allein mit tarifpolitischen Mitteln
nicht zu steuern.

Dennoch wird in der Orientierung auf weitere
Arbeitszeitverkuerzung keineswegs der Schwerpunkt darauf
gelegt, wie denn in den Betrieben wieder eine Haltung der
Solidaritaet entwickelt und Kaempfe  nicht nur fuer uns sondern
fuer uns und Alle  wieder entstehen koennten. Die jetzige
AVZ-Forderung richtet sich stattdessen an zentrale
(staatliche) Instanzen, die Lohnsenkungen und die
Verschlechterung der Lebensbedingungen eindaemmen sollen. Das
ist bestenfalls Ausdruck von Hilf- und Ratlosigkeit. Dabei
gibt es durchaus erfolgreiche Kaempfe zur Sicherung von
tariflichen Regularien. Wenn in einem Betrieb die
KollegInnen zu kaempfen beginnen, ist ploetzlich Tarifflucht
gar kein Thema mehr. Natuerlich gibt es auch die vielen
Faelle, wo sich die KollegInnen nicht durchsetzen koennen.
Aber keine zentrale Vorschrift wird die praktische Aenderung
der Kraefteverhaeltnisse ersetzen koennen.

Wenn wir ausreichendes Einkommen fuer Alle wollen, wenn wir
besser leben wollen, statt uns kaputt zu schuften, dann geht
der Weg erstmal nicht allein ueber Re-Regulierungsforderungen
wie Arbeitszeitverkuerzung oder Existenzgeld. Wenn wir ueber
diese Forderungen nachdenken und streiten, sollten wir uns
zunaechst den gesamten Umfang der Idee ins Gedaechtnis
zurueckrufen. Keine Forderung wird und kann den gesamten
Anspruch auf Aneignung gesellschaftlichen Reichtums
transportieren. Aber wenn dieser Inhalt zum Massstab gemacht
wird, wird auch klar, dass sich beide Forderungen nicht
widersprechen, sondern zwei Seiten einer Medaille sind.

Natuerlich muessen aus der Idee die konkreten Vorschlaege und
Forderungen entwickelt werden, um die dann gekaempft werden
soll: Nulltarif fuer Alle mit wenig Einkommen, billigere
Mieten, der Abbau von Ueberstunden, weniger Arbeit, mehr
Lohn. Der Sozialstaat in seiner reduzierten heutigen Form
ist ein umkaempftes Terrain. Der Rueckzug des Staates aus der
Sicherung der Sozialeinkommen, der neue militante
Produktivismus mit immer massiveren Elementen von
Ausgrenzung und workfare verschlechtert die Arbeits- und
Lebensbedingungen der Menschen ganz erheblich. Dagegen gab
und gibt es Widerstand. Der kann sich auf blosse Forderungen
an den Staat zur Aufrechterhaltung des Status Quo beziehen.
Er kann aber auch Ansprueche entwickeln, die weit ueber den
Anteil des Kuchens hinausgehen, der uns heute zugestanden
wird.

Gruppe Blauer Montag,
c/o GWA St. Pauli-Sued,
Hamburger Hochstr. 2,
20359 Hamburg

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