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Kriminalität als Wahlkampfthema
Beilage zur taz im September 1998
Till Mueller-Heidelberg, Bundesvorsitzender der Humanistischen Union

Da die Politik zur Lösung der wirklichen Probleme nicht bereit oder in der Lage ist - Arbeitslosigkeit, Zwei-Drittel-Gesellschaft mit zunehmend sich öffnender Schere zwischen Arm und Reich, Umwelt- und Verkehrsprobleme, Reformierung verkrusteter Strukturen, Bildungspolitik, demokratische Beteiligung der Bevölkerung - sucht sie sich Felder, die geeignet sind, einen für den Wahlkampf tauglichen Gegner aufzubauen, den man dann bekämpfen kann - politische Felder, in denen man so tun kann, als ob man etwas täte. In den ersten Jahrzehnten der BRD war es die Bedrohung durch den Weltkommunismus. Ende der achtziger / Anfang der neunziger Jahre wurden die Asylbewerber als Gefahr für Deutschland aufgebaut, bis es (fast) jeder glaubte. Nachdem die SPD meinte, sich der Bekämpfung dieser "Bedrohung" nicht entziehen zu können, und nachdem beide großen Parteien gemeinsam das Asylrecht faktisch weitgehend abgeschafft haben, mußte ein neues Thema her zur Profilierung für Wahlkämpfer: die Innere Sicherheit, die durch die sogenannte Organisierte Kriminalität und eine angebliche Kriminalitätswelle bedroht ist. Erst schuf und schürte die Politik die Kriminalitätsfurcht, dann war es soweit, daß sie sich auf die so gebildete öffentliche Meinung stützen und Gesetzesänderungen und -verschärfungen fordern konnte, damit die Regierung sich als handlungsfähig und stark gerieren und damit die Opposition in die Ecke der Verbrechersympathisanten stellen konnte. Da dabei Rechtsstaat, Bürgerrechte, Menschenwürde und Humanität auf der Strecke bleiben, daß die Gesetzesänderungen nichts bringen - was macht es schon, wenn man nur ein Wahlkampfthema hat. Und es ist ja so viel leichter, Gesetze zu beschließen, als wirkliche Probleme zu lösen. Die Humanistische Union als älteste Bürgerrechtsorganisation glaubt an die Kraft der Argumente und daß die Demokratie davon lebt. Seit ihrer Gründung 1961 kämpft sie gegen Vorurteile, Verdummung, die Benutzung von Minderheiten als Feindbilder. Die Humanistische Union stellt die Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Wir brauchen nicht den starken Staat, sondern den starken, selbstbewußten, solidarischen und aufgeklärten Bürger, der sich selbst frei entfalten kann und nicht Objekt, sondern Subjekt des Staates ist. Ein liberaler, demokratischer Rechtsstaat kann nur aufbauen auf mündigen Bürgerinnen und Bürgern. Ihnen sollen Argumente geliefert werden, um die uns angeblich überschwappende Kriminalitätswelle als politisches Trugbild zu entschleiern, die geforderten erweiterten Befugnisse für die Sicherheitsorgane und Strafverschärfungen als ineffektiv und überflüssig, aber gefährlich für die Bürgerfreiheiten zu erkennen. Wie bereits der Vater der amerikanischen Verfassung Benjamin Franklin sagte: "Der Mensch, der bereit ist, seine Freiheit aufzugeben, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren."

Jeder Mensch ein Sicherheitsrisiko?

von Hans Lisken

Man stelle sich vor: Polizeibeamte möchten sich in Ihrer Wohnung umsehen. Auf Ihre Frage, ob und was gegen Sie vorliege, erhalten Sie zur Antwort, die Polizei dürfe neuerdings jedermann zu jeder Zeit auch ohne jeden Verdacht zum Zweck der "vorbeugenden Kriminalitätsbekämpfung" kontrollieren. Das gibt es noch nicht, aber dieselbe Antwort werden Sie erhalten, wenn Sie demnächst im Intercity von einem Grenzschutzbeamten, der in Begleitung des Schaffners die Fahrgäste kontrolliert, nach Ausweis und Gepäckinhalt befragt werden. Nach der neuesten Änderung des Bundesgrenzschutzgesetzes kann jeder Bahnreisende einschließlich seiner Sachen kontrolliert werden. Wer widerspricht, macht sich verdächtig und läuft Gefahr, zur Feststellung der Personalien festgehalten und gegebenenfalls sogar auf die Wache verbracht und erkennungsdienstlich behandelt zu werden - obwohl niemand im Inland einen Personalausweis mitführen muß. Etwaige elektronische "Abfragen" zur Person bei Behörden werden gespeichert, so da notfalls auch Bewegungsbilder erstellt und genutzt werden können. "Jeder Mensch ein Sicherheitsrisiko!" - Auf diese vereinfachte Formel läßt sich die Ausweitung der Polizeibefugnisse bringen, mit dem Bund und Länder unter dem Stichwort "Schleierfahndung" Möglichkeiten zur Kontrolle jeder Person und ohne konkreten Verdacht schaffen. Wenn man nur an den schnellen Erfolg bei der Fahndung nach gesuchten Personen denkt, mag diese Methode effektiv scheinen. Aber der Preis ist der Verlust an grundlegenden Bürgerfreiheiten, die den Staat des Grundgesetzes von 1949 einmal auszeichneten. Bundestag und Bundesrat haben mit Mehrheit diesen Preis akzeptiert. Sie wußten, was sie taten, weil es ihnen gesagt worden war. In meiner Stellungnahme für den Innenausschuß des Bundestages gab ich u.a. folgendes zu bedenken: Die neue Kontrollbefugnis des Bundesgrenzschutzes hat kaum noch etwas mit Grenzsicherung zu tun, da sie hauptsächlich dem bundesweiten Aufgreifen gesuchter Personen dient. Es handelt sich also um eine Fahndungsbefugnis im Sinne der Strafprozeßordnung(StPO). Diese setzt aber aus gutem Grund einen personenbezogenen Verdacht voraus. Wenn außerhalb des Grenzbereichs jede Person ohne tatsächliche Anhaltspunkte für ein strafbares Verhalten kontrolliert werden kann, wird das Ermittlungsverbot gegen Unverdächtige (in | 152 II StPO) schlicht umgangen. Die Ausforschung von Unbescholtenen und Unverdächtigen ist grundrechtswidrig. Sie verstößt gegen die Vermutung der Rechtstreue der Bürgerinnen und Bürger und gegen die Unschuldsvermutung gemäß Artikel 6 II der Europäischen Menschenrechtskonvention. Der polizeiliche Zugriff auf einen Menschen, gegen den kein Verdacht besteht und der für eine Störung nicht verantwortlich ist, kann nur in Notlagen gerechtfertigt sein. Fluggastkontrollen sind eine Ausnahmesituation, bei der es keine Alternative zur Gefahrenabwehr gibt. Polizeirechtlich lassen sich derartige Kontrollen nur unter dem Gesichtspunkt der Pflicht zur Hilfe in einer örtlich und zeitlich begrenzten Gefahrensituation legitimieren. Diese Ausnahmesituation darf indes nicht zur "Normallage" werden, da sie jeden Menschen als potentiellen Attentäter betrachtet.

Ein solches, schon vom ehemaligen Vorsitzenden des Bundesverfassungsgerichts Ernst Benda kritisiertes Mißtrauen verletzt die psychische Integrität des Menschen. Unvermeidlich wird seine Fähigkeit zur rechtstreuen Ausübung seiner Autonomie in Frage gestellt und damit - nach Kant - der Kern der Menschenwürde berührt. [1] Deswegen ist der Mensch von staatswegen "in Ruhe zu lassen", solange er Dritten nicht verantwortlich ist. Das hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich in seinem Mikrozensusurteil gesagt. [2] Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits 1967 und bislang unwidersprochen betont, "daß nach dem Menschenbild des Grundgesetzes die Polizeibehörde nicht jedermann als potentiellen Rechtsbrecher betrachten darf". [3] Genau dies erlaubt aber die voraussetzungslose Kontrolle jeder reisenden Person. Das Grundrecht der Bewegungsfreiheit nach Artikel 2 II des Grundgesetzes wird damit gegebenenfalls genauso verletzt wie das aus Artikel 2 I in Verbindung mit Artikel 1 I des Grundgesetzes folgende Recht auf Privatheit, also das Recht, die eigenen Personaldaten und Tascheninhalte für sich zu behalten, solange nicht rechtlich relevante Beziehungen zu anderen Menschen anderes gebieten.

Wenn sich jedermann zu jeder Zeit verdächtig macht, der mit Bahn oder Flugzeug verreist, steht seine Reise voraussetzungslos unter einem Kontrollvorbehalt der Exekutive. Eine solche Methode stammt aus dem Arsenal des Ausnahmezustandes. Als Standardmethode wurde sie zuletzt im Ersten Weltkrieg nach dem Preußischen Gesetz über den Belagerungszustand von 1851 sowie im SS-Staat nach der Ausnahmeverordnung des Reichspräsidenten vom 28.2.1933 praktiziert.

Es darf also nicht verwundern, wenn sich ältere Bundesbürger bei einer Jedermannkontrolle an den permanenten Ausnahmezustand im SS-Staat erinnert fühlen und sich fragen, ob dies mit dem Grundgesetz von 1949 zu vereinbaren sei. Im Staat des Grundgesetzes darf kein Grundrecht in seinem Wesensgehalt aufgehoben werden (Artikel 19 GG), und Beschränkungen sind nur dann zulässig, wenn sie unabweisbar zum Schutz anderer Grundrechte notwendig sind. Zudem liegt keine Notlage im Sinne der Artikel 35 II oder 91 des Grundgesetzes vor. Die Jedermannkontrollbefugnis ist insoweit ganz unverhältnismäßig.

Auch die Wirksamkeit der Kontrollbefugnis hinsichtlich einer Gefahrenabwehr ist zweifelhaft - es sei denn, man sähe in der Einschüchterung aller Menschen eine wirksame Methode. Empirisch belegbar aber ist bisher nur, daß sie zur schnelleren Ergreifung gesuchter Personen, insbesondere strafprozessual oder ausländerrechtlich gesuchter Menschen geführt hat. Dieser "Erfolg" wird indes mit einem schwerwiegenden Grundrechtsverlust aller Menschen, die hier leben oder reisen, erkauft. Es besteht nämlich keine allgemeine Pflicht, die eigene Freiheit voraussetzungslos den staatlichen Organen zur Verfügung zu stellen, damit diese ihre Aufgabe besser oder schneller erfüllen können. Andernfalls lebten wir in der Tat in einem "Polizeistaat" der eingangs geschilderten Art.

1 Vgl. Marcic: "Der unbedingte Rechtswert des Menschen", in: Festschrift für Eric Voegelin, 1962; Ernst Benda: Gefährdungen der Menschenwürde, 1975; Adolf Arndt: Gesammelte juristische Schriften, 1976; Adolf Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Auflage 1997

2 BVerfGE 27,1 und 65,1

3 BVerwGE 26, 169

Prof. Dr. jur. Hans Lisken war Richter und später 15 Jahre Polizeipräsident in Düsseldorf. Jetzt ist er Anwalt und lehrt an der Universität Düsseldorf öffentliches Recht. Er ist Träger des Fritz-Bauer-Preises 1995 und Beiratsmitglied der Humanistischen Union. Zusammen mit Professor Erhard Denninger ist er Herausgeber des Handbuchs des Polizeirechts.

 

 

Europol - So nicht!

Reinhard Mokros

Die Bürger haben Angst vor offenen Grenzen. In Deutschland und seinen Nachbarstaaten überwiegt die Furcht vor steigender Kriminalität sogar die Freude über das leichtere Reisen. Kein Wunder, daß in einer Umfrage über 90% der Befragten den Aufbau einer gemeinsamen europäischen Polizei befürworten. Im Prinzip ist eine internationale Polizeikooperation auch sicher notwendig. Der Start von Europol ist jedoch durch schwere Geburtsfehler belastet.

Bereits seit dem 3.1.1994 arbeitet die "Europol-Drogeneinheit", die Vorgänger-Organisation von Europol, in Den Haag. Das Aufgabengebiet war zunächst auf Delikte der Drogenkriminalität beschränkt, wurde aber schon bald auf den illegalen Handel mit radioaktiven und nuklearen Materialien, die Schleuserkriminalität, die Verschiebung von Kraftfahrzeugen, Menschenhandel sowie Ausbeutung und sexuelle Gewalt gegen Minderjährige ausgedehnt. An alledem waren weder das Europäische Parlament noch die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten beteiligt. Erst zum offiziellen Start von Europol haben die EU-Staaten eine Konvention abgeschlossen, der der Deutsche Bundestag im Dezember 1997 zugestimmt hat.

Viele Abgeordnete, bis in die Regierungsparteien hinein, hatten dabei allerdings verfassungsrechtliche Bedenken. So sind die Datensammlungen von Europol nicht mit den Anforderungen zu vereinbaren, die das Bundesverfassungsgericht im Volkszählungs-Urteil an eine rechtsstaatlich einwandfreie Datenverarbeitung stellte. Vorgesehen ist für die Analysedateien nämlich auch die Erfassung von völlig unbescholtenen Bürgern (Opfern, Zeugen). Die entsprechenden Bestimmungen sind zu unbestimmt und die datenschutzrechtliche Kontrolle unzureichend. Außerdem ist Europol im Bereich der internationalen Rechtshilfe tätig, ohne in das Justizsystem der jeweiligen Staaten eingebunden zu sein. Die Polizei ist hier nicht mehr nur Gehilfin der Staatsanwaltschaften, sondern faktisch die dominierende "Sicherheitsbehörde". Dabei bestehen begründete Zweifel daran, daß die Kontrolle der bei Europol tätigen Polizisten dem entspricht, was Bürger - auch Unbeteiligte, die aus Versehen in Verdacht geraten - im Rechtsstaat erwarten können. Denn die Europol-Beamten genießen "Immunität von jeglicher Gerichtsbarkeit hinsichtlich der von ihnen in Ausübung ihres Amtes vorgenommenen mündlichen und schriftlichen Äußerungen sowie Handlungen". Damit werden erstmals in der europäischen Rechtsgeschichte Polizeibeamten von strafrechtlicher Verantwortung freigestellt. Professor Simitis, der viele Jahre hessischer Datenschutzbeauftragter war, hat dazu unzweideutig gesagt: "Das ist unhaltbar. Dieses Europa ist, spätestens nach dem Maastricht-Vertrag, eindeutig den Grundrechten seiner Bürgerinnen und Bürger verpflichtet. Deswegen machen wir doch dieses Europa! Also muß man sich fragen: Wie verträgt sich denn eine Immunität mit den Grundrechten der Bürger? Gar nicht!" Geregelt ist die Immunität in einem Protokoll, das ursprünglich ohne Zustimmung des Bundestages als sogenanntes Verwaltungsabkommen rechtswirksam werden sollte. Die massive Kritik bewirkte allerdings, da dem Bundestag dann doch noch der Entwurf eines Zustimmungsgesetzes vorgelegt wurde. Allerdings konnten sich die Kritiker im Parlament am Ende nicht durchsetzen. Ebenso wie die Europol-Konvention wurde auch das Gesetz zum Immunitätenprotokoll mit großer Mehrheit verabschiedet.

 

Reinhard Mokros ist Polizeioberrat und Dozent an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW, Fachbereich Polizei. Er ist Verfasser des Kapitels "Polizeiliche Zusammenarbeit in Europa" im Handbuch des Polizeirechts. Ein Artikel zu diesem Thema erscheint auch in Mitteilungen Nr.164 der Humanistischen Union.

 

 

Die Kriminalstatistik: Sicherheitsbarometer oder Tätigkeitsnachweis der Polizei?

Werner Lehne

In der öffentlichen Debatte über Kriminalität und Innere Sicherheit wird auf die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) regelmäßig als vermeintlich objektives Sicherheitsbarometer Bezug genommen. Eine wachsende Anzahl von registrierten Straftaten gilt als Beleg für eine dramatische Zunahme der Bedrohung durch Kriminalität, eine zunehmende Registrierung von einzelnen Delikten als Indikator entsprechender Problemverschärfung. Aktuell findet sich besonders häufig der Verweis auf die Zahlen zur polizeilich registrierten Jugendkriminalität. Eine 10%ige Zunahme (jeweils von 1996 auf 1997) der als Tatverdächtige registrierten Kinder gilt als Nachweis für ein massives Anwachsen der "Kinderkriminalität", der Anstieg der Registrierungen deutscher Jugendlicher wegen Körperverletzung um 17% und wegen Raubdelikten um 19% als Beleg für die "Explosion" der Jugendgewalt.

Damit werden selektiv Zahlenwerte aus der PKS herausgegriffen, die die Wahrnehmung eines dramatischen Anstiegs der Kriminalität zu stützen scheinen. Es gibt aber eine ganze Reihe von Entwicklungen, die konträr zum verbreiteten Kriminalitätsszenario verlaufen:

- In den letzten vier Jahren ist die registrierte Gesamtkriminalität konstant bis rückläufig, und zwischen 1980 und 1990 nur halb so stark gestiegen wie zwischen 1970 und 1980.

- Die Anzahl der registrierten Tötungsdelikte ist seit Jahrzehnten weitgehend gleichbleibend.

- Die Anzahl der registrierten Fälle des "sexuellen Mißbrauchs von Kindern" weist über die letzten Jahre eine relative Konstanz auf einem Niveau erheblich unter den Werten von 1970 und 1980 auf.

- Die Anzahl der registrierten "Sexualmorde" lag 1980 um über 50% höher als in den 90er Jahren.

Diese Zahlen scheinen eher Anlaß für Entwarnung zu geben. Allerdings wae4re ein solcher Bezug auf die PKS genauso unseriös wie der momentan vorwiegend praktizierte. Die PKS ist nämlich kein objektives Abbild des gesellschaftlichen Kriminalitätsaufkommens. Sie ist eine staatliche Registratur, die nach spezifischen Regeln zustande kommt und über ganz andere Fragen als die gesellschaftliche Sicherheitslage Auskunft gibt. Vor allem drückt die PKS aus, in welchem Umfang strafrechtsrelevante Vorkommnisse an die Polizei herangetragen wurden. Etwa 90% der erfaßten Straftaten gehen auf private Anzeigen zurück. Aus der Forschung weiß man, daß die Anzeigeerstattung bei der Polizei keineswegs selbstverständlich ist, sondern sehr selektiv stattfindet - je nach Delikt in 10 bis 80% der Fälle. Die Anlässe zur Anzeige reichen dabei von dem banalen Umstand, daß viele Versicherungen eine Anzeigeerstattung zu Voraussetzung der Schadensabwicklung z.B. bei Fahrraddiebstählen machen, über Situationen der Hilflosigkeit, in denen Unterstützung von der Polizei und Justiz erwartet wird, bis zu den eher seltenen Fällen eines expliziten Strafbedürfnisses. Was von der Polizei als Kriminalität registriert wird, ist weitgehend Ausdruck dieses Anzeigeverhaltens der Bevölkerung. Entwicklungen der registrierten Gesamtkriminalität reflektieren den Wandel des Anzeigeverhaltens. Massive Anstiege der vermerkten Kriminalität in den letzten 30 Jahren lassen sich als Resultat gesellschaftlicher "Modernisierung" erklären (Verbreitung von Versicherungsschutz, Professionalisierung der Verfolgung des Ladendiebstahls, zunehmende Formalisierung der Konfliktaustragung etc.), die zu einer häufigeren Mobilisierung von Polizei und Strafrecht geführt hat.

An die Stelle informeller sozialer Kontrolle tritt die formelle staatliche Kontrolle. So sind auch die hohen Zuwachsraten bei der Registrierung jugendlicher Tatverdächtiger wegen Gewaltdelikten keineswegs mit einer tatsächlichen Zunahme von Jugendgewalt gleichzusetzen. Sie sind genauso Hinweis auf eine veränderte gesellschaftliche Praxis im Umgang mit gewaltbesetztem Verhalten von Jugendlichen, das zunehmend über eine Anzeige bei der Polizei einer justitiellen Weiterbearbeitung zugeführt wird. Die PKS sagt auch etwas darüber aus, welche Arbeitsschwerpunkte die Polizei setzt. Es gibt einige Delikte, bei denen es ausschließlich von der aktiven Kontrolltätigkeit der Polizei abhängt, in welchem Umfang sie in der PKS in Erscheinung treten. So ist gerade in den letzten Jahren die steigende Anzahl der registrierten Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz das Ergebnis intensivierten polizeilichen Vorgehens gegen "offene Drogenszenen" und unvermeidliches "Abfallprodukt" verschärfter Kontrollen, die eigentlich gar nicht auf die Bestrafung von Konsumenten abzielen, sondern lediglich deren Verdrängung aus bestimmten städtischen Regionen zum Ziel haben.

Eine seriöse Bezugnahme auf die Zahlenangaben der PKS hat den genannten Zusammenhängen Rechnung zu tragen. Als Indikator der gesellschaftlichen Sicherheitslage ist die PKS ungeeignet. Sie ist ein Spiegel des gesellschaftlichen Einsatzes polizeilicher und strafrechtlicher Ressourcen im Rahmen der Verarbeitung unterschiedlichster Problemlagen. Sie sagt etwas darüber aus, in welchem Ausmaß und in welchem Kontext Privatpersonen und kommerzielle Kontrolleure diese Ressourcen mobilisieren und mit welcher Intensität und Selektivität die Polizei im Bereich "opferloser" Delikte Kontrollen durchführt.

Dr. Werner Lehne ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Aufbau- und Kontaktstudium Kriminologie an der Universität Hamburg. Zum Thema "Kriminalitätsstatistik und Kriminalpolitik" veröffentlichte er zuletzt einen Artikel in: Wilfried Breyvogel (Hg.), Stadt, Jugendkulturen und Kriminalität, (Dietz-Verlag) Bonn 1998.

 

Ausländerkriminalisierung als politisches Instrument

Dr. Juergen Mansel

Alljährlich erscheinen nach Veröffentlichung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) alarmierende Presseberichte über die wachsende "Ausländerkriminalität". Herausgegriffen werden dabei vor allem Zahlen, nach denen die Kriminalität junger männlicher Ausländer an ihrem Bevölkerungsanteil gemessen etwa dreimal so hoch erscheint wie die der altersgleichen Deutschen. Ein einfacher Vergleich der Zahlen der PKS und das Schlissen auf eine besondere Straffälligkeit von in Deutschland lebenden Ausländern verbietet sich jedoch aus einer ganzen Reihe von Verzerrungsfaktoren. Je mehr solche Verzerrungsfaktoren herausgenommen werden, desto stärker gleichen sich die Zahlen von Deutschen und Ausländern an. [1]

Der erste grundlegende Denkfehler besteht darin, daß Straftaten von aus dem Ausland operierenden Organisationen bei der Berechnung der Kriminalitätsbelastungsziffern den hier lebenden Ausländern angelastet werden. Hinzu kommt, daß sich der überwiegende Teil der ausländischen Wohnbevölkerung aufgrund ihrer Arbeitstätigkeit, ihrer beruflichen Position, ihrer Einkommens- und Wohnverhältnisse etc. in einer "unteren Soziallage" befindet. Personen aus dieser Soziallage werden sehr viel häufiger angezeigt und von der Polizei als Tatverdächtige registriert. Die ermittelten Unterschiede in der Kriminalitätsbelastung können statt nationalitäts- also auch soziallagenbedingt sein.

Repräsentativ angelegte Dunkelfeldforschungen aus dem Jahr 1996, bei denen Personen nach potentiell kriminalisierbaren Handlungen befragt wurden, ergaben nur marginale Unterschiede zwischen ausländischen und deutschen Jugendlichen. [2] Dies weist darauf hin, da die Überrepräsentanz von Ausländern in der PKS vor allem Folge der ihnen gegenüber stärkeren Kontrolle ist. [3] Schließlich registriert die PKS jeden, der hinreichend verdächtigt wird, eine unter Strafe gestellte Handlung ausgeführt zu haben. Hier gilt das Prinzip: Im Zweifelsfall gegen den Beschuldigten. Ob der Tatverdächtige aber tatsächlich der Täter ist und ob es sich bei der ihm zur Last gelegten Handlung tatsächlich um eine Straftat handelt, entscheiden erst die Gerichte.

Bereits Mitte der 80er Jahre konnte in einem Forschungsprojekt der Universität des Saarlandes gezeigt werden, daß in bezug auf den jeweiligen Bevölkerungsanteil zum Beispiel junge männliche Türken nicht häufiger gerichtlich verurteilt wurden als junge Deutsche. [4] Zwischen den Bundesländern gab es dabei jedoch bemerkenswerte Unterschiede: In CDU-regierten Ländern lag der Anteil der verurteilten jungen Türken und Italiener fast doppelt so hoch wie in den SPD-regierten; der Anteil der Verurteilten aufgrund von Verstößen gegen das Ausländergesetz liegt sogar bei dem Siebenfachen. Obwohl sich aus der PKS keine Aussagen über die Häufigkeit spezifischer Verhaltensweisen innerhalb unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen ableiten lassen, wird sie in politischen Diskussionen immer wieder zu diesem Zweck herangezogen. Auf politischer Ebene erfüllt der scheinbare Nachweis einer überhöhten "Ausländerkriminalität" mehrere Funktionen: Zum einen wird eine ganze Personengruppe diskreditiert und sozial ins Abseits gedrängt. Den Angehörigen der Bevölkerungsgruppe wird deutlich gemacht, daß sie am Arbeitsmarkt primär für schlecht bezahlte, schmutzige, schwere und gegebenenfalls gesundheitsschädliche Arbeiten zuständig sind. Zum anderen lassen sich mit der scheinbar von dieser Bevölkerungsgruppe ausgehenden Gefahr restriktive Gesetze und Maßnahmen legitimieren wie Ausländergesetz, Änderung des Asylrechts, Arbeits- und Aufenthaltsbeschränkungen und Abschiebungen. Mit der Ausweitung ausländerspezifischer Gesetze und Kontrollinstanzen steigt wiederum der Anteil ausländischer Tatverdächtiger in der Polizeilichen Kriminalstatistik.

1 Karger, Peter / Sutterer, Thomas: Polizeilich registrierte Gewaltdelinquenz bei jungen Ausländern. In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 73 (6), S. 369 - 383

2 Mansel, Juergen / Hurrelmann, Klaus (1998): Aggressives und delinquentes Verhalten Jugendlicher im Zeitvergleich. Befunde aus 'Dunkelfeldforschungen' aus den Jahren 1988, 1990 und 1996. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 50 (1), S. 78-109

3 Mansel, Juergen (1988): Die Disziplinierung der Gastarbeiternachkommen durch Organe der Strafrechtspflege. In: Zeitschrift für Soziologie 17 (5), S. 349 - 364

4 Mansel, Juergen (1985): Gefahr oder Bedrohung ? Die Quantität des "kriminellen" Verhaltens der Gastarbeiternachkommen. In: Kriminologisches Journal, 17 (3), S. 169-185 Jugendkriminalität und Jugend(straf)politik

HD Dr. Juergen Mansel ist Dozent an der Fakultät für Pädagogik und Sprecher des Zentrums für Kindheits- und Jugendforschung, Universität Bielefeld.

 

Bernd-Ruedeger Sonnen

Jugendkriminalität bezeichnet die Gesamtheit aller Straftaten der 14- bis unter 18jaehrigen Jugendlichen und der 18- bis unter 21jaehrigen Heranwachsenden. Mit dem Begriff "Jugendkriminalität" wird eine enge Beziehung zwischen "Jugend" und "Kriminalität" signalisiert. Vergleichbare, an persönlichen Merkmalen orientierte Bezeichnungen wie "Erwachsenenkriminalität" oder gar "Kriminalität der Mächtigen" sind zumindest ungewöhnlich. Einzelne Straftaten Jugendlicher, die betroffen machen und bei denen unser Mitgefühl den Opfern gilt, werden in einer um Sensationen konkurrierenden Medienlandschaft spektakulär dramatisiert. Unzulässige Gleichsetzungen und Verkürzungen sind die Folge: Jugendkriminalität wird zur typischen Kriminalität, delinquentes Verhalten Jugendlicher als Gewaltkriminalität wahrgenommen. Kinder und Jugendliche gelten als zunehmend gewaltbereit, kriminell und gefährlich (nicht als gefährdet). Die subjektive Kriminalitätsfurcht, die ohnehin das objektive Opferrisiko um ein Vielfaches übersteigt, wächst und wird schließlich zur Angst vor "der" Jugend. Es entsteht das Feindbild von "kleinen Monstern" und "Brutalo"-Jugendlichen. "Bekämpfung" ist angesagt, d.h. Wegsperren und Ausgrenzen.

Dämonisierung und Ängste um die innere Sicherheit werden so zum Anlaß für die repressive Wende in der Jugend- und Kriminalpolitik. Anstelle aufgeregter Forderungen an den Gesetzgeber mit der Folge von Panikgesetzen sind jedoch Augenmaß und Besonnenheit, Sensibilität und Rationalität im Umgang mit Jugendkriminalität angebracht.

Jugendkriminalität ist ein Teilausschnitt der Kriminalität. Korruptions-, Umwelt- und Wirtschaftskriminalität, Steuerhinterziehung, Waffen- und Menschenhandel, aber auch Gewalt in der Familie (wie Kindesmißhandlung und sexueller Mißbrauch) sind Kriminalitätserscheinungsformen bei Erwachsenen. Jugendliche fallen durch eher sichtbare und leichter nachweisbare Delikte besonders im Bagatellbereich der Eigentums- und Vermögenskriminalität auf. In den Statistiken sind sie entsprechend überrepräsentiert. Die polizeilich registrierte Jugendkriminalität ist wie in allen europäischen Ländern in den letzten Jahren auch bei den Gewaltdelikten angewachsen; die Anzeigebereitschaft hat zugenommen. 7,3% aller Jugendlichen und 8% aller Heranwachsenden sind 1996 als tatverdächtig registriert, 92,7% bzw. 92% sind also nicht polizeiauffällig geworden. Bei 0,9% bestand der Verdacht einer Gewalttat. Die oft behauptete neue Qualität der Gewalt läßt sich nicht hinreichend sicher belegen. Fest steht dagegen, daß es sich überwiegend um Gewalt innerhalb der Gleichaltrigengruppe handelt, beispielsweise in Form von sog. "Abziehereien" (von Kleidungsstücken), die sich strafrechtlich als Raub oder räuberische Erpressung darstellen. Nach wie vor sind Kinder und Jugendliche viel öfter Opfer von Gewaltanwendung durch Erwachsene als Täter. Gesichert ist auch, da Jugendkriminalität ein normales und vorübergehendes Phänomen ist. Ein Einstieg in eine "kriminelle Karriere" läßt sich jedenfalls selbst bei wiederholten Straftaten nicht zuverlässig prognostizieren.

Auf diesen, durch neuere kriminologische Forschungen belegten Erkenntnissen beruht die 1990 mit dem 1. Jugendgerichtsgesetz-Änderungsgesetz begonnene Reform des Jugendstrafrechts. Eckpfeiler sind der Verzicht auf eine formelle Sanktion zugunsten einer informellen Erledigung (Diversion), von der die Praxis in 2 von 3 Fällen Gebrauch macht. Diversion ist eine schnellere, humanere und kostengünstigere Möglichkeit, die unter Präventionsaspekten auch erfolgversprechender ist. Kommt es zu Anklage, Hauptverhandlung und Urteil, können ambulante Maßnahmen wie Betreuungszuweisung, sozialer Trainingskurs und Täter-Opfer-Ausgleich die traditionellen Reaktionsformen der Geldbuße, des Jugendarrestes und der Jugendstrafe weitgehend ersetzen, ohne daß sich die Rückfallwahrscheinlichkeit erhöht. Der Gesetzgeber erinnert selbst an die schädlichen Nebenwirkungen des Vollzuges von Untersuchungshaft, Jugendarrest und Jugendstrafe und signalisiert weiteren Reformbedarf.

Der aktuelle Ruf nach mehr Härte verläßt diesen Reformkurs. Gefordert werden Herabsetzung der Strafmündigkeit von 14 auf 12 Jahre, Herausnahme der Heranwachsenden aus dem Jugendstrafrecht, geschlossene Unterbringung, Einstiegsarrest bei Bewährung, längere Strafen und mehr Jugendstrafvollzug. In dem veränderten kriminalpolitischen Klima wird das Jugendgerichtsgesetz mit seinen Weichenstellungen zur Jugendhilfe als "Schmuse-Strafrecht mit allerlei Sozial-Klimbim" diffamiert. Es gibt aber keinen Beleg dafür, daß die Ausgangsbasis des Reformansatzes nicht mehr tragfähig ist - im Gegenteil. Der Ruf nach einem zupackenden Strafrecht vernachlässigt die Entstehungs- und Bedingungszusammenhänge der Jugendkriminalität vor dem Hintergrund sozialstruktureller Veränderungen, Ausgrenzungen und Marginalisierungen und lenkt von persönlicher, gesellschaftlicher und politischer (Mit-) Verantwortung ab. Es fehlt die gerade im Interesse potentieller Opfer liegende Folgenorientierung. Anstelle repressiver Sicherheitskonzepte sollten erfolgversprechende präventive Ansätze mit Mut und Phantasie weiterentwickelt werden. Falsch wäre es allerdings, statt einer eigenständigen emanzipatorischen Jugendpolitik unter dem Aspekt der Kriminalprävention lediglich eine Jugendstrafpolitik zu betreiben.

Prof. Dr. Bernd-Ruedeger Sonnen lehrt am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Hamburg und ist Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe.

 

Organisierte Kriminalität - Ein politischer Kampfbegriff

von Dr. Till Mueller-Heidelberg

Seit einigen Jahren haben die Sicherheitspolitiker eine "neue" Kriminalitätsform entdeckt, die uns alle bedroht, und die folglich mit neuen Befugnissen und Instrumenten bekämpft werden muß - die sogenannte "Organisierte Kriminalität". Denn wenn man nur feststellen würde, daß die traditionelle Kriminalität steigt, dann müßte man sich Gedanken über die Ursachen hierfür machen und die Ursachen zu beseitigen versuchen. Das ist schwierig. Wenn man aber eine "neue" Kriminalität entdeckt, dann kann man neue Befugnisse für die Strafverfolgungsorgane verlangen, dann kann man Gesetze fordern - und das ist leicht. Wenn wir alle von der neuen Verbrechensform der "Organisierten Kriminalität" bedroht sind, was bleibt uns dann anderes übrig, als dem Einsatz der Geheimdienste (Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst) zur Kriminalitätsbekämpfung zuzustimmen, Straftaten begehende Beamte als verdeckte Ermittler zu akzeptieren und uns über den Lauschangriff zu freuen, der ja nur die Verbrecher betrifft, nicht aber die rechtstreuen Bürgerinnen und Bürger.

Bei Erfindung des Begriffs sollte die "Organisierte Kriminalität" sich auf den mafiaähnlich organisierten Drogenhandel beziehen. Da aber die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung weder illegale Drogen nimmt noch mit ihnen handelt, konnte sie sich dadurch nicht bedroht fühlen. Also müßte der Begriff erweitert werden. Jetzt fällt darunter Kriminalität mit "übersteigertem Gewinnstreben", mit "planmäßiger Begehung", mit "mehreren Beteiligten"; sie muß "intelligent" sein, sie soll "gewerbliche, geschäftsähnliche Strukturen" aufweisen, sie soll straff geführt, hierarchisch gegliedert und arbeitsteilig arbeiten. Jedoch: Hat nicht fast jede Kriminalität übersteigertes Gewinnstreben als Antriebsfeder? Sind Straftaten in der Vergangenheit immer unplanmäßig begangen worden, hat es immer nur Einzeltäter gegeben, und waren Kriminelle grundsätzlich dumm? Wurden Straftaten nie konspirativ begangen, waren kriminelle Banden nie hierarchisch gegliedert und straff geführt? Gibt es nicht im Strafgesetzbuch den gewerbsmäßigen und den Bandendiebstahl sowie Raub und die gewerbsmäßige Hehlerei, ebenso den nur in geschäftsähnlichen Strukturen zu verwirklichenden Subventionsbetrug? Die Definition der "Organisierten Kriminalität" ist geradezu typisch für jedes Handeln unter Gesetzesverstoß in unserer Wirtschaftsverfassung. "Organisierte Kriminalität" ist keine neue Verbrechensform - und so ist es kein Wunder, daß die "gemeinsamen Richtlinien über die Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei bei der Verfolgung der Organisierten Kriminalität" der Justiz- und Innenminister der Länder von 1990/1991 als Kriminalitätsbereiche nahezu das gesamte Strafgesetzbuch nennen. Wenn es keine "neue" Verbrechensform gibt, taugt diese auch nicht als Begründung für neue Strafverfolgungsbefugnisse.

Nichtsdestoweniger wurde mit dieser Begründung im Frühjahr 1998 von Koalition und SPD der Große Lauschangriff mittels einer Verfassungsänderung durchgesetzt. In Wohnungen soll nun heimlich durch Wanzen und andere Geräte gelauscht werden, nirgendwo soll es mehr Sicherheit vor dem Staat geben. Wer kann denn auch etwas dagegen haben, wenn Straftäter belauscht werden? Nur: Täter belauscht man nicht, man verhaftet sie. Belauscht werden allenfalls Verdächtige, und die sind bis zur rechtskräftigen Verurteilung zunächst einmal unschuldig. Verdächtig kann jeder der 80 Millionen Einwohner in Deutschland werden. Schon jetzt sind nach einer Untersuchung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen die Deutschen mit einem 13 mal höheren Risiko betroffen als US-Amerikaner, bei 3499 genehmigten Telefonabhöraktionen 1992 wurden 500.000 Personen abgehört, einem letztendlich Verurteilten stehen 77,5 Personen gegenüber, die im Rahmen einer solchen Maßnahme überwacht wurden. Und seit 1992 haben sich die genehmigten Telefonüberwachungen fast verdoppelt! Auch erfaßt der Große Lauschangriff Unverdächtige, mit denen sich ein Verdächtiger in Verbindung setzen könnte. Das Recht eines Angeklagten, zu schweigen und sich nicht selbst zu belasten, das Zeugnisverweigerungsrecht seiner Angehörigen - all dies wird beseitigt. Die Straftaten, die wirklich die Masse der Bevölkerung bedrohen - Kfz-Diebstahl, Handtaschenraub, Wohnungseinbruch - können mit dem Großen Lauschangriff weder verhindert noch aufgeklärt werden. Und schließlich: Der doch angeblich so intelligente, finanzstarke und geschäftsähnlich handelnde Täter der sogenannten "Organisierten Kriminalität" weiß, wie er sich gegen Lauschüberwachung zu wehren und abzusichern hat - der "normale" Bürger weiß dies nicht und hat nicht die nötigen Mittel - gerade er also wird hiervon betroffen.

Fazit: Die neue Verbrechensform der "Organisierten Kriminalität" gibt es nicht, wir brauchen also auch keine neuen Befugnisse und schon gar nicht den Großen Lauschangriff. Zur Verbrechensbekämpfung ist er untauglich, aber er "dient" der Einschüchterung der Bürgerinnen und Bürger, weil ja jeder jederzeit abgehört werden könnte, und er führt damit zum Abbau von Bürgerfreiheiten, Demokratie und Rechtsstaat.

Dr. Till Mueller-Heidelberg ist Rechtsanwalt in Bingen und Bundesvorsitzender der Humanistischen Union

 

Chronologie der inneren Aufrüstung

Die folgenden Gesetze im Bereich der "Inneren Sicherheit" stellen zum Teil außerordentliche Eingriffe in das Rechtssystem dar. Ob oder wie sie Kriminalität reduzieren, ist hingegen ungewiß. Zusätzlich zu dieser kleinen Auswahl aus Bundesgesetzen gab es in den Bundesländern zahlreiche Neuregelungen zur Ausweitung der Polizeibefugnisse.

23.1.92 Gesetz zur Übertragung der Aufgaben der Bahnpolizei und der Luftsicherheit auf den BGS

- Sonderpolizeiliche Zuständigkeiten der Bahnpolizei und des Fahndungsdienstes der Deutschen Bahn werden dem Bundesgrenzschutz übertragen

15.7.92 Organisierte Kriminalitäts-Gesetz

- Gesetzliche Zulassung von "verdeckten Ermittlern"

- Ausdehnung der Kontrolle des Fernmeldeverkehrs

- Gesetzliche Regelung der "Polizeilichen Beobachtung" bei Straftaten von

- "erheblicher Bedeutung": zentrale Datenerfassung bei polizeilichen Kontrollen ohne Informierung der betroffenen Person

- Verdeckter Einsatz technischer Mittel: heimliches Filmen, Abhören und Aufzeichnen außerhalb von Wohnungen

- Gesetzliche Regelung der Rasterfahndung: Maschineller Vergleich von Datenbeständen öffentlicher und privater Stellen

2.9.94 Gesetz über das Ausländerzentralregister

- Gesetzliche Regelung der zentralen Speicherung von Ausländerdaten

- und der Übermittlung an Behörden

28.10.94 Verbrechensbekämpfungsgesetz

- Erneute Ausdehnung der Überwachung des Fernmeldeverkehrs

- Erweiterung der Untersuchungshaftgründe bei Wiederholungsgefahr

17.3.97 Genetischer Fingerabdruck

- Regelung der zulässigen Verwendung der DNA-Analyse im Strafverfahren

7.7.97 Neues BKA-Gesetz

- Erweiterung von Zuständigkeiten des Bundeskriminalamts

29.10.97 Gesetz zur Änderung straf-, ausländer- und asylverfahrensrechtlicher Vorschriften

- Ermöglichung schärferer Maßnahmen (Ausweisungen) gegen

- "kriminelle Ausländer"

16.12.97 Europol-Gesetz

- Bestätigung des Übereinkommens über die Errichtung eines

- Europäischen Polizeiamtes

26.03.98 Großer Lauschangriff

- Grundgesetzänderung (Art.13) und gesetzliche Regelungen zur

- Zulässigkeit von Wanzen in Wohnungen

19.5.98 Ratifizierung des Europol-Immunitäten-Protokolls

- Europol-Mitarbeiter sind hinsichtlich ihrer dienstlichen Tätigkeiten von jeder Strafverfolgung ausgeschlossen

25.6.98 (Bundestagsbeschluß) DNA-Identitätsfeststellungsgesetz

- Gesetzliche Grundlage der zentralen Gen-Datei beim

- Bundeskriminalamt und Erweiterung der Einsatzmöglichkeiten

25.8.98 Änderung des Bundesgrenzschutzgesetzes

- BGS kann verdachtsunabhängig jede Person auf Bahnhöfen, im Zug und auf Flughäfen kontrollieren

 

Die strafende Gesellschaft - Der Staat und seine letzte Rettung

Fritz Sack / Reinhard Kreissl

Je schwächer ein politisches Regime, desto härter die Strafen, die es verhängt. Dieser an vielen historischen Beispielen aufzeigbare Zusammenhang kommt einem bei der derzeitigen Debatte über Innere Sicherheit in den Sinn. Die allseits geforderten Verschärfungen des Strafrechts, die hinter jeder Ecke vermutete Bedrohung "unserer" Ordnung durch Kriminelle unterschiedlichster Couleur gewinnen ihren tieferen politischen Sinn vor dem Hintergrund allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklungen. Die Politik des Nationalstaats ist in der Krise. Mit der Europäisierung von Entscheidungsstrukturen, der Globalisierung der Wirtschaft und der Individualisierung der Bewohner verliert der Staat an Souveränität. Unter diesen Bedingungen erscheint die nicht nur symbolische Inszenierung des staatlichen Gewaltmonopols eine wohlfeile Strategie, den Staat zu legitimieren: Wenn der Staat schon die immer wieder versprochenen Arbeitsplätze, die fast im Tagestakt zugesicherten Renten und das geradezu kultisch herbeigewünschte Wirtschaftswachstum nicht mehr sichern kann, so zeigt er doch zumindest im Bereich der Inneren Sicherheit, daß er noch über genügend Überlebenskraft verfügt. Schließlich war schon sein Entstehen von dem Versprechen begleitet, die Gesellschaft durch die Verwaltung aller Gewalt zu befrieden. Aber läßt sich Vergehendes und Überholtes mit der Beschwörung des Anfangs aufhalten oder vergessen machen?

Diese Strategie der inszenierten Rückbesinnung auf den Ursprung und das Eigentliche des Staates hat ihre Kosten. Härtere und längere Strafen verringern die Kriminalität nicht. Eine bessere Ausstattung der Sicherheitsorgane und eine Verdichtung der Überwachung läßt die registrierte Kriminalität in den Polizeistatistiken erst einmal steigen, weil mehr und bessere Augen schlicht mehr sehen und einiges ans staatliche und polizeiliche Tageslicht holen, was sonst im Dunklen geblieben wäre. Pure Repression verschärft nur die Konflikte und Probleme, die zu Kriminalität führen: denn die Verrohung und Brutalisierung einer Gesellschaft fragt nicht danach, ob die sie verursachende Gewalt gesellschaftlichen oder staatlichen Ursprungs ist. Alles dies ließe sich mit einem Blick in andere Länder studieren und belegen. Die USA haben die derzeit weltweit höchste Inhaftierungsrate, die öffentlichen Haushalte sind überlastet mit den Kosten der Verbrechensbekämpfung, die z.B. in dem Bundesstaat Kalifornien prozentual diejenigen für Bildung und Ausbildung überrundet haben. Eine ganze Generation Jugendlicher aus den urbanen Ghettos, insbesondere Schwarze und Latinos, wird sich perspektiv- und chancenlos in der Illegalität etablieren. Woher rührt trotz offenkundiger Kosten der Ruf nach dem strafenden Staat? Zum einen versuchen Politiker und Medien, mit markigen Sprüchen von der Angst vor Kriminalität zu profitieren. Zum anderen scheint er mit längerfristigen gesellschaftlichen Entwicklungen verbunden zu sein.

 

Wie das Recht Kriminalität schafft

Recht und insbesondere Strafrecht dienen zusehends als Lückenbüßer für den Zerfall der normativen Ordnung und des gesellschaftlichen Konsenses. Recht ist immer weniger Ausdruck geteilter Überzeugungen und zunehmend Instrument zur Verallgemeinerung von Partikularansprüchen. Jeder, der sich im Besitz eines Anspruchs auf ein schützenswertes Interesse wähnt, wendet sich an "das Recht". Auf diese Weise entsteht eine durchdringende Verrechtlichung aller gesellschaftlichen Lebensbereiche. Und das fördert die Kriminalität: Organisiere ich nämlich einen Handlungsbereich nach rechtlichen Gesichtspunkten, so führe ich damit die zentrale Differenz von legal und illegal ein. Es handelt sich hier um eine Ironie des Rechtsstaats, der durch sein Wachstum den Bereich illegalen Handelns ausdehnt. Der Versuch, soziale Probleme durch kriminalisierende Verrechtlichung und strafbewehrte Verbote zu lösen, führt aber in aller Regel nicht zum Ziel. Die Beispiele dieses Prozesses liegen auf der Hand: sexueller Mißbrauch, männliche Gewalt, Drogenkonsum lassen sich durch strafrechtliche Verbote nicht aus der Welt schaffen, und die symbolische Verurteilung durch harte Strafen wird bei weitem aufgewogen durch die Nebenfolgen der Strafe.

 

Braucht die neoliberale Gesellschaft mehr Strafe?

Der letzte konservative Premierminister Englands, John Major, brachte 1993 das Prinzip der von ihm und seiner Regierung vertretenen Kriminalpolitik auf die Formel, daß es darum gehe, "weniger zu verstehen und mehr zu verurteilen". In der politischen Rhetorik hierzulande lautet die Alternative: mehr strafen und weniger nach Ursachen fragen. (Übrigens: der wissenschaftliche Vordenker der bei uns von vielen so heftig gepriesenen sicherheitspolitischen Strategie der "Null-Toleranz", James Q. Wilson, zog mit der Verhöhnung der "root causes of crime" gegen das gesellschaftspolitische Projekt der Präsidenten Kennedy und Johnson bereits Mitte der siebziger Jahre zu Felde.) Dies ist die kriminalpolitische Übersetzung des Projekts des Aufbaus einer neoliberalen Gesellschaft. Dieses Konzept operiert bekanntlich mit dem Menschenmodell des "homo oeconomicus", wonach jeder Mensch sein eigener Nutzenmaximierer ist, im Bösen wie im Guten. Nicht nur ist jeder seines eigenen Glückes Schmied, sondern ebenso ist er es für sein Unglück und sein Ungemach. Die persönliche Verantwortung ist das zentrale Schlüsselwort der Zuweisung und der Bestimmung der gesellschaftlichen Position, die dem einzelnen zukommt, aber auch die entscheidende Zurechnungsformel, über die ihm gesellschaftliche Belohnungen und Bestrafungen zuteil werden.

Daß der Weg in die Zukunft einer von ökonomischen Prioritäten geprägten neoliberalen Gesellschaft eine strafende Kehrseite hat, gehört zu den politisch verschwiegenen Paradoxien des viel gepriesenen Aufbruchs in die neue Gesellschaft. Davon hört man nur wenig in Politik und Öffentlichkeit, umso mehr jedoch von der Notwendigkeit der inneren Wehrfähigkeit des Staates. Die notorische Spannung zwischen einer effizienten und bürgerrechtswahrenden Kriminalpolitik wird sich deshalb weiter verschärfen.

So wird der Ruf nach mehr Strafen nicht nur auf offene politische Ohren stoßen, sondern auch weiter seine gesellschaftspolitische Folgerichtigkeit haben. Das konservative politische Lager wußte dies schon immer. Das links-liberale Lager ist im Begriff, nach- und gleichzuziehen. Es zeigt sich tough on crime und bemüht sich sichtlich, keine Differenzen zur konservativen Sicherheitspolitik aufkommen zu lassen, trotz mancher Nachhutgefechte. Vor dem Hintergrund sich rapide ändernder gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und zunehmend unberechenbarer draeuender Zukunftsaussichten ist der Rückgriff auf das staatlich garantierte Mittel der Bestrafung eine zwar einfache, aber letztlich wirkungslose und nicht ungefährliche Lösung - daß sie dennoch immer wieder gewählt wird, wirft ein trauriges Licht auf den Zustand unserer Gesellschaft.

Prof. Dr. Fritz Sack und Dr. Reinhard Kreissl sind Kriminologen an der Universität Hamburg. Fritz Sack leitet das Institut für Sicherheits- und Präventionsforschung und ist im Vorstand der Humanistischen Union.

 

Alternativen zur repressiven Kriminalpolitik

Helga Cremer-Schaefer

Alternativen zur Strafrechtspolitik werden oft einfach als jene Varianten des "Kampfes gegen das Verbrechen" präsentiert, die "früher" beginnen oder "sanfte Kontrolle" und Sozialarbeit einsetzen. Um zu wirklichen Alternativen zu gelangen, müßte jedoch grundsätzlicher angesetzt werden. Ein erster Schritt wäre, das Vokabular von "Kriminalität" durch eine konkretere Sprache des Nachdenkens über soziale Konflikte und Schadensereignisse zu ersetzen.

Konflikte, Schadensereignisse und andere schwierige Situationen sind Nebenfolgen der normalen Funktionsweise von Institutionen, die die vorherrschende Arbeits- und Lebensweise abstützen. So sichert z.B. die "private Familie" soziale Reproduktion und Intimität. Als ein partiarchales Herrschaftsverhältnis kann sie auch zum Ort für gewalttätige Übergriffe auf Frauen und Kinder werden. Ereignisse, die als Kriminalität angezeigt werden, stehen in einem engen Zusammenhang mit den Institutionen des privaten Eigentums (und seiner öffentlichen Sicherung) und des Marktes. Fehlende Möglichkeiten, etwa über den Arbeitsmarkt am gesellschaftlichen Reichtum teilzuhaben, schaffen soziale Ausschließungen und verschärfen Konflikte. Zu den Folgen gehören bizarre Überlebensstrategien, Rücksichtslosigkeit und Kampf, illegale Ökonomien und Konflikte um die Nutzung sozialer Räume. Diese Konflikte erfordern eine zivile Regulierung, können aber nicht durch Kriminalpolitik aus der Welt geschafft werden. Eine alternative Kriminalpolitik kann jedoch die Grenzen kriminalisierender und strafender staatlicher Interventionen benennen und Konflikte durch Entkriminalisierung, Konfliktregulierung und eine situationsbezogene Prävention bearbeiten.

 

Chancen für Entkriminalisierung

... werden vertan, wenn Politiker und Politikerinnen sich in kriegerischer Pose als "Verbrechensbekämpfer" oder wenigstens "kompetente Sicherheitspolitikerinnen" übertreffen wollen. Um so notwendiger ist es, an einen liberalen Konsens zu erinnern. Danach gehört zur Rechtsstaatlichkeit, das Strafrecht und die staatliche Bestrafung und das Einsperren von Menschen kontinuierlich zurückzunehmen. Vorschläge für Entkriminalisierungen, sei es über "Geringfügigkeitsklauseln", sei es durch Streichung von Tatbeständen (wie das "Schwarzfahren" als Form der Leistungserschleichung, der Besitz und Erwerb von Drogen zum Eigenkonsum) sind überhaupt nicht neu. Sie werden ignoriert, wie viele Experten und Kommissionen sich auch damit beschäftigt haben mögen.

 

Konfliktregulierung

wird als "Täter-Opfer-Ausgleich" bald standardmäßig zum neuen Weg der Kriminalpolitik erklärt. Aber zu oft ist damit nur gemeint: Täter müssen zur Verantwortung ge- und erzogen werden. Eine Klärung, was Konfliktregulierung darüber hinaus meint, ist also notwendig. Aus Forschungen über die Motive von Anzeigeerstattern wurde deutlich, daß in Konflikten weniger die strafende Reaktion des Staates gefragt ist, sondern Schadenskompensation, die Vermittlung in einem Konflikt und soziale Unterstützung, um die Situation des Opferwerdens zu bewältigen. Diesem Bedürfnis kann durch die Interventionstypen "Mediation", "Schlichtung" und "Wiedergutmachung" entsprochen werden, für die es zahlreiche Modelle und Einrichtungen gibt. Zu einer echten Alternative können sie aber nur werden, wenn sie noch vor einem Strafurteil mit den Beteiligten einer Situation überprüfen, ob es eine Möglichkeit gibt, in diesem Verhältnis "sozialen Frieden" wiederherzustellen. Eine Voraussetzung ist zudem, daß Situationen geschaffen werden, in denen Regeln von "Fairneß" gelten und daß für alle beteiligten Parteien materielle und soziale Ressourcen mobilisiert und organisiert werden, mittels derer sie selbst die Situation regulieren können.

 

Prävention

gehört als "Kriminalprävention" zur Sicherheits-Rhetorik, mit der Populisten andere Populisten überholen wollen. Und doch: Präventive Kriminalpolitik ist kein "Präventivschlag" gegen das Verbrechen und ebensowenig eine "sozialpolitische Offensive" der Bekämpfung von sozialen Problemen, die als "Ursachen der Kriminalität" gelten.

Kriminalitätsereignisse entstehen im Zusammenhang mit Konflikten um gesellschaftliche Teilhabe und die partielle oder gänzliche Verweigerung des Zuganges zum Arbeitsmarkt, zu sozialstaatlichen Leistungen der Qualifikation und der sozialen Sicherung. Situationsbezogene Prävention beginnt mit der Analyse sozialer Konflikte und versucht, mit beteiligten Personen und Gruppen auf einer konkreten, d.h. lokalen Ebene Strategien zu entdecken, diese Konflikte zu regulieren. Auf der Ebene kommunaler Politik fehlen jedoch typischerweise die Voraussetzungen einer solchen problembezogenen (weil "ressortübergreifenden") Politik. Manche Präventionsinitiativen ("Präventionsräte") arbeiten daran, diese Lücke zu schließen. Nicht wenige kopieren aber staatliche Überwachungs- und Kontrollstrategien.

In einem Verständnis von präventiver Kriminalpolitik, das an sozialen Konflikten ansetzt, lassen sich auch Kriminalitätsfurcht und Klagen über "bedrohliche Kriminalität" besser verstehen. Sie sind z.B. Mitteilungen über Unsicherheiten, die für Bürgerinnen und Bürger in und durch Situationen der Anonymität in öffentlichen Räumen entstehen. Man kann sie auch als Meldungen von Belastungen durch ein vernachlässigtes, "unordentliches" Wohnumfeld interpretieren oder als Ausdruck von Diskriminierungen, die eine gesellschaftliche Gruppe erfährt und wenigstens durch "Sicherheit vor Kriminalität" kompensiert haben will.

Wir brauchen ein "kriminalpolitisches Programm, dessen Ziel es wäre, immer weniger Handlungen als Kriminalität zu interpretieren" (Nils Christie, in Heft 2/98 der Neuen Kriminalpolitik). Mit Entkriminalisierung, Konfliktregulierung und einer präventiven, soziale Konflikte vermittelnden Kriminalpolitik verfügen wir schon lange über pragmatische Strategien, uns diesem Ziel anzunähern.

Prof. Dr. Helga Cremer-Schaefer lehrt Sozialpädagogik an der Universität Frankfurt. Sie ist Redakteurin der Zeitschrift "Neue Kriminalpolitik" sowie Beiratsmitglied des "Kriminologischen Journals".

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