Linke an die Macht?

von Ulrich Weiss

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Am 2.November 2000 fand in Berlin-Hohenschönhausen, Zingster Straße 8, eine Veranstaltung des Vereins „Helle Panke“ zum Thema Linke an die Macht? statt.

Ich hatte hierfür folgenden Diskussionbeitrag vorbereitet:

Was hat einer wie ich zu diesem Thema zu sagen?

Einer wie ich,

  • – der sich einst verpflichtet sah, lebenslang eine Macht zu verteidigen, die sich als krönendes Ergebnis sozialer Kämpfe der Linken ansah,

  • – der den Gebrauch von Macht für nötig hielt, um erfolgreich die Interessen von einst geknechteten, erniedrigten, ausgebeuteten Menschen zu vertreten,

  • – der mit Brecht meinte, dass der Sieg der Vernunft nur durch den Sieg der Vernünftigen möglich ist und

  • dass es die Nachwelt verzeihen wird, dass die, die Freundlichkeit in die Welt bringen wollten, selbst nicht freundlich sein konnten,

  • – der die „sozialistischen“ Revolutionen seit 1917 als völlig berechtigt ansah, weil sie zivilisatorische Fortschritte ermöglichten, der also meinte, dass die daraus hervorgegangenen Gesellschaften es wert waren, mit allen Mitteln verteidigt zu werden,

  • – der sich sicher war, dass die Alternative dazu nur der Horror eines ungezügelten Kapitalismus sein konnte, der dann die menschliche Zivilisation überhaupt infrage stellen würde,

  • – der 1989/90 nach anderen Formen der Machtausübung suchte und eine Forderung von Linken empört zurückwies, die nämlich, dass die damalige SED-PDS, wenn sie sich schon nicht auflöse, nicht um Reform der sogenannten sozialistischen Staatsmacht zu ringen, sondern vielmehr in die Machtlosigkeit zu gehen habe, um dort eine ganz andere Grundlage einer sozialistischen Politik zu finden, das Verhältnis zur Macht eingeschlossen.

Was von einem solchen Menschen an Gedanken zu diesem Thema zu erwarten ist, erscheint zunächst ziemlich klar, zumal er – auch in Kenntnis all der üblen Geschichten, der mit dem östlichen „Sozialismus“ verbunden war – auch heute noch die Oktoberrevolution und die DDR nicht als historischen Irrtum denunziert, sondern als Ausdruck und Bedingung eines zivilisatorischen Fortschritts im 20. Jahrhundert,

Ist etwa zu erwarten, dass sein Verhältnis zur Macht – wenn sie nur in den richtigen Händen liege und in einer demokratischen Weise genutzt werde – ein negatives sein könnte? Eigentlich nicht zumal er sieht, dass die westliche Gesellschaft, befreit von der östlichen Konkurrenz, viele der zivilisatorischen Errungenschaften verliert, die sie in den Zeiten des Kalten Krieges erworben hatte. Er sieht, dass die kapitalistische Entwicklung zunehmend eine barbarische-anarchische Form annimmt, die sozialen Netze zerstört, verstärkt wieder Rassismus und Nationalismus hervor bringt, auch in Europa wieder in Kriege als Mittel der Politik führt. 

Ein Mensch mit solchen Erfahrungen, so wäre eigentlich zu erwarten, wird davon ausgehen, dass nur eine starke Kraft, möglichst eine staatliche Gewalt, diesen ungezügelten, gleichsam durchdrehenden Kapitalismus hindern kann, sein Zerstörungswerk fortzusetzen.  

Liebe Freundinnnen und Freunde,

ich denke, etwa so denkt die Mehrheit von euch über Macht und genau das erwartet ihr auch von einem Menschen wie mir. Wir werden sehen, ob das stimmt.

Einig sind wir uns sicher in der Frage, was Linkssein bedeutet: Darum zu ringen, den heutigen kapitalistischen Amoklauf zu bremsen oder gar völlig zugunsten einer menschlichen Gesellschaft aufzuheben. Ihr seid vermutlich auch der Meinung, dass es in dieser Hinsicht einigen Grund zum Optimismus gibt. Warum? Weil es eine Kraft gibt, die sich als demokratisch-sozialistisch versteht und die sich in ihrer Programmatik für die Überwindung der Kapitaldominanz oder gar für einen neuen Sozialismus einsetzt. Ihr werdet froh sein, dass es den in der alten Bundesrepublik etablierten Kräften in 10 Jahren nicht gelang, die PDS in die Bedeutungslosigkeit abzudrängen. Ihr werdet es begrüßen, dass ein wachsender Teil gerade derjenigen Politiker, die sie lange jagten, als Regierende inzwischen auf die Toleranz durch die PDS oder auf die offene Koalition mit ihr setzten.

Eine linke Kraft an den Hebeln der Regierungsmacht, so könntet ihr jubeln – und in bestimmter Weise stimme ich zu –, das ist ein Schritt hin in die Richtung, erfolgreich Verhältnisse zu bekämpfen, die auf eine kapitalistische Weise Menschen knechten, erniedrigen, sie in großer Zahl zu niedrig alimentierten und aus wesentlichen gesellschaftlichen Prozessen hinausgedrängten Almosenempfängern machen, und die die anderen in großer Unsicherheit halten.

Ihr hättet also viele Gründe, von mir zu erwarten, dass ich mich mindestens in dem Maße, wie ich mich vor und nach der Wende für diese Partei engagierte, nun auch heute dafür einsetze, dass die PDS an weitere Hebel der Macht gelangt. Das hätte als eine mögliche Quintessenz aus den Erfahrungen meines Lebens eine gewisse Logik. Es wäre eine nachträgliche Bestätigung sowohl meiner Zweifel an den richtigen Formen der Machtausübung zu DDR-Zeiten als auch der früheren klaren Annahme, dass den Mächten der kapitalistischen Zivilisationsgefährdungen mindestens eine starke (Staats-)Macht entgegengesetzt werden muss. 

Viele meiner ehemaligen bzw. jetzigen Genossen und Freunde denken genau so über das Verhältnis zwischen linken Bewegungen und Macht.

Und ich?

Ich wünsche tatsächlich, dass sich die PDS möglichst schnell, spektakulär und weitgehend an Regierungen beteiligt. Ich halte es zwar für nicht sehr wahrscheinlich, dass etwa Gregor Gysi (zumindest solange er noch PDS-Mitglied ist) Regierender Bürgermeister von Berlin wird. Ich wäre aber sehr dafür.

Desgleichen wäre es meiner Meinung nach für eine linke Bewegung sehr hilfreich, wenn die PDS auch auf Bundesebene mitregieren würde. Eine Machtbeteiligung demokratischer Sozialisten auf höchster Ebene sehe ich sogar als eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür an, dass etwas entsteht, was in Ost und West seit Jahrzehnten fehlt – eine starke demokratisch-sozialistische Bewegung. 

Wozu, so könntet ihr fragen, wäre eine solche Bewegung überhaupt nötig? Deren Aufgaben könnte doch dann die Regierung erfüllen?

Lassen wir das erst einmal dahingestellt.

Mir scheint jedenfalls, dass folgender Zusammenhang besteht: Käme eine solche PDS-Machtbeteiligung zustande, würden sich vermutlich viel mehr Leute zu einer Bewegung zusammenfinden, die sich das zur Aufgabe stellt, was eigentlich jeder halbwegs gebildete Mensch schon weiß, es sich aber kaum zu denken wagt: die Aufhebung des Kapitalismus durch das praktische Begründen einer neuen Lebens- und Produktionsweise. Ich könnte eine Reihe von Gründen dafür anführen, dass dies heute im Unterschied zu 1917, 1945 usw. auch erfolgreich sein könnte. Doch darüber will ich jetzt nicht reden. 

Die PDS an der Macht, würde oder könnte die ihre staatlichen Möglichkeiten nutzen, eine solche sozialistische Bewegung zu befördern bzw. schaffen, also die (bürgerliche) Macht selbst aufzuheben?

Denke ich so? Ganz und gar nicht. Wieso erwarte ich aber gerade dann, wenn die PDS an die Macht kommt, das Entstehen einer solchen Bewegung?

Weil ich zum Beispiel noch einen Schritt weiter denke, als ein Großteil des bundesdeutschen Establishments. Dieses stützt spätestens seit dem Münsteraner Parteitag die PDS-Führung nach Kräften. Den bürgerlichen PDS-Förderern ist offenkundig klar, dass einer der Gründe, warum eine starke linke Bewegung nicht zustande kommt, darin liegt, dass die Mehrzahl der Menschen glaubt, eine gute Macht könnte den Kapitalismus zivilisieren und eine Minderheit in alter ML-Tradition sogar annimmt, über eine solche Macht sei der Kapitalismus selbst abzuschaffen. Dass sich das verbreitete Unbehagen am Kapitalismus in diese Hoffnung kanalisiert und nicht etwa zu einer wirklichen sozialen Bewegung entwickelt, das wird offenkundig vom Establishment zu Recht als eine wichtige Voraussetzung dafür angesehen, dass sich an den kapitalistischen Verhältnissen nichts ernsthaftes ändert. Dazu bedarf es der PDS samt ihrer Kommunistischen Plattform. 

Halten wir fest: Die Hoffnung darauf, dass etwa die PDS an der Macht vieles schon richten könnte, ist eine der großen Hemmnisse für das Entstehen einer großen linken Bewegung. Die PDS an der Macht soll nun aber das Gegenteil bewirken, das würde für das Entstehen einer solchen Bewegung günstig sein? Wie das?  

Mir ist dieser Zusammenhang klar geworden, weil ich in den letzten 10 Jahren, ziemlich spät also, etwas begriffen habe: Das Entstehen einer tatsächlich starken sozialistischen Bewegung setzt voraus, dass bestimmte Erfahrungen massenhaft gemacht und zu folgenden Erkenntnissen verarbeitet werden:

  • – Selbst eine auf demokratischstem Wege zustande gekommene Herrschaft kann heute den Kapitalismus nicht mehr zivilisieren. Der Grund: Dieser ist selbst offenkundig an der Grenze seiner zwar immer schon widersprüchlichen, aber doch zivilisationsverträglichen Potenzen angekommen. Wer den heute möglichen Fortschritt an menschlicher Zivilisation will, der muss die kapitalistischen Verhältnisse selbst überwinden.

  • – Die zweite Erkenntnis habe ich unter anderem durch die Verarbeitung des Aufstieges und des Endes des Real-„Sozialismus“ gewonnen: Über eine Staatsmacht hat sich in der Vergangenheit durchaus Zivilsation befördern lassen. Eine solche Macht kann aber keine Bewegung befördern, die den Kapitalismus wirklich überwindet und etwa einen Sozialismus begründen, der diesen Namen tatsächlich verdient. Staatsmacht und eine sozialistische Bewegung, die unter anderem den Staat und das kapitalistische Eigentum (das monopolistische und das staatliche) aufhebt, also die Macht überhaupt, sind zwei unvereinbare Dinge.

Einst habe ich – bestimmte materielle Bedingungen vorausgesetzt – an die Allmacht der Aufklärung und der Erziehung geglaubt. Ich habe demzufolge Dummheit und Böses in der Welt vorrangig dem Wirken bürgerlicher Ideologen und den Überbleibseln der alten Zeit zugerechnet. Im Nachdenken über verschiedene Wenden habe ich jedoch eine alte Marxsche Weisheit begriffen:

Die wirklich handlungsleitenden Erkenntnisse und Motive hämmern sich die Leute nicht in Schulungen, sondern in ihrer alltäglichen Praxis ein. 

Die Mehrheit der Menschen (ihre Zahl sinkt allerdings) glaubt daran, dass Vater Staat, wenn er nur von den Richtigen gelenkt würde, wenigstens das Schlimmstes verhindern kann. Das entspricht durchaus jüngeren geschichtlichen Erfahrungen der Deutschen mit sehr unterschiedlichen Herrschaften. Nach dem ganz großen Führer, den sie mehrheitlich so mochten, dass sie ganze Völker zum Erbleichen brachten oder sie gleich industriemäßig ermordeten, hatten sie eigentlich damit rechnen müssen, nun tatsächlich zur Verantwortung gezogen zu werden. Gemessen an dieser Perspektive erlebten sie unter den neuen Herrschern, die ihnen ihre jeweiligen Ideologien aufzwangen, geradezu Erbauliches. Aus dem Blickwinkel der selbst produzierten Trümmer ihrer Städte heraus gesehen, des nun zu erwartenden Elends, erschien in Ost und West der jeweils neue Staat sozusagen als der gute, als neue Hoffnung der kleinen (und größeren) Leute. Die Ostdeutschen haben dann 1989/90 selbst einmal einen Herrschaftswechsel vollzogen und sind dabei trotz aller Frustationen wenigstens materiell viel besser gefahren als ihre Brüdervölker im Osten. Die heutige Hoffnung auf geine gute Herrschaft hat also durchaus in jüngerer Geschichte eine reale Basis. 

Nun gibt es aber inzwischen viele (vor allem in der Produktionsweise liegenden) Gründe dafür, dass diese mögliche halbwegs zivilisierende Rolle jeglichen Staates nicht mehr fauerhaft ausgeübt werden kann. Doch vorerst wird keine noch so zwingende theoretische Beweisführung, keine geniale Propaganda die Menschen mehrheitlich von der Hoffnung auf eine neue gute Herrschaft abbringen. Erst, wenn in der Praxis – und die wird vermutlich übel werden – unentrinnbar bewiesen ist, dass es keinerlei Macht mehr im Sinne irgendeines Gemeinwohls (und sei es nur das der Deutschen) richten kann, dann kann schon lange geahnte, doch tapfer ignorierte Erkenntnis plötzlich zur allgemeinen Gewissheit werden.  

Es könnte sein, dass dann der Ruf „Wir sind das Volk!“ erneut erschallt, dann aber nicht wieder umkippt in „Helmut, Helmut (oder wer auch immer), wir sind dein Volk, verarsche uns, wie du willst, bloß befriedige unsere Konsumwünsche und gib uns Hoffnung auf eine gewisse soziale Sicherheit!“ Es gibt Gründe zur Annahme, dass die zum Bewusstsein ihrer tatsächlichen Lage und Kraft Gekommenen dann selbst eine neue Lebens- und Produktionsweise begründen könnten und nicht mehr nach einem neuen Vater Staat und nach guten Führern rufen.  

Vorerst aber halten die meisten Menschen daran fest, dass es ihrem Wohlergehen dienen könnte, wenn sie alle vier Jahre zum Kreuzelmachen antreten. Eine richtige Begeisterung für irgendeine der etablierten Parteien will allerdings schon nicht mehr aufkommen. Der Zweifel daran wächst, dass auf diesem Wege noch irgend etwas zu holen ist. Das drückt sich auch in zunehmender Wahlverweigerung aus. Ich meine, dies sind erste hoffnungsvoll stimmende Schritte hin zu weitergehenden Erkenntnissen und eigenem Handeln.

Diese beginnende Abkehr von den etablierten Parteien der alten Bundesrepublik kann aber immer noch mit der Hoffnung auf eine scheinbare gute, unverbrauchte, im Politikgeschäft noch nicht korrumpierte Kraft verbunden sein. Dafür bietet sich die durch die 89er Niederlage gebeutelte PDS an. Gerade die Tatsache, dass sie Gegenstand der Wut der alten Parteien war, hat den Eindruck hervorgerufen, sie wäre tatsächlich etwas anderes, biete eine Alternative.

Der geschichtliche Wandel der SPD und der Grünen in ihren Märschen in die Institutionen der bürgerlichen Macht, die bekannte chamöleonhafte Entwicklung etwa vom antiautoritären Straßenkämpfer Fischer zum kriegstreibenden Minister oder die Wandlung des Jungsozialisten Schröder mit seinen revolutionären Sprüchen zum obersten Geschäftsführer der großen Bosse ist zwar vielen Leuten bewusst. Besonders im Westen wird diese Wendehalsigkeit vielfach auch nicht nur und nicht vorrangig als eine Frage des Charakters angesehen, sondern als Ausdruck einer geradezu zwangsläufigen Transformation der agierenden Politiker durch die bürgerlich-parlamentarischen Strukturen begriffen.

Dieses Wissen wird aber (außer bei den meisten Westlinken, die die PDS-Führung deshalb hasst) noch nicht auf die PDS übertragen. Außerhalb der PDS gibt es auf aber keine größere politische Struktur mehr, auf die sich die Sehnsucht nach einer gute Herrschaft, nach Ordnung, sozialer Sicherheit und Lebensorientierung richten könnte. Die Neonazis können diese Lücke noch nicht füllen und aus der (westdeutschen) Linken wird der machtorientierten PDS keine Konkurrenz erwachsen. Diese ist dazu einfach nicht mehr naiv genug, weil bei ihnen die Erfahrungen mit linken Märschen durch die bürgerlichen Institutionen geistig präsent sind.  

Das heißt, große Teile der Ostdeutschen werden sich vorerst durch keinerlei Fakten hinsichtlich der Entwicklung der SPD und der Günen ihre Hoffnung auf die PDS nehmen lassen. Auch autoritätsgläubige, aber von den etablierten Parteien angewiderte Westdeutsche könnten sich verstärkt dieser Partei zuwenden. Wenn es der PDS gelingt, sowohl den Ruf einer Alternative zur SPD und zur CDU irgendwie zu bewahren als auch bestimmte Hürden gegenüber den in der Mitte der Gesellschaft vorherrschenden Ideologien abzubauen (das ist vermutlich auch der Sinn der nun offenen Deutschtümelei), dann kann sie für noch viel mehr Menschen zur Hoffnungsträgerin werden. 

In dem Maße aber, in dem sie als Wahlkampfmaschine erfolgreich sein wird, wird die PDS wie alle ihre Vorgänger gezwungen, noch viel offenkundiger, als sie das im Gebrauch der Macht (oder im Betteln um Teilhabe) heute schon tut, auf die Positionen der wirklich Mächtigen überzugehen. Unvermeidbar und unübersehbar wird sie sich in ihrem behautpteten Anspruch, eine Alternative zu sein, eine demokratisch-sozialistische gar, blamieren. Mit einer PDS, die auf Bundesebene etwa einen Innen-, Kriegs-, Sozial- oder sonstigen Minister stellt, bleibt von dem, was heute schon weitgehend Fassade ist, nichts, aber auch gar nichts übrig. Den heutigen Illusionen wird damit jegliche Grundlage entzogen. Die trotz aller historischen Erfahrungen immer noch verbreitete Hoffnung darauf, irgendeine Partei könnte in den Institutionen der bürgerlichen Macht heute doch noch zivilisatorische Effekte bewirken, könnte dann endgültig erledigt sein.

 Was würden die dann erneut enttäuschten, heute noch auf den guten Vater Staat hoffenden Menschen mit einer derartigen ernüchternden Erfahrung anfangen?

Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Deutschen dann doch noch einmal auf einen offenen National-Sozialismus setzen. Die zunehmenden Unsicherheiten, die staatlichen Standort-Deutschland-Institutionen und alle größeren Parteien (auch und gerade unter der Decke von antinazistischen Alibi-Aktionen) bereiten den ideologischen Boden dafür nach Kräften vor. Die PDS mit ihrer neuen Liebe zu Deutschland und ihrer Weigerung, über die historisch bekannten Konsequenzen einer verkürzten Kapitalismuskritik – Kampagnen für ordentliche produktive Arbeit und gegen das raffende Kapital – auch nur ein wenig nachzudenken, hat hier mit den Etablierten völlig gleichgezogen (und sogar Teile der SPD glatt rechts überholt). 

Neben der möglichen Hinwendung von vielen Menschen zum allerletzten Aufgebot des deutschen Standorts, den Nazis, gibt es aber auch eine andere Chance für die dann auch von einer mitregierenden PDS ent-täuschten desillusionierten Menschen. Sie könnten sich mehrheitlich den tatsächlichen Anforderungen stellen, die sie zwar heute ahnen, vor denen sie aber immer noch die Augen schließen.  

Worin besteht also meine große Hoffnung?

Sie besteht darin, dass noch viel mehr Menschen als heute endgültig Schluss damit machen, ihr Schicksal an irgendwelche Stellvertreter zu delegieren. Von den Praktiken einer heute noch als Alternative erscheinenden mitregierenden PDS gewitzigt, könnten sie überhaupt aufhören, Leute, die sich ihnen als Gutmenschen aufdrängen, alle paar Jahre mit Macht über sie selbst auszustatten. Sie könnten ihren Erfahrungen trauen und nicht nur erkennen, dass – wie immer schon – jede diese Mächte sich unvermeidbar ihnen gegenüber verselbständigt. Sie könnten die historisch relativ neue Tatsache begreifen, dass seit Auflösung der alten sozialstaatlichen kapitalistischen Vergesellschaftung unter den Bedingungen des Turbokapitalismus (auch die besten Absichten der Akteure vorausgesetzt) nunmehr keine dieser Mächte nachhaltig noch irgendein Gemeinwohl sichern kann, dass also das Problem einer sozialen Bewegung nicht mehr darin besteht, die zivilisationsverträglichste Herrschaft an die Macht zu bringen, sondern die Verhältnisse überhaupt aufzuheben, die einer Herrschaft über die Menschen bedarf. Nicht wieder und wieder enttäuscht werden zu wollen und in Katastrophen zu landen, das hieße heute – und das könnten die Desillusionierten gerade anhand des unvermeidbaren Scheiterns der PDS als gute Macht – mehrheitlich erkennen, die kapitalistische Gesellschaft selbst abzuschaffen.

Diese große Blamage vorausgesetzt, die die PDS mit ihrer Machtteilhabe produzieren wird, müssen die sich heute noch Täuschenden also dann selbst ernsthaft die Frage stellen: Wie kann auf eine andere Weise gelebt und gearbeitet werden? Wie kommen wir durch eigenes Engagement aus der Rolle der sich selbst immer wieder zu Knechten Erniedrigenden heraus? Wenn aber diese Frage vielfach gestellt wird und die Politik ihre geistige Macht über die Menschen damit einbüßt, dann ist auch ihre materielle Gewalt erledigt. Dann könnte es ganz schnell sein, dass die Menschen ganz andere Wege einschlagen, um die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Existenz selbst zu beherrschen. Es könnte sein, dass dann plötzlich die Erinnerung an den Herbst 89 wieder wach ist, an die Runden Tische (bevor sie vom nationalen Taumel, den die damalige SED-PDS mit der Losung „Deutschland einig Vaterland“ mitzuverantwortenden hatte, weggefegt wurden). Das wäre auch der Punkt, wo sich die Menschen aufgrund eigener Erfahrungen z.B. auch wieder Marx und Luxemburg nähern könnten.  

Wie sehe ich also heute das Verhältnis der Linken zur Macht?

Wenn Linkssein bedeutet, die heute bedrohte menschliche Zivilisation zu verteidigen, sich selbst und anderen ganz neue Entwicklungsmöglichkeiten zu eröffnen, dann kann das Verhältnis zur Macht zukünftig nur noch ein negatives sein.

Links kann heute nur sein, wer nicht die Eroberung der Macht anstrebt, sondern ihre Auflösung.

Linkssein bedeutet heute, nicht eine bessere Herrschaft für nötig und möglich zu halten.

Es bedeutet, über Wege nachzudenken und sie praktisch zu gehen, die solche Formen von Leben und Arbeiten hervorbringen, die keiner Herrschaft mehr bedürfen.

Es bedeutet, sich kritisch mit den vielfältigen alternativen Projekten zu beschäftigen, die genau das bereits praktisch versuchen.

Es heißt, aus dem Aufblühen und Scheitern solcher Projekte zu lernen und neue Wege zu gehen. Das setzt natürlich voraus, dass Linke sich nicht als Avantgarde verstehen oder gleich – wie die PDS – als eine Staatsmacht in spe, die „unsere Menschen“ in eine glücklichere Zukunft führen könnte.

Es heißt, der Schöpferkraft von sozialen Bewegungen zu vertrauen, die nicht staats- und kapitalkonform alternatives Leben und Arbeiten entwickeln. Dies Vertrauen kann nur entwickeln, wer sich nicht von Wahl zu Wahl hangelt und sich nicht in den Institutionen der bürgerlichen Macht (DGB-Führungen usw. eingeschlossen) herumtreibt, sondern sich selbst an solchen alternativen Projekten beteiligt bzw. sie mindestens kritisch begleitet.  

Linkssein und staatsmächtig sein, das sind heute zwei einander ausschließende Dinge. 

Wer dies versteht und (noch) PDS-Mitglied ist, hat einen äußerst schwierigen Stand und eine große Aufgabe. Schwierig nicht deshalb, weil er oder sie keine Mandate oder Ministerposten zu erwarten hat (diese sind das letzte, was anzustreben ist), sondern weil Illusionen über den guten Vater Staat vielleicht nirgendwo so groß sind, wie in dieser Partei. In dieser Hinsicht ist sie der konservativste Verein, den es gibt (1). Doch mit der Teilhabe an Macht werden auch sich selbst täuschenden PDS-Mitglieder ernüchtert. Es ist wichtig, wenn auch in diesem Kreis Stimmen von Andersdenkenden laut werden – auch wenn sie gegenwärtig mehrheitlich als störend empfunden und zunehmend bekämpft werden. Es sind die Stimmen von Leuten, die den befreienden Weg der Enttäuschung, den die anderen noch vor sich haben, schon etwas eher gegangen sind.

Sie haben sich schon längst auf die tatsächliche Aufgabe von Sozialisten konzentriert, außerhalb der Institutionen der bürgerlichen Macht Wege in eine sozialistische Art des Lebens und Arbeitens zu suchen.  

Eine Regierungs-PDS und ihre Blamage als demokratisch-sozialistische Kraft kann viele Leute, die das heute für sich noch für undenkbar halten, genau zu dieser Aufgabe drängen.

Das ist jedenfalls meine Hoffnung. 

Also, liebe Genossinnen und Genossen, rein in die Institutionen!
Ran an die Macht!
So schnell und so hoch wie möglich.

Auch wenn es diesmal nur eine Farce wird, dieses Kino muss wohl noch einmal sein.

1) Siehe dazu: "Ohne uns gäbe es eine machtvolle rechte Partei" André Brie über Ursachen rechtsradikaler Gewalt im Osten und die Verantwortung der PDS


Nachbemerkung 

Die oben entwickelten Gedanken wurden am 2. November 2000 im Gespräch mit einigen älteren Leuten, alles Mitglieder der PDS, vorgetragen.

Es gab gegenüber diesen diskussionsfreudigen und gebildeten Genossinnen und Genossen (eine Frau war einst Historikerin an der DDR-Akademie der Wissenschaften) keinerlei Chance, sie auch nur für eine einzige dieser Überlegungen zu öffnen.  

Dagegen wurde dort überlegt, wie die PDS an die Macht kommen könne.

Das ging etwa so:

Wichtig sei ein sehr breites Bündnis. Das könnte zum Beispiel dann in der Lage sein, wirklich etwas gegen den Verfall des Eurokurses zu unternehmen. Das konsequente Vorgehen gegen spekulatives Kapital, besonders gegen das, das auf den Dollar setzt, könnte dazu führen, wirklich produktive Arbeitsplätze zu schaffen und soziale Sicherheiten zu finanzieren. Die jetzige Regierung sei zu schwach, zum Beispiel den Amis entgegenzutreten. 

Die Genossen wissen nichts davon, auch nicht die Historikerin, in welcher Katastrophe eine solche verkürzte Kapitalismuskritik (gegen das raffende Kapital, für die gute deutsche Arbeit) in der deutschen Geschichte bereits schon einmal endete. Die nähere Erläuterung löste keinerlei Bedenklichkeit aus.

Die Nähe zu konservativer oder gar national-sozialistischer Argumentation wird nicht als problematisch angesehen, denn man sei ja links.

Wer irgend etwas erreichen will, müsse an die Macht. Die Linken brauchen starken Einfluß in den Medien. Mit der Kulturlosigkeit etwa im Fernsehen muss Schluss gemacht werden. Die Menschen müssten doch aufgeklärt werden, damit sie einen dann wählen.

Wenn man auf Bundesebene gewählt sei, habe man endlich die Möglichkeit, das Grundgesetz durchzusetzen und den Kapitalismus zu zähmen. Von Sozialismus brauche man in den nächsten 100 Jahren ohnehin nicht mehr zu reden. 

Um an die Macht zu kommen, seien eben breite Bündnisse notwendig. Mit der SPD sowieso, aber wenn es sich anbietet, dann auch mit den Republikanern. Dort gebe es durchaus vernünftige Leute, die auch gegen Terror sind.

Ein Genosse, der besonders aktiv in praktischer Bündnispolitik wirke, berichtete über Gespräche mit einem aktiven Mitglied der REPs. Er habe nicht einen Punkt festgestellt, in dem er ernsthaft anderer Meinung war.

Darauf gab es keine Reaktion. 

Die Passagen von Gabi Zimmer über ihre Liebe zu Deutschland wurden geradezu gefeiert. Natürlich müsse der deutsche Staat noch reformiert werden. Es tue aber gut, sich wieder richtig dazu zu bekennen, Deutscher zu sein. Denn deutsch habe man immer gefühlt. Was dagegen die A. Marquard und der W. Wolf von sich geben, sei völlig unverständlich und bösartig.

Die Russen zum Beispiel wären selbst zu sowjetischen Zeiten immer bekennende Nationalisten und zugleich Antisemiten gewesen. Das habe uns doch früher auch nicht gestört. Überhaupt brauche man auch in der nationalen Frage die DDR-Zeit überhaupt nicht verleugnen. Denn als Sozialist habe man doch immer schon für gutes Deutschland gearbeitet und zwar in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, im Freien Deutschen Gewerkschaftsbund und in einer Nationalen Front

Abschließend wurde mir herzlich für meine Überlegungen gedankt.

Es ginge schon in Ordnung, dass auch ich meine Meinung äußere. Man könne sich auch einmal so etwas anhören.

Außerdem seien wir doch alle links.


Auf dem nächtlichem Heimweg überfielen mich erst einige Zweifel und dann das kalte Grauen.
Was ist, wenn die Linke mit oder ohne breites Bündnis an die Macht kommt?
Bleibt dann noch irgendetwas übrig, aus dem mensch noch lernen könnte?

Ich weiß es nicht mehr.

Ulrich Weiss