Der Kaukasus im Poker 
um Einfluss und Öl

Die Kämpfe in Abchasien flammen wieder auf

Von Patrick Richter und Peter Schwarz

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Während sich die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf den Krieg der USA gegen Afghanistan konzentriert, ist in einem anderen Teil Zentralasiens weitgehend unbemerkt ein seit langem schlummernder Konflikt wieder aufgeflammt. Seit Anfang Oktober finden in Abchasien heftige Kämpfe zwischen Guerilla-Gruppen und Einheiten der abchasischen Regierung statt, die sich zu einem Konflikt zwischen Russland und Georgien auszuweiten drohen.

Abchasien, das sich von den Gipfeln des Kaukasus bis an die Ufer des Schwarzen Meers erstreckt, gehört völkerrechtlich zu Georgien und liegt in dessen Nordwesten. Seit 1992-93, als in einem blutigen Bürgerkrieg mit über 10.000 Toten eine Viertel Million georgische Einwohner vertrieben wurden, ist es faktisch unabhängig. Die abchasische Regierung hat sogar die Aufnahme der abtrünnigen Provinz in die Russische Föderation beantragt, während die Regierung in Tiflis darauf besteht, dass sie Bestandteil Georgiens bleibt, und höchstens über eine erweiterte Autonomie verhandeln will.

Abchasien steht unter dem Schutz russischer Truppen, die im Bürgerkrieg die abchasischen Separatisten unterstützt hatten und sich seither als "Friedenstruppen" in Abchasien aufhalten. Seit 1993 wird der Waffenstillstand auch von einer UNO-Mission (UNOMIG) überwacht, der 23 Länder - darunter die USA, Russland und Deutschland - angehören. Einer 1999 auf dem OSZE-Gipfel in Istanbul getroffenen Vereinbarung, die russische Militärbasis Gudauta in Abchasien zu räumen, ist die russische Regierung bisher nicht nachgekommen. Hochrangige Militärs haben erklärt, dies werde noch mindestens 15 Jahre dauern.

Nachdem der Konflikt jahrelang auf kleiner Flamme dahinschwelte, kam es seit August dieses Jahres in der im Grenzstreifen zwischen Abchasien und Georgien gelegenen Kodori-Schlucht erneut zu Kampfhandlungen mit Toten und Verletzten. Russischen und abchasischen Angaben zufolge sollen mehrere Hundert tschetschenische und georgische Guerillas unter Führung des tschetschenischen Feldkommandanten Ruslan Gelajew von georgischer Seite in das Gebiet eingedrungen sein und Überfälle auf abchasische Dörfer und Stellungen verübt haben.

Nach einer vorübergehenden Kampfpause im September flammten diese Gefechte erneut auf und fanden ihren Höhepunkt in der Einnahme des Dorfes Georgijewskoje am 4. Oktober, die jedoch noch am selben Tag von abchasischen Einheiten rückgängig gemacht wurde und mindestens 14 Todesopfer forderte. Vier Tage später, am 8. Oktober, wurde am selben Ort ein Hubschrauber der UNO während seines regulären Kontrollfluges abgeschossen. Neun Personen kamen ums Leben - fünf UNO-Beobachter, eine örtliche Übersetzerin und die dreiköpfige ukrainische Besatzung.

Am folgenden Tag bombardierten Kampfflugzeuge Dörfer in Nordabchasien. Moskau leugnete erst, dass es sich dabei um russische Flugzeuge handelte, und behauptete später, ein russisches Flugzeug sei bei einem Einsatz im (500 Kilometer entfernt liegenden!) Tschetschenien vom Weg abgekommen. Am 17. Oktober sollen erneut russische Kampfflugzeuge in georgisches Territorium eingedrungen sein. Von russischer wie auch von georgischer Seite sind inzwischen Tausende Soldaten an die gemeinsame Grenze verlegt worden - die schlimmste Krise in den russisch-georgischen Beziehungen seit 1993.

Verwirrspiel

Bisher ist unklar, wer für das erneute Aufflammen der Kämpfe in Abchasien und für den Abschuss des UN-Hubschraubers verantwortlich ist. Im Hagel der gegenseitigen Beschuldigungen können selbst Kenner der Lage nicht eindeutig feststellen, was Wahrheit und was Propaganda ist.

Russland beschuldigt Georgien seit langem, es biete tschetschenischen Rebellen in dem unmittelbar an Tschetschenien angrenzenden Pankisi-Tal Unterschlupf. Von dort sollen Gelajews Kämpfer in Absprache mit der georgischen Regierung aufgebrochen sein, um bei der Rückeroberung Abchasiens zu helfen und eine zweite Front gegen Russland zu eröffnen. Die Zeitung Rossijskaja Gaseta behauptete am 12. Oktober unter Berufung auf gefangene tschetschenische Kämpfer sogar, der Angriff auf die Kodor-Schlucht sei von Gelajew mit dem georgischen Präsidenten Eduard Schewardnadse persönlich abgesprochen worden. Glaubwürdige Beweise für derartige Behauptungen wurden allerdings nicht vorgelegt. Die georgische Regierung selbst leugnet jede Verantwortung und bestreitet, dass sich Gelajew jemals in Georgien aufgehalten habe.

Von georgischer Seite wird verbreitet, bei den jüngsten Auseinandersetzungen handle es sich um eine russische Provokation mit dem Ziel, die georgische Regierung zu diskreditieren und als Unterstützerin von "Terroristen" zu brandmarken. Angehörige der georgischen Armee behaupten, sie hätten im Funkverkehr der russischen Armee mitgehört, wie die im Grenzgebiet stationierte Soldaten angewiesen worden seien, zur Vortäuschung von Kampflärm ziellos in alle Richtungen zu schießen. Die georgische Armee verfüge darüber hinaus nicht über die tragbaren Boden-Luft-Raketen, mit denen der UN-Hubschrauber abgeschossen worden sei.

Eine dritte - und die wohl wahrscheinlichste - These besagt, dass die Kämpfe tatsächlich von tschetschenischen und georgischen Freischärlern ausgelöst wurden, dass diese aber nicht von Präsident Schewardnadse, sondern von georgischen Regierungskreisen unterstützt wurden, die Schewardnadses prowestlichen Kurs ablehnen. In diesem Zusammenhang wird Innenminister Kacha Targamadse genannt, der unter Eingeweihten als "Moskaus Mann" in Tiflis und möglicher Schwardnadse-Nachfolger gilt.

Targamadses Beteiligung würde erklären, wie tschetschenische Kämpfer 400 Kilometer quer durch Georgien zur abchasischen Grenze reisen konnten, ohne aufzufallen oder behindert zu werden. Für die These spricht auch, dass Schewardnadse beim Ausbruch der Kämpfe abwesend war. Er weilte auf Staatbesuch in den USA.

Es ist auch denkbar, dass russische Militärs - eigenständig oder in Zusammenarbeit mit pro-russischen Kräften in Georgien - hinter dem Rücken von Präsident Wladimir Putin tätig wurden. Putins jüngste Annäherung an die USA stößt in russischen Militär- und Geheimdienstkreisen auf weitverbreitete Ablehnung. Vor allem die kürzlich beschlossene Schließung der russischen Abhörstation Lourdes in Kuba und der Marinebasis Cam Ranh in Vietnam sowie die Zustimmung zur Nutzung ehemaliger russischer Militäranlagen in Usbekistan durch die USA haben ungewöhnlich offene Kritik hervorgerufen.

Verteidigungsminister Sergej Iwanow hatte die Stationierung amerikanischer Truppen in Usbekistan noch wenige Tage, bevor sie Wirklichkeit wurde, kategorisch ausgeschlossen. Michail Deljagin, Direktor des Moskauer Globalisierungsinstituts, sprach von einer "äußersten Dummheit, weil wir unseren strategischen Einfluss aufgegeben haben". Die Moskauer Zeitung Wremja Nowostej, die in Zusammenarbeit mit Newsweek erscheint, sieht bereits die gesamte politische Elite Russlands in unausgesprochener Opposition gegen Putin und fühlt sich an die letzte Phase der Präsidentschaft Michail Gorbatschows im Jahr 1990 erinnert.

Machtpoker um Öl

Auch wenn unklar ist, wer in Abchasien welche Fäden zieht, machen die jüngsten Auseinandersetzungen doch deutlich, dass hinter der Fassade der "Allianz gegen den Terrorismus" das Pokerspiel zwischen den Groß- und Regionalmächten um Macht und Einfluss in Zentralasien unvermindert weiter geht.

Seit der Auflösung der Sowjetunion steht die Frage, wer die rohstoffreiche und strategisch bedeutsame Region im Herzen der europäisch-asiatischen Landmasse kontrolliert, im Mittelpunkt außenpolitischer Auseinandersetzungen. Eine Schlüsselfrage ist dabei, wie die reichhaltigen Öl- und Gasreserven der Region auf den Weltmarkt transportiert werden können.

Auch nach der Unabhängigkeit der ehemals sowjetischen zentralasiatischen Republiken verfügte Russland in dieser Hinsicht über ein Monopol, da alle vorhandenen Pipelines über russisches Gebiet führten. Unter den Westmächten begann daher ein intensives Streben nach alternativen Exportrouten, die das russische Monopol brechen und den westlichen Ölkonzernen den direkten Zugang zum kaspischen Öl ebnen sollten.

Der kürzeste Weg - nach Süden an den Persischen Golf - war wegen der amerikanischen Sanktionspolitik gegen den Iran blockiert. Das Mullah-Regime in Teheran sollte auf keinen Fall den Ölfluss kontrollieren können. Im Südosten ließ erst der Bürgerkrieg in Afghanistan und dann der Konflikt mit dem Taliban-Regime bestehende Pläne zum Bau einer Pipeline scheitern. (Der gegenwärtige Krieg gegen Afghanistan dient vorrangig dazu, dies zu ändern und in Kabul ein vom Westen abhängiges Regime zu installieren. Doch selbst wenn dies gelingen sollte, würde es Jahre dauern, im kriegszerstörten Land wieder die nötige Infrastruktur aufzubauen.)

Es blieb also nur der Weg nach Westen, und hier bot sich Georgien, das den Ölproduzenten Aserbaidschan mit dem Schwarzen Meer verbindet, als idealer Korridor an. Von europäischer und amerikanischer Seite wurden große Anstrengungen unternommen, das Land aus der russischen Abhängigkeit zu lösen und an die westlichen Bündnissysteme anzugliedern.

Georgien und Aserbaidschan standen im Mittelpunkt des 1993 von der Europäischen Union ins Leben gerufenen TRACECA-Projekts (Transpor Corridor Europe-Caucasus-Asia), das schnelle und kostengünstige Verkehrs- und Kommunikationswege von Europa nach Asien - die so genannte "Seidenstraße des 21. Jahrhunderts" - als Alternative zum Weg über Russland verwirklichen sollte. 1996 folgte ein weiteres Konsortium namens INOGATE (Interstate Oil and Gas Towards Europe), dem auch die USA angehören und das sich auf den Bau von Pipelines, Eisenbahnstrecken, Straßen, Häfen und Flughäfen zwischen Aserbaidschan und der Ukraine über Georgien konzentriert. Vorläufiger Höhepunkte dieser Bestrebungen war eine Konferenz in Baku im September 1998, an der sich 33 Länder, 12 internationale Organisationen und allein aus den USA 21 große Ölfirmen beteiligten.

Ab Mitte der neunziger Jahre schlossen sich Georgien, Aserbaidschan, die Ukraine, Moldawien und schließlich Usbekistan zum Bündnis GUUAM (benannt nach den Anfangsbuchstaben dieser Länder) zusammen, das sich eng an die NATO anlehnt. Ein weiteres an die NATO angelehntes Bündnis besteht zwischen der Türkei und Aserbaidschan.

Russland widersetzte sich dieser Entwicklung, indem es in Georgien ethnische Konflikte (Abchasien und Süd-Ossetien) schürte und damit die chronische politische Instabilität des Landes verstärkte. Präsident Schewardnadse beschuldigte Moskau sogar, für einen Mordanschlag gegen ihn verantwortlich zu sein. Georgien seinerseits bot den tschetschenischen Separatisten ein Rückzugsgebiet vor den russischen Truppen. Durch das umkämpfte Tschetschenien verläuft eine Pipeline, welche die aserbaidschanische Hauptstadt Baku mit dem russischen Schwarzmeerhafen Noworossisk verbindet - bis 1999 die einzige Verbindung zwischen Kaspischem und Schwarzem Meer. Sie ist inzwischen fast völlig versiegt.

Im Frühjahr 1999 zeigten die westlichen Bemühungen einen ersten Erfolg. Eine Ölpipeline, die von Baku zum georgischen Schwarzmeerhafen Supsa führt, nahm den Betrieb auf. Gebaut hatte sie ein vom britisch-amerikanischen Konzern BP Amoco geführtes Konsortium. Erstmals seit den Tagen der Erdölpioniere Rothschild und Nobel floss damit wieder Öl aus Baku an russischem Gebiet vorbei nach Westen.

Die Kapazität der neuen Pipeline ist mit fünf Millionen Tonnen pro Jahr allerdings gering. Eine zehn Mal leistungsfähigere Pipeline, die weiter durch die Türkei an den Mittelmeerhafen Ceyhan führen soll, befindet sich noch im Planungsstadium und könnte frühestens 2006 fertig werden. Die US-Regierung hat sich aus politischen Gründen jahrelang für die Baku-Ceyhan-Pipeline stark gemacht. Die Ölkonzerne waren ihr wegen der großen Länge (1730 Kilometer) und der hohen Kosten (2,9 Milliarden Dollar) aber stets mit Skepsis begegnet. Sie würde sich nur rentieren, wenn neben dem aserbaidschanischen Erdöl auch solches aus Kasachstan, das mit Schiffen oder durch eine weitere Pipeline über das Kaspische Meer transportiert wird, eingespeist würde.

Diese Pläne haben am 1. Oktober durch die Eröffnung einer Pipeline, die Tengis, das wichtigste Ölfeld in Kasachstan, mit dem russischen Schwarzmeerhafen Noworossisk verbindet, einen empfindlichen Schlag erhalten. Die vom Caspian Pipeline Consortium (CPC) gebaute Strecke führt ausschließlich über russisches Territorium und hat eine Jahreskapazität von 28 Millionen Tonnen, die auf 67 Millionen gesteigert werden kann.

Am CPC sind zwar auch ausländische Konzerne, insbesondere die amerikanische Chevron, führend beteiligt, trotzdem bedeutet die Inbetriebnahme der Tengis-Noworossisk-Pipeline, dass die Pläne, einen leistungsfähigen, von Russland unabhängigen Westkorridor zu schaffen, vorerst gescheitert sind.

In diesem Zusammenhang muss das erneute Aufflammen der Kämpfe in Abchasien gesehen werden. Genutzt haben sie bisher vorwiegend Russland. Zum einen liefern sie der russischen Führung einen Vorwand, Georgien militärisch unter Druck zu setzen. So erklärte Verteidigungsminister Iwanow nach dem Absturz des UN-Hubschraubers, nun sei es absolut offensichtlich, dass die georgische Führung die Lage auf ihrem Territorium nicht kontrolliere oder Terroristen nach ihren Zielen manipuliere - eine kaum verhüllte Drohung, selbst in Georgien für Ordnung zu sorgen und die "Terroristen" dingfest zu machen.

Zum andern untergräbt die Instabilität in Georgien die Pläne für die Baku-Ceyhan-Pipeline. Deren Scheitern überließe Russland über längere Zeit die Kontrolle über die Exportrouten aus dem Kaspischen Raum und damit einen wichtigen Hebel zur Beeinflussung der geopolitischen Entwicklungen in der Region.

Russlands Beitritt zum amerikanischen "Bündnis gegen den Terrorismus" bedeutet nicht, dass die russische Regierung aufgehört hat, ihre eigenen strategischen Interessen zu verfechten, die letztlich mit den amerikanischen unvereinbar sind. Dasselbe trifft auch auf China, die europäischen Mächte und alle anderen Mitglieder des Bündnisses zu.

Solche Bündnisse zwischen imperialistischen Mächten sind "notwendigerweise nur Atempausen zwischen Kriegen - gleichviel, in welcher Form diese Bündnisse geschlossen werden, ob in der Form einer imperialistischen Koalition gegen eine andere imperialistische Koalition oder in Form eines allgemeinen Bündnisses aller imperialistischen Mächte. Friedliche Bündnisse bereiten Kriege vor und wachsen ihrerseits aus Kriegen hervor."

Diese Worte schrieb vor 85 Jahren kein geringerer als Lenin, der eine der scharfsinnigsten Studien über den Imperialismus verfasste. Sie behalten auch heute ihre volle Gültigkeit.

Editoriale Anmerkung:
Der Text  ist eine Spiegelung von
www.wsws.org/de/2001/okt2001/abch-o30.shtml