Weltwirtschaftliche Herbstanalyse:
Die Post-Bubble-Ökonomie

von Rainer Falk
11/02
 
 
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Im Herbst 2002 befindet sich die Welt in einer ausgemachten Wirtschafts- und Finanzkrise. Zwar fehlt ein spektakulärer, alles überschattender "Hot-Spot", aber der Absturz an den Börsen, das Stottern des Konjunkturmotors, die Skandale vom Typ WorldCom und die neuen Finanzkrisen in Lateinamerika summieren sich zu einem tristen Szenario. Jetzt zeigen sich die Kehrseiten der Transformation des Kapitalismus in ein finanzgetriebenes Akkumulationsmodell, wie sie im letzten Vierteljahrhundert stattgefunden hat.

Die Kapitalmärkte, so läßt sich Michael Hartnet, der Direktor der Europa-Abteilung der Investitionsbank Merrill Lynch, in der Wirtschaftspresse zitieren, "sind das schlagende Herz des kapitalistischen Systems, und sie funktionieren nicht, wie die fallenden Aktienkurse und die steigenden Risikoaufschläge auf Kredite zeigen". George Soros, der Finanzmagnat, der in der Vergangenheit vielleicht am meisten an den Finanzmärkten profitiert hat, fügt hinzu: Die globalen Kapitalmärkte hätten in den letzten Jahren zwar erfolgreich die weltweiten Ersparnisse in die Zentren gepumpt, doch beim Recycling der Milliarden in die Peripherie der Weltwirtschaft versagt. Faktisch hat seit dem Asienkrisenjahr 1997 eine Umkehr der Finanzflüsse von den armen zu den reichen Ländern stattgefunden. Zu der notorischen Instabilität der Finanzmärkte kommt also ihr "Bias" zugunsten der Zentren.

In der Tat: "Der Kapitalismus ist in der Krise." So titelte die "Financial Times" unter Verweis auf die Buchführungsskandale bei Enron, WorldCom und anderen US-Konzernen schon im Sommer des Jahres. Doch der vom selben Blatt geforderte "rescue plan for capitalism" (Rettungsplan für den Kapitalismus) greift bislang nicht. Denn die Krise hat viele Facetten, die sich gegenseitig verstärken, und die immer wieder zitierte "Vertrauenskrise" an den Märkten (die in Wirklichkeit die Krise des Glaubens an die unverschämt hohen Profitraten des Shareholder-Value-Kapitalismus ist) ist nur eine davon.

Blutsommer an den Börsen

Was die Börsenentwicklung betrifft, so schrieb das bereits erwähnte Zentralorgan des globalen Finanzkapitals Anfang Oktober 2002 ohne zu zögern von einem zurückliegenden "blutigen Quartal". Wenngleich die Kurseinbrüche schon im Frühjahr 2000 eingesetzt haben (s. W&E 10/2001), boten die Sommermonate dieses Jahres erneut Anlaß zu Superlativen: Der Frankfurter Dax verlor binnen Dreimonatsfrist allein 36, seit Beginn des Jahres 2002 sogar 46%. An der Wall Street war vom schlimmsten Quartal seit dem Börsenkrach von 1987 die Rede. Insgesamt ist die Baisse der letzten zweieinhalb Jahre der längste Kurseinbruch seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts.
 

Wirtschaftliche Entwicklung: Veränderung des Bruttoinlandsprodukts und des Welthandels (Waren und Dienstleistungen) in %, 2002 und 2003 Prognosen
  1984-93 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003
  (p.a.)                    
Welt 3,3 3,7 3,7 4,0 4,2 2,8 3,6 4,7 2,2 2,8 3,7
IL 3,1 3,4 2,7 3,0 3,4 2,7 3,4 3,8 0,8 1,7 2,5
USA 3,2 4,0 2,7 3,6 4,4 4,3 4,1 3,8 0,3 2,2 2,6
EU 2,4 2,8 2,4 1,7 2,6 2,9 2,8 3,5 1,6 1,1 2,3
Japan 3,7 0,9 1,7 3,6 1,8 -1,2 0,8 2,4 -0,3 -0,5 1,1
EL 5,1 6,7 6,2 6,5 5,9 3,5 4,0 5,7 3,9 4,2 5,2
Afrika 2,0 2,3 3,0 5,6 3,1 3,4 2,8 3,0 3,5 3,1 4,2
Asien 7,6 9,7 9,0 8,3 6,6 4,0 6,1 6,7 5,6 6,1 6,3
Mittelost 3,5 0,5 4,4 4,7 6,2 3,6 1,2 6,1 1,5 3,6 4,7
LA 2,9 5,0 1,8 3,6 5,2 2,3 0,2 4,0 0,6 -0,6 3,0
 
Welthandel 5,6 8,9 8,7 6,9 10,6 4,3 5,5 12,6 -0,1 2,1 6,1

Quelle: IMF, World Economic Outlook, Washington D.C., October 2002


Die massive Kapitalvernichtung an der Börse führt die im irrationalen Überschwang der 90er Jahre ins Uferlose gestiegenen Kurse wieder auf ein realistischeres Maß zurück. Doch diese notwendige Korrektur ist kein abgehobener Vorgang im "virtuellen Kasino"; sie hat handfeste Konsequenzen in der "übrigen" Wirtschaft. Die "Post-Bubble-Ökonomie" ist eine Wirtschaft der geplatzten Illusionen, des erschütterten Glaubens und der zerstobenen Hoffnungen:
  • Geplatzt ist zunächst einmal die Illusion, daß es nach dem Platzen der Technologieblase ("New Economy") und dem ratenweisen Crash seit dem Frühjahr 2000 - wie nach früheren Kurskorrekturen - schon bald und naturgemäß zu einer neuen Aufwärtsbewegung an den Börsen kommen würde. Irgendwann wird dies sicherlich der Fall sein; aber vorerst ist im freien Fall der Wertpapiermärkte kein Halten abzusehen.
  • Nicht bewahrheitet hat sich auch der Glaube an einen schnellen globalen Wiederaufschwung, der nach einer überraschend kurzen und milden Rezession von der weltwirtschaftlichen Lokomotive namens US-Ökonomie wieder angezogen werden würde. Auch wenn der IWF der US-Wirtschaft für das Jahr 2002 nunmehr ein Wachstum von gut zwei Prozent prophezeit (s. Tabelle) - noch ist die Diskussion über eine "Double-Dip"-Rezession nicht beendet, d.h. die Gefahr, daß die US-Ökonomie nach kurzem Luftholen erneut in die Rezession abrutscht. Und niemand kann genau vorhersagen, welche weltwirtschaftlichen Konsequenzen mit dem drohenden Kriegszug Washingtons im Irak verbunden sein werden.
  • Längst zerstoben ist auch die Hoffnung, daß wenigstens in Europa der Konjunkturmotor in der zweiten Hälfte des Jahres 2002 wieder anspringen würde. Als ausgemacht gilt ein weiterer Rückgang der Wirtschaftsleistung im laufenden Jahr, wobei die Schätzungen des IWF hier noch vergleichsweise optimistischer als die der Europäischen Kommission (die inzwischen von einem Jahreswachstum ausgeht, das unter einem Prozent liegt) sind. Von Japan, das einst von Europa und den USA als die große Herausforderung begriffen wurde, wagt schon niemand mehr zu sprechen.

Die Kehrseiten der Finanzmarktglobalisierung

Die drei Pole der Weltwirtschaft sind jeder auf seine Weise in einer (mindestens teilweise) selbst gebauten Zwickmühle gefangen, die ein entschlossenes Umsteuern im Sinne einer expansiven Wirtschaftspolitik, einer Belebung der öffentlichen und privaten Nachfrage, behindert: Japan kämpft nach wie vor mit der Last einer horrenden öffentlichen Verschuldung, die USA mit dem tiefen Absturz nach der Bonanza der 90er Jahre und die Europäische Union mit dem selbst gestrickten Korsett der monetaristischen Maastricht-Kriterien. Daß sich gleichzeitig das Tempo der weltwirtschaftlichen Integration verlangsamt hat (siehe das reduzierte Wachstum des internationalen Handels und den drastischen Rückgang der Direktinvestitionen), verweist darauf, daß auch die Anwendung kompensatorischer außenwirtschaftlicher Expansionsstrategien an Grenzen stößt. Das Ergebnis ist allenthalben eine Verstärkung der Tendenz zur Deflation - am stärksten ausgeprägt zweifellos in Japan, aber angesichts der anhaltenden Konsumschwäche auch in den USA und der öffentlichen Sparwut auch in Europa durchaus real.

Jetzt erst, in der Krise, zeigt sich so richtig, wie verhängnisvoll die Konsequenzen der Umpolung des Akkumulationsmodells auf den Vorrang des Finanzsektors sein können. Zwar sind die Blasen geplatzt und eine rückläufige Gewinnentwicklung unübersehbar, doch nach wie vor bilden die Renditemargen des "Shareholder Value" die Meßlatte. Dies veranlaßt die großen privatwirtschaftlichen Akteure zu ihren berüchtigten Kostensenkungsstrategien. Die Krisenverarbeitung der "Post-Bubble-Ökonomie" erweist sich als einziges Hauen und Stechen: Industriekonzerne wie Großbanken überbieten sich in Einsparungs-, d.h. vor allem Entlassungsorgien. Diese produzieren nicht nur mehr Arbeitslosigkeit, sondern schnüren die gesamtwirtschaftlichen Expansionsspielräume nur noch mehr ein.

Von einer enormen ideologischen Resistenz erweisen sich in dieser Situation auch die ausgedienten Rezepturen neoliberaler Wirtschaftspolitik. Bei der jüngst über die Bühne gegangenen Jahrestagung von IWF und Weltbank gefielen sich die Finanzminister der G7 im gegenseitigen Mutmachen und im Ritual der Beschwörung der "Wiederbelebungskräfte des Marktes", während der IWF die Europäer immer unverhohlener zur Flexibilisierung des Arbeitsmärkte und zur Deregulierung des Sozialstaats auffordert: der Einzug der Strukturanpassung à la Washington Consensus im Norden.

Weitere verlorene Jahre im Süden

Die Dominanz der Finanzmärkte über die Realökonomie macht sich im Norden wie im Süden gleichermaßen negativ bemerkbar: Während sie im Norden den Aufschwung lähmt, gibt es auch im Süden keine empirischen Anhaltspunkte dafür, daß die privaten Kapitalflüsse langfristiges Wachstum hervorgebracht haben. Eine kürzlich veröffentlichte Oxfam-Studie (s. Hinweis) sieht im Gegenteil sogar Gründe dafür, daß privaten Kapitalbewegungen erheblich zum Rückgang des Wachstums seit Mitte der 70er Jahre und durch ihre Umverteilungseffekte zur Ausbreitung von Armut beigetragen haben.

Mit der Ausnahme Asiens und auf die Pro-Kopf-Leistung umgerechnet, bedeuten die gegenwärtigen Wachstumsraten im Süden im besten Falle Stagnation, im schlimmsten Falle jedoch Regression, d.h. Rückentwicklung. Besonders eklatant ist dies derzeit erneut in Lateinamerika. Wie die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) in ihrem jüngsten Lagebericht (s. Hinweis) schreibt, "wird das Jahr 2002 das fünfte 'verlorene Jahr' nacheinander markieren, mit einer Wirtschaftsleistung pro Kopf, die um 2% unter der des Jahres 1997 (dem Jahr der Asienkrise) liegt". Da ist sie wieder, die Erinnerung an das "verlorene Jahrzehnt" der Schuldenkrise, deren offener Ausbruch sich in diesem Sommer zum zwanzigsten mal jährte. Mit Blick auf die Weltwirtschaft sind freilich noch ganz andere historische Assoziationen möglich...

Global betrachtet belastet der instabile Zyklus mit seiner ausgeprägten Wachstumsschwäche, mit Deflationstendenzen, Börsen- und Finanzkrisen die Weltwirtschaft wesentlich stärker als noch vor einem Jahr. Besorgniserregend muß sein, daß eine Umkehr zur Vernunft in der offiziellen Wirtschaftspolitik nicht wahrscheinlicher geworden ist. Sie müßte als Sofortprogramm koordinierte Anstrengungen der USA, Japans und Europas zur Ankurbelung der globalen Nachfrage vorsehen, weitere Zinssenkungen in den USA und Europa und eine mindestens zeitweilige Außerkraftsetzung des europäischen Stabilitätspakts eingeschlossen.

Editorische Anmerkung

Der Artikel ist eine Spiegelung von
http://www.weedbonn.org/we/we0210_falk.htm