Die bewaffnete Globalisierung
Der "sicherheitsmilitärische Komplex" und der neue Imperialismus

von Claude Serfati

11/02
 
 
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Gab es eine Welt vor dem 11.September? Manche meinen, die USA hätten erst nach diesem Tag beschlossen, militärisch in der Welt zu intervenieren. Es ist deshalb nützlich, daran zu erinnern, dass es im Verlauf der 1990er Jahre mehr militärische Interventionen der US-amerikanischen Armee gegeben hat als in der Periode 1945—90 (so eine Studie des amerikanischen Kongresses; vor dem 11.September standen 60000 US-Soldaten in rund 100 Ländern).

Dennoch kann man nicht bestreiten, dass das Programm der Regierung Bush die Entwicklung des vergangenen Jahrzehnts bedeutend verstärkt. Ihr Ziel ist die Konsolidierung der Stellung der USA als einzige Supermacht mit einer hegemonialen Position, die ihresgleichen in den letzten zweihundert Jahren kapitalistischer Entwicklung nicht gekannt hat. Die Beschleunigung wird zunächst an der bedeutenden Erhöhung des Militärhaushalts sichtbar; die setzte bereits unter Clinton ein, der im Kongress für den Zeitraum 1999—2003 eine Erhöhung um 112 Mrd. Dollar durchsetzte. Bush schwebt jetzt eine neue Größenordnung vor. Der Etat für "nationale Sicherheit" (Verteidigung, Spionage…) betrug im letzten Jahr (beschlossen vor dem 11.September) 304 Milliarden Dollar, in diesem Jahr 351 Milliarden und im nächsten Jahr 396 Milliarden Dollar. Im Jahr 2007 soll er 470 Milliarden Dollar erreichen. Diese Ausgaben dienen der Finanzierung gigantischer Rüstungsprogramme und begünstigen vor allem einige Großkonzerne (Lockheed Martin, Boeing, Raytheon, General Dynamics, Northrop Grumman), die etwa die Hälfte der Pentagonaufträge bekommen. Diese Konzerne sind aus einer Konzentrationswelle hervorgegangen, die 1993 begann und die vom Finanzkapital und den Pensionsfonds, aber auch von Marktanalytikern und Investmentbankern gefördert wurde; sie haben die groben Linien der Restrukturierung dieser Industrie vorgezeichnet und dabei beträchtliche Provisionen eingestrichen. In der Rüstungsbranche wie in anderen Sektoren läuft der Anstieg des "shareholder value" über die Senkung der Lohnkosten und die Steigerung des Absatzes — also über die Erhöhung der Aufträge aus dem Pentagon und die Steigerung der Waffenexporte. Das Ergebnis: während der S&P-Index der 500 bedeutendsten Aktienwerte an der Wallstreet zwischen dem 11.September 2001 und Ende August 2002 um 20% gesunken ist, ist der Aktienwert der großen Rüstungskonzerne um 10% gestiegen.

Ein neuer Sicherheitskomplex

Die großen Rüstungskonzerne können mit der Situation, die seit dem 11.September geschaffen wurde, noch aus einem anderen Grund zufrieden sein: Die Einrichtung eines Amts für Nationale Sicherheit (das übrigens schon vor Jahren vorgeschlagen worden war), fordert Beiträge von allen Ministerien, Bundesstaaten, Städten und Unternehmen. Der "Sicherheits"markt ist für die Rüstungsindustrie sehr vielversprechend. Denn diese sind in der Tat gut gerüstet, um die Technologien zu entwickeln, die einer höheren Sicherheit des Datenaustausches in den Bereichen Verkehr und Telekommunikation dienen. Ein Großteil davon ist im militärischen Bereich schon vorhanden und kann leicht an die "zivilen" Sicherheitsmärkte angepasst werden. Außerdem haben der Kongress und die Bundesstaaten damit begonnen, die Sicherheitsbestimmungen erheblich zu verschärfen, was diese Konzerne wegen ihrer engen Beziehungen zur und ihrer Kumpanei mit der politischen Führung im Land in eine besonders vorteilhafte Lage bringt. Somit bilden die Rüstungskonzerne das Rückgrat des "militärischen und Sicherheitskomplexes", der sich zu Beginn dieses Jahrhunderts in den USA herausgebildet hat. Der nordamerikanische militärische und Sicherheitskomplex muss auch neue Waffensysteme entwickeln. Vor dem Hintergrund, dass die Globalisierung des Kapitals die sozialen Verheerungen beschleunigt, nimmt die Vorbereitung auf "Städtekriege" (so ein Ausdruck der Experten im Pentagon), die von Soldaten mit modernsten Hightechwaffen im Gefolge von Aktionen der Luftwaffe geführt werden, einen wichtigen Platz im Militärhaushalt ein. Es geht darum, Kriege gegen die Bevölkerungen in den riesigen städtischen Zentren des Südens, eventuell auch gegen "gefährliche Klassen" in den Städten des Nordens führen zu können.

Kriegswirtschaft und Finanzmärkte

Die Globalisierung des Kapitals und die Militarisierung des Erdballs stehen in einem engen Zusammenhang. Im Gegensatz zum neoliberalen Diskurs ist die Globalisierung nicht das höchste Stadium des Friedens. In beiden Prozessen nehmen die USA eine zentrale Stellung ein. Die beschleunigte Militarisierung der USA dient mehreren Zielen. Sie sichert die Herrschaft des US-Imperialismus über potenzielle, wirkliche und eingebildete Feinde. Sie schafft einen Vorsprung gegenüber den Alliierten, die nicht in der Lage sind, so teure Rüstungsvorhaben wie das Raketenabwehrprogramm (geschätzte Kosten: über 50 Millionen Dollar) oder das Kampfflugzeug FX-35 (geschätzte Stückkosten: 100 Millionen Dollar) zu finanzieren. Außerdem signalisiert die Kriminalisierung des sozialen Widerstands, einhergehend mit einer starken Einschränkung der demokratischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten seit dem 11.September, dass alle, die die kapitalistische Globalisierung kritisieren, potenzielle Feinde und militärisch in Schach zu halten sind. Außerdem bedient sie die Interessen des militärisch-industriellen Komplexes und erlaubt ihm, dank des Aufschwungs der Sicherheitsindustrie, seinen Einfluss auf zivile Bereiche auszudehnen. Die Kriegswirtschaft, wie sie sich in den Plänen der Bush-Administration niederschlägt, entwickelt sich heute in einem ganz anderen Zusammenhang als in den Nachkriegsjahrzehnten. Makroökonomisch (starkes Wirtschaftswachstum und soziale Errungenschaften in den Industrieländern) wie geopolitisch (Aufteilung der Welt zwischen den USA und der UdSSR) war die Lage eine völlig andere. Seit dem Ende der 70er Jahre hat das Finanzkapital erneut eine beherrschende Stellung eingenommen. Die Finanzmärkte sind in den 80er und 90er Jahren zu zentralen Institutionen des Kapitalismus geworden. Sie haben dem Kapital erlaubt, seine Position gegenüber der Arbeiterklasse zu stärken, und haben der Bourgeoisie wie auch den Rentiers eine gewaltige Bereicherung beschert. Doch weder die beträchtliche Steigerung der Ausbeutungsrate noch die Öffnung neuer Märkte in Russland und Osteuropa haben dem Kapitalismus einen neuen Frühling beschert. Weltweit hat die Expansion des Kapitals und der Eigentumsverhältnisse, auf die es sich gründet, in den letzten zwei Jahrzehnten keine dauerhafte und nennenswerte Steigerung der Akkumulationsrate des Kapitals bewirken können. Die Vorherrschaft des Finanzkapitals ist zugleich eine Folge und ein wichtiger Bestandteil dieser Sachlage. Der Fortschritt des Finanzkapitals beruht auf der Notwendigkeit, die Gewinne aus seinen Finanzaktiva in kürzester Zeit einzustreichen. Gleichzeitig verstärkt seine Art zu funktionieren die räuberischen Aspekte des Kapitalismus. "Nach mir die Sintflut! Das ist die Devise aller Kapitalisten und jeder kapitalistischen Nation." Marx‘ Feststellung gewinnt heute eine besondere Aktualität. Man betrachte nur die Bilanz der Privatisierungen/Liquidierungen und der Deregulierungsmaßnahmen, die das Finanzkapital auf der ganzen Welt organisiert hat. Afrika, Südasien, Lateinamerika sind alle in diesen Strudel geraten. Die "Kriegswirtschaft" und der mit ihr zusammenhängende "endlose Krieg" sind Teil des Funktionierens und der "Meinungsbildung" auf den Finanzmärkten. Nordamerikanische Finanzanalytiker sehen einen neuen Börsenboom voraus, wenn es nach Ankündigung eines Krieges gegen den Irak zu "emotionsbedingten" Aufkäufen von Rüstungsaktien kommt. Diese Emotionen stützen sich selbstverständlich auf das greifbarere Versprechen, die Kontrolle über die irakischen Erdölvorräte zu erlangen, ein Ziel, das US-Vizepräsident Cheney schon gar nicht mehr verheimlicht. Die Räuberwirtschaft beschränkt sich nicht mehr auf bestimmte Länder Afrikas, wo Kriege bewaffnete Banden in einer Art "Destruktionsweise" (im Gegensatz zu Produktionsweise) am Leben halten. Die immer zahlreicher werdenden Interventionen der USA und der NATO zerstören die Infrastruktur an Produktion und solche, die für das Überleben der ansässigen Bevölkerungen wichtig sind. Sie vergrößern natürlich das soziale Elend; aber vor dem Hintergrund der Instabilität und der Unsicherheit, die die kapitalistische Ökonomie seit zwanzig Jahren auszeichnet, öffnen sie nur beschränkte Investitionsmöglichkeiten. Im Gegenzug nähren sie die Haushalte der Militär- und Sicherheitspolitik und verlängern die Vorherrschaft des Finanzkapitals.

Imperialismus und Krieg

In der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts hat die Rivalität zwischen den imperialistischen Mächten die Menschheit in den Abgrund zweier Weltkriege gestürzt. Auch heute kann das große Ausmaß der Gegensätze zwischen den großen kapitalistischen Industrieländern nicht geleugnet werden. Aber der Abstand zwischen der militärischen Macht der USA und der der anderen "entwickelten" Staaten verhindert, neben anderen Faktoren, dass wirtschaftliche und Handelskonflikte zwischen beiden Seiten des Atlantik in eine militärische Konfrontation umschlagen. Das macht den Imperialismus des beginnenden 21.Jahrhunderts deswegen nicht friedfertiger, wie man an der Zunahme der Kriege und bewaffneten Interventionen der USA und der EU sehen kann. Der Begriff Imperialismus ist in radikalen und selbst marxistischen Kreisen nicht mehr wohl gelitten. Sie ziehen oftmals den Begriff "Empire" vor, den sie zumeist auf die USA beschränken. Hingegen tauchte der Begriff nach dem 11.September verstärkt in der Finanzpresse auf und wurde sogar von Cooper, dem außenpolitischen Berater von Tony Blair, "theoretisiert". Demnach ist militärische Intervention erforderlich; ihr muss in den Ländern, die im Chaos versunken sind, die Einrichtung einer Vormundschaft (Protektorat) folgen. Diese Formen von Neokolonialismus müssen unter der Ägide der "internationalen Gemeinschaft" organisiert werden, also der Länder, die die Welt beherrschen sowie der internationalen Organisationen (IWF, WB, NATO), deren Programme sie festlegen. Die USA haben weder die Absicht noch die Möglichkeit, das weltweite Chaos allein zu verwalten. Die Zerstückelung Argentiniens war nicht das Werk des "US-Imperiums", sondern ein Gemeinschaftswerk des Finanzkapitals der USA und der EU. Die Vorbehalte der EU gegen den "Unilaterialismus" der USA resultieren nicht aus einer grundsätzlichen Differenz über die kapitalistische Globalisierung. Sie zeugen lediglich von der Furcht, bei der Führung der "Weltgeschäfte" ein wenig an den Rand gedrängt zu werden und — kurzfristig — zusehen zu müssen, dass die irakische Kriegsbeute "einseitig" aufgeteilt wird. Daher auch die Steigerung der Rüstungsetats in den großen EU-Ländern.

Editorische Anmerkung

CLAUDE SERFATI ist Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Saint-Quentin-en-Yvelines. Sein Artikel wurde uns von  "kimsas"  am 5.11.2002 zugeschickt. Er wurde der SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2002, Seite 14 www.soz-plus.de entnommen.