VOR DEM EUROPÄISCHEN SOZIALFORUM in Paris - Debatten, Kontroversen,  Initiativen, Themen  
von
Bernhard Schmid (Paris)

11/03    trend onlinezeitung

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Eine Idee bricht sich an verschiedenen Orten in Europa Bahn. Während sie in Frankreich bereits seit einigen Wochen kursiert, wurde sie (nach der gelungenen Demonstration gegen die regressiven "Reformen" im Sozialabbau vom vorletzten Samstag in Berlin) nun auch von deutschen Alternativmedien und Aktivistinnen aufgegriffen. Demnach soll jetzt europaweit wiederholt werden, was vor einigen Monaten der Antikriegsbewegung auf internationaler Ebene gelang: Von einem "sozialen 15. Februar" ist die Rede. 

Gemeint sind zeitgleiche Millionendemonstrationen in den verschiedenen europäischen Ländern -(ähnlich denen gegen den Irakkrieg zu Jahresanfang), die sich gegen die überall stattfindenden, so genannten Sozialreformen neoliberal inspirierter Regierungen richten sollen. Im Unterschied zu damals dürfte dieses Mal eine aktive Unterstützung durch das jeweilige Regierungslager auch dort, wo sozialdemokratische oder grüne Parteien (und nicht Konservative, da letztere die Oppositionsbänke drücken) den Abbau sozialer und den Ausbau repressiver Staatsfunktionen betreiben, eher ausbleiben. 

Die Idee zum Aktionstag im Februar dieses Jahres war im voraus gehenden November in Florenz lanciert worden, nachdem die US-Antikriegsbewegung den Termin bereits zuvor für Nordamerika festgelegt hatte. Den Anlass, um die Initiative zu lancieren, bot damals das erstmalig stattfindende Europäische Sozialforum (ESF).  

VORGESCHICHTE DER SOZIALFOREN

Die Idee zu internationalen Treffen solcher Art, bei denen die verschiedenen Kämpfe für die sprichwörtliche "andere Welt" zusammengeführt werden sollen, wurde Anfang des Jahrzehnts durch das Weltsozialforum im südbrasilianischen Porto Alegre populär gemacht. Seit Januar 2001 hat dieses weltweite "alternative Gipfeltreffen" nun bereits drei mal stattgefunden; im nächsten Jahr wird es nun den Ort wechseln und erstmals in einer asiatischen Metropole stattfinden, nämlich in Bombay.

Am Anfang stand der Gedanke, dass es einen neuen weltweiten Zyklus gesellschaftlicher Mobilisierungen und sozialer Kämpfe sowie eine Neuauflage der Kritik an der Funktionsweise weltwirtschaftlicher Strukturen gebe. Vielfach war zu Ende des vorigen und zu Anfang dieses Jahrzehnts die Rede von einem "neuen Internationalismus". Vom alten - parteikommunistischer Prägung - unterscheide diesen, dass er über keinerlei "internationales Zentrum" verfüge. Auch beziehe er sich nicht mehr auf Nationalbewegungen und die Neugründung von Staaten, wie der Antiimperialismus während der Ära der Entkolonialisierung in Afrika und Asien. 

Sein Subjekt seien vielmehr gesellschaftliche Basisbewegungen, Gewerkschaften, aber auch NGOs - mehr oder minder professionnelle und oft halb- oder parastaatliche Nicht-Regierungs-Organisationen - und Netzwerke alternativer Wirtschaftswissenschaftler. Allerdings fanden sich in dem heterogenen Spektrum immer auch unterschiedliche Orientierungen: Während die einen den Nationalstaaten "Regulations-Spielräume" zurückgewinnen möchten und eine eher etatistisch-protektionistische Perspektive verfolgen, streben andere eher nach einer Zusammenarbeit sozialer Bewegungen "von unten".

Die recht spektakuläre Blockade eines Gipfeltreffens der Welthandelsorganisation WTO im nordamerikanischen Seattle, im Dezember 1999, bildete einen ersten Höhepunkt der Bewegungskonjunktur. Doch viele waren der Ansicht, dass die Agenda der Mobilisierungen künftig nicht mehr länger durch die Gipfelveranstaltungen der weltweiten Führungsmächte oder der wichtigsten weltwirtschaftlichen Institutionen bestimmt werden sollte. Um zu vermeiden, dass man sich stets an der Agenda der Gegenseite abarbeite und wie eine Karawane den Versammlungen der Mächtigen dieser Welt hinterher ziehe - in Form des berühmten "Gipfelhopping" -, sollte die "Bewegung der Bewegungen" nunmehr ihren eigenen Termin- und Themenkalender vorgeben. 

Eingeweiht wurde diese Idee mit dem ersten Treffen von Porto Alegre, das ungefähr parallel zum World Economic Forum im schweizerischen Davos stattfand. Das Kozept wurde in der Folgezeit auf zahlreichen Ebenen nachgeahmt; das Konzept lokaler Sozialforen kam in Frankreich gerade in den letzten Wochen in "Mode", im Zuge der Vorbereitung des ESF. In ingesamt 150 Städten versammelten sich seit Anfang Oktober verschiedene gesellschaftliche Kräfte zu Stadtteil- oder stadtweiten Foren. Hier ging es um die geplante Schließung eines Postamts oder von Betten im Krankenhaus, dort wurde ein Film über die Arbeitsbedigungen im Gesundheitswesen gezeigt. Anderswo ging es um Krieg und Frieden oder um die Frage, ob "solidarisches Wirtschaften" möglich sei. 

Neben dem EU-weiten Sozialforum, wie es erstmals vor einem Jahr in Florenz eingeweiht wurde, gibt es auch ein "euro-mediterranes" Forum im Mittelmeerraum; dort treffen französische und südeuropäische Initiativen mit solchen aus dem Maghreb und manchen anderen arabischen Staaten zusammen. Letztere werden in diesem Jahr auch in Paris und den drei Vorstädten, wo das Europäische Sozialforum (ESF) vom Mittwoch bis Samstag dieser Woche stattfindet, zu Gast sein und Debatten zum Stand dortiger sozialer Bewegungen animieren.

DIE THEMEN DES FORUMS 

Um solche und ähnliche Themen wird es auch auf dem diesjährigen ESF gehen, das vom 12. bis 15. November dieses Jahres in Paris und drei Vorstädten der französischen Capitale - Bobigny, Saint-Denis und Ivry - stattfinden wird und wo Krieg, Neoliberalismus, Vermarktung bzw. marchandisation (Zur-Ware-Machen) von immer mehr gesellschaftlichen Bereichen zu den wichtigten Themenblöcke gehören. Auch zur extremen Rechten und der notwendigen Abgrenzung der so genannten Globalisierungskritik von ihrem Diskurs (in Frankreich widerspiegelt sich die Distanzierung im Wechsel der Selbstbezeichung von antimondialisation (Globalisierungs-Gegnerschaft) zu altermondialisation (alternative Globalisierung)) werden Plenarversammlungen und Seminare angeboten. Ein eigener "Pool" ist der Ökologie, unter besonderer Berücksichtigung der Wasserpolitik, gewidmet. 

Insgesamt sollen von Donnerstag (13.11.) bis Samstag (15. November) mittag 55 Plenarsitzungen stattfinden, über 250 Seminarveranstaltungen - die beim ESF angemeldet und mit Übersetzern ausgestattet sind - und noch mal so viele Workshops, die von einzelnen Gruppen in Eigenverantwortung ausgerichtet werden. Über die "Zukunft der Selbstverwaltungsidee" kann dabei ebenso diskutiert werden wie über die Kontroverse von Religionskritik versus "Rolle der Religionen im Widerstand gegen die herrschende Weltordnung", über soziale Bewegungen im Maghreb oder die Rolle europäischer Wirtschaftsinteressen und Waffenexporte in Lateinamerika. Dass feministische Themen nicht unter den Tisch fallen, dafür soll noch vor der ESF-Auftaktveranstaltung am Mittwoch eine europaweite Versammlung zur Rechte der Frauen sorgen, die auch Männern offen steht.

Je nach ihrer Neigung zum Optimismus oder Schwarzsehen, rechnen die Veranstalter, die Einblick in den Stand der kontinentweiten Vorbereitungen haben, im Vorfeld mit 60.000 - wie in Florenz - oder 100.000 Teilnehmern an den Debatten. Gut die doppelte Personenzahl wird für die samstägliche Demonstration erwartet, die auf der klassischen Route gewerkschaftlicher Protestzüge - zwischen Place de la République und Place de la Nation - stattfinden wird.

Am Sonntag dann sollen Delegierte europäischer sozialer Bewegungen auf einer gemeinsamen Konferenz künftige, gemeinsame Aktionen beschließen. Falls die Idee eines einheitlichen Demotermins nach dem Motto eines "sozialen 15. Februar" verabschiedet würde, so könnte vom ESF ein starkes Signal ausgehen. Nachdem in jüngster Zeit in Italien gestreikt und in Berlin demonstriert wurde, könnte die Suche nach verstärkter Konvergenz zwischen den Mobilisierungen hervorgehoben werden. Wünschenswert wäre nur, dabei die Falle zu vermeiden, die in der Affirmation eines vermeintlichen "Sozialmodells Europa" - etwa als positive Alternative zu den USA - bestünde. Denn daran, dass aus diesem kleineren Übel ein immer größeres Übel wird, arbeitet die Gegenseite in Europa eifrig.

DIE LINKE UND DAS EUROPÄISCHE SOZIALFORUM - von Sozialdemokraten bis Anarchisten

Nicht nur eitel Freude und Sonnenschein herrschen auf solchen internationalen Treffen, da hier nicht nur um richtige Antworten - über die es bekanntlich oft geteilte Auffassungen gibt - gerungen wird, sondern es auch um politische Hegemoniesuche geht. 

Im Gedächtnis bleiben die erheblichen Zusammenstöße in der französischen Delegation, die Anfang 2001 in Porto Alegre stattfanden: Der französische linksnationalistische EU-Gegner und Präsidentschaftskandidat Jean-Pierre Chevènement, der kurz davor noch Innneminister gewesen war, wurde von Grünen, Trotzkisten und Angehörigen radikaler Sozialinitiativen aus dem eigenen Land ausgepfiffen. Ihm wurde seine Rolle bei der Abschiebung "illegaler" Immigranten, die gegen Ende seiner Amtszeit hin spürbar zugenommen hatten, vorgeworfen. Die brasilianischen Gastgeber verstanden damals diese Kontroverse nicht, doch wird berichtet, dass der Streit ihnen mittlerweile - angesichts der Realpolitik des mittlerweile regierenden PT - einleuchtender erscheine. 

In änlicher Form wird es auch rund um das diesjährige ESF ein Tauziehen um die symbolische Hegemonie geben. In der vergangenen Woche bemühten sich nicht nur die französische Sozialdemokratie, sondern sogar die bürgerliche Rechte darum, sich mit "Kritik" an der herrschenden internationalen und ökonomischen Ordnung zu profilieren. Der Präsident der konservativen Regierungspartei UMP, Alain Juppé, wagte sich gar mit den Worten hervor: "Das Wort 'alternative Globalisierung' macht uns keine Angst", denn "die bestehende Welt steht auf dem Kopf, wenn man sich ansieht, was auf dieser Welt passiert". Der letztere Satz als solcher genommen ist zweifellos stimmig. Angesichts der realen Regierungspolitik wurde diese Profilierungs- und Anbiederungssuche jedoch allgemein als schlechter Witz eingestuft.

Die vormals regierenden Linksparteien (Sozialdemokratie, Grüne und KP) werden ihrerseits sicherlich bemüht sein, neben der radikalen Linken und sozialen Bewegungen eine möglichst starke Präsenz auf dem Forum zu zeigen. Dabei lässt die Sozialdemokratie allerdings noch ziemlich Vorsicht walten, da ihre Präsenz beim Widerstandsfestival auf dem Larzac-Plateau im August 03 dadurch begrüßt worden war, dass Junganarchisten und Obdachlosenkomitees gemeinsam ihren Stand demontierten.

Links davon bestehen unterschiedliche Herangehensweisen. Lutte Ouvrière (LO, Arbeiterkampf), eine der beiden größeren Parteien im Spektrum der radikalen Linken, wird dem Sozialforum überwiegend fernbleiben und allenfalls ihre gleichnamige Zeitung verkaufen. Die Organisation, die stark auf die (in sehr klassischem Sinne verstandene) Arbeiterklasse und ihren vorwiegend ökonomisch definierten Kampf fixiert ist, betrachtet solche heterogenen Großveranstaltungen als Ablenkung vom "richtigen" Klassenkampf gegen die Patrons. 

Allerdings wird sie durch ihr Publikum zu einer gewissen Öffnung gezwungen, und im September dieses Jahres nahm sie erstmals an einer Demonstration zu weltwirtschaftlichen Themen - anlässlich des WTO-Gipfels in Cancun - teil. Die andere Partei, die sich ebenfalls auf den Trotzkismus, aber in jüngerer Zeit auch auf libertär-kommunistische Ideen bezieht, die Ligue Communiste Révolutionnaire, hingegen setzt auf aktive Präsenz beim Sozialforum. "Auch die staatstragende Linke sagt jetzt plötzlich <Eine andere Welt ist möglich> - aber wir sagen im Gegensatz zu ihr auch, wie sie möglich wäre, nämlich durch Kampf gegen den Kapitalismus", kündigte ihr Sprecher Olivier Besancenot den Kampf um Ideen auf dem Sozialforum an. Ferner forderte er, die von Sozialplänen und Massenentlassungen bedrohten Belegschaften an der Spitze der samstäglichen Demo laufen zu lassen, um zu einem Höchstmaß an Konvergenz zwischen sozialer und globalisierungskritischer Bewegung zu gelangen.

Das anarchistische und libertär-antiautoritäre Spektrum wiederum löste das Problem, nicht mit etablierten Kräften kooperieren zu wollen, auf andere Weise: Es veranstaltet ein eigenes "Forum social libertaire" in Paris und der Vorstadt Saint-Ouen. Dieses dauert zwar die ganze Woche über und verläuft damit parallel zum ESF. Allerdings finden bis zum Freitag nur Abendveranstaltungen statt. Am Samstag haben die Veranstalter - unter ihnen die anarcho-syndikalistische CNT, die libertär-kommunistische Gruppe AL (Alternative libertaire) und die Fédération anarchiste - eine eigene Demo angesetzt. Allerdings findet sie in der Mittagszeit statt, die ESF-Demonstration hingegen am frühen Nachmittag. Damit können diejenigen Anhänger, die in sozialen Iniativen oder Basisgewerkschaften wie SUD mitarbeiten, faktisch auch an Aktivitäten des Europäischen Sozialforums teilnehmen. Das anarchistische Forum bietet ferner am Wochenende eine eigene Buchmesse an. Ansonsten stehen auch hier thematisch die extreme Rechte und der internationale Kapitalismus auf der Tagesordnung, daneben auch Antipatriarchalismus.

WIRBEL UM "BELLACIAO"

Auch an Ärger darf es nicht gänzlich fehlen, wo so viel Enthusiasmus auf dem Programm steht. Für die vermeintlich erforderliche Dosis Ärgernis sorgte in den letzten Wochen mit Begeisterung die von italienischen Alt-Linksradikalen geführte Gruppe "Bellaciao", die in Frankreich und Italien eine wortgewaltige Kampagne gegen das ESF betreibt - wegen Verrats an moralischen Idealen und "Paktierens mit multinationalen Konzernen". Was war passiert? Wie das von Sozialdemokraten und Grünen regierte Paris auch, erteilte die KP-regierte Kommune von Ivry-sur-Seine dem ESF eine Subvention aus dem kommunalen Haushalt, unter dem Titel "Kulturförderung". Nach geltendem französischem Kommunalrecht muss allerdings ein Grossteil der Gelder vor Ort ausgegeben werden. In Ivry-sur-Seine kommt als Veranstaltungsort allerdings nur das Multiplex-Kino in Frage, das dem französischen Multi Pathé gehört. Nachdem das Für und Wider abgewogen wurde, entschieden die Vorbereitungsgruppen sich dazu, die auf dem Spiel stehenden 400.000 Euro nicht zu "verschenken" und die Pathé-Kröte zu schlucken. Ein moralischer Skandal, folgt man "Belleciao", die vor drohender McDonalidisierung des Sozialforums und skrupellosen Kollaborateuren warnt. "Gesinnungsfundamentalismus", entgegnen andere Beteiligte, die der Ansicht sind, dass auch die Kritiker ihre Text wohl auf Microsoft-Computern geschrieben hätten und demnach ebenso Kollaborateure seien. Der Streit wird wohl bis zum Beginn des ESF anhalten, da "Bellaciao" in Italien mächtig Staub um diese Frage aufgewirbelt hat.

ÄRGER MIT DEN RECHTEN

Gürtel enger schnallen ist jetzt angesagt - und nicht nur für die reformgeplagte französische Bevölkerung und die abhängig Beschäfigten. Auch das Europäische Sozialforum (ESF) muss sparen. Die Haushalte, aus denen Reise- und Unterbringungskosten für Referenten aus dem europäischen Ausland sowie Übersetzerhonorare beglichen werden, mussten in den letzten Wochen schmerzhaft reduziert werden.

Der Grund liegt in einer Kehrtwende der Konservativen im Regionalparlament der Ile-de-France, die den Großraum Paris umfasst. Wider Erwarten stimmten sie am 2. Oktober zusammen mit den beiden rechtsextremen Fraktionen von FN (Front National) und MNR (Mouvement national républicain) ab. Zwar lehnten sie am Anfang einen Antrag des MNR-Parlamentariers Jean-Yves Le Gallou ab, der eine explizite Verurteilung des Sozialforums als eines Unternehmens "der anarcho-trotzkistischen Subversion" verlangte. Doch wenige Minuten später ließ dann ein verschämtes Stimmbündnis der konservativen UMP und der rechtsextremen Fraktionen den vorgeschlagenen Zuschuss in Höhe von 300.000 Euro scheitern.

Ursprünglich hatten sowohl die politischen Vertreter der Stadt Paris, die von Sozialdemokraten und Grünen regiert wird, als auch jene der (sozialistisch regierten) Hauptstadtregion Ile-deFrance und der französischen Zentralregierung Subventionen für die Infrastruktur des ESF in Aussicht gestellt. Denn erstens fördert ein Großereignis wie das Sozialforum die Ausstrahlung von Paris als internationale Kongress- und Touristenstadt. Zweitens aber geht es auch darum, soziale Protestpotenziale einzubinden; ähnlich wird auch gegenüber anderen Initiativen im Sozialbereich verfahren. 

"KRITISCHER" OLYMP VERSUS SOZIALE BEWEGUNGEN

Doch entgegen der rechtsaußen vorherrschenden Ansicht werden sich beileibe nicht nur Freunde der Subversion beim ESF tummeln. Einigen der Mitveranstalter dürfte eine solche Idee gar ein ausgesprochenes Gräuel darstellen. Tatsächlich tobt seit Monaten ein heftiger Streit um Ausrichtung und Profil der Veranstaltung. Während einige der Protagonisten auf ein Zusammentreffen unterschiedlicher sozialer Bewegungen hoffen, aus denen ein gesellschaftliches Unruhe- und Veränderungspotenzial erwachsen soll, würden andere nur zu gern die Energien in wohlgeordnete Bahnen gelenkt, kontrolliert und kanalisiert wissen.

Denn den Vertretrern des staatstragenden Flügels der altermondialisation (alternative Globalisierung) - dieser Begriff hat in Frankreich jenen der "Globalisierungsgegnerschaft" abgelöst, um den internationalistischen Anspruch zu betonen - geht es darum, das ESF zu nutzen, um sich gegenüber den großen etablierten Linksparteien in Stellung zu bringen. Die Europaparlamentswahlen im Juni nächsten Jahres werfen ihre Schatten voraus. 

Einigen Mitgliedern in der Führung von Attac Frankreich geht es darum, ihre Organisation vorab als eine Art Think Tank anzubieten, die zum intellektuellen Wiederaufbau von Sozialdemokratie, KP und Grünen - die bis vor anderthalb Jahren zusammen in der Regierung saßen - beitragen soll. Das soll sich konkret in Listenplätzen bei den Europawahlen niederschlagen, die wiederum als Projektionsfläche für eine "Umorientierung des europäischen Projekts" hin zu einem positiven Gegenmodell zu den USA dienen sollen. So haben einige, die bisher eher EU-Skeptiker waren und denen die Union als Instrument des Neoliberalismus galt, ihren Frieden mit dem EU-Projekt gemacht.

Zu ihnen gehört Bernard Cassen, Präsident von Attac Frankreich von der Gründung 1998 bis Ende 2002. Er erklärte jüngst in der Wochenzeitschrift Marianne (13. Oktober), die unteren Ränge der Gesellschaft - Arbeiter, Erwerbslose, Prekäre - hätten derzeit keine Vertretung, und es gebe derzeit auch "keine Rezept" dafür. Wenn es aber eines gebe, setzte er hinzu, dann "gehört es eher in den Bereich der Politik als in jenen der sozialen Bewegungen", welch letztere sich nicht zu Vertretern der schweigenden Mehrheit der sozialen Unterschichten aufzuschwingen hätten.

Dem rechteren Flügel von Attac, der - wie Cassen - dem linksnationalistischen früheren Innenminister Jean-Pierre Chevènement oder der Sozialdemokratie nahe steht, wäre es am liebsten gewesen, aus dem ESF eine Art wissenschaftliches Kolloquium zu machen. In gelehrsamer und ruhiger Atmosphäre hätte eine begrenzte Anzahl von Teilnehmern aus verschiedenen europäischen Ländern zusammen kommen sollen. Doch auf den internationalen Vorbereitungstreffen kamen sie damit nicht durch. 

Der Erfolg der altermondialisation-Kundgebung auf dem südfranzösischen Larzac-Plateau im August, zu dem an die 300.000 Menschen kamen, hat ihr Vorhaben endgültig gekippt. Daher werden auf dem ESF die unterschiedlichen Konzeptionen zweifellos aufeinander treffen. Eine abschließende Klärung wird dort wohl nicht erfolgen, wohl aber versuchen beide Seiten, Punkte zu sammeln.

DIE KONTROVERSE UM DEN SOFT-CORE ISLAMISTEN TARIQ RAMADAN

Inhaltliche Klärungen wären wünschenswert, was einen weiteren Streit im Vorfeld des Sozialforums betrifft. Anfang Oktober schlug der Streit um die Avancen des in Genf ansässigen Schweizers ägyptischer Herkunft, Tariq Ramadan, hohe Wellen. Tariq Ramadan wird mitunter mit seinem Bruder Hani Ramadan verwechselt, einem fundamentalistischen Hardliner, der im September 2002 in Le Monde die Steinigung ehebrüchiger Frauen rechtfertigte und deswegen aus seinem Lehreramt in Genf hinaus flog. Tatsächlich steht Tariq Ramadan, der in Frankreich die Vereinigung Présence musulmane anführt und zunächt im grenznahen Lyon, später auch in den Pariser Banlieues aktiv wurde, für ein anderes Profil ( was aber auch, zumindest teilweise, strategischen Notwendigkeiten geschuldet sein kann).

Das Publikum von Tariq Ramadan ist jener Großteil der Jugendlichen migrantischer Herkunft, die zwar den Islam als vage kulturelle Referenz und Selbstzuschreibung - gegenüber der Mehrheitsbevölkerung - beibehalten haben, aber keinerlei religiöse Praxis betreiben. Viele von ihnen fühlen sich, gerade angesichts ihrer gesellschaftlichen Benachteiligung, von der Linken oder der altermondialisation angezogen. Diesen Teil der aus muslimischen Ländern stammenden Einwanderungsbevölkerung zurück unter das Gesetz des Islam zu führen, das ist das politische Projekt von Tariq Ramadan. Von den europäischen, nicht-migrantischen Intellektuellen und Linken will er dabei lediglich respektiert werden - was ihn interessiert, ist die Herstellung ideologischer Hegemonie über seine "eigene" Community, von der er freilich noch weit entfernt ist. Deswegen auch mischt er seinen Diskurs häufig mit linken, kapitalismuskritischen Versatzstücken, und benennt sein politisches Projekt als "den Islam innerhalb der Republik".

Da das ESF eine offene Struktur aufweist, klinkten sich auch Tariq Ramadan und seine Vereinigung seit einem Jahr in Vorbereitungstreffen ein. Dabei sorgte er jüngst, ab September 2003, für Furore mit einem Text, dessen Formulierung eher soft gehalten ist, der aber eine kommunitaristische Frontstellung schaffen soll. In ihm beklagt er, namhafte französische jüdische Intellektuelle seien in ihren Stellungnahmen bezüglich Israels und der Konflikte im Nahen und Mittleren Osten nicht von universellen Prinzipien, sondern von einer kommunitaristischen Herangehensweise in Bezug auf Israel geleitet. Dabei bildet sein Text aber kein offenkundiges Hetzpamphlet gegen die jüdische Bevölkerung: Tariq Ramadan schreibt auch, muslimische Intellektuelle hätten universelle Werte zu akzeptieren und "den Terrorismus, den Antisemitismus und diktatorische Regime wie in Saudi-Arabien und in Pakistan" zu verurteilen, was nicht gerade ein typisch islamistisches Statement darstellt. 

Im Gegenzug fordert Ramadan jüdische Intellektuelle auf, sich gleichermaßen auf einen kritischen Standpunkt gegenüber Israel zu stellen. Dabei mag es für einige der Genannten, wie den ziemlich rechtslastigen Alain Finkielkraut durchaus zutreffen, dass sie aufgrund der Zuordnung zu Bevölkerungsgruppen und nicht aufgrund unvierseller politischer Prinzipien reagieren. (Finkielkraut zog und zieht seit seinem Bruch mit der Linken bevorzugt gegen den Antifaschismus als "kommunistische Gut-Böse-Ideologie" zu Felde und verurteilte die Anti-Le Pen-Demonstrationen 2002 als "demagogischen Alarmismus dort, wo es keine Faschismusgefahr gibt". Zugleich gibt er, wie jüngst im "Figaro-Magazine" vom 31. Oktober, sehr offen an, er werde - im Prinzip durchaus kritikwürdige, wie er einräumt - Aspekte der israelischen Politik dennoch nicht öffentlich kritisieren, weil er loyal zu "den Unseren" sein wolle, was tatsächlich eine kommunitaristische Position ist.) Bei anderen, die Ramadan nennt, ist diese Aussage weit zweifelhafter, oder ihre Positionen zur israelischen Militärpolitik erklären sich aus allgemeinen Einstellungen. Etwa aus der generellen Zustimmung von Bernard-Henri Lévy ("BHL") zu westlichen Militäroperationen als "zivilisatorischem" Werk, wie er sie seit 1993 lautstark gegen Serbien forderte. 

Bezeichnenderweise begrüßt Ramadan letztere Position von BHL allerdings ausdrücklich, da sie den bosnischen Muslimen gedient habe, was auch wiederum eine eindeutig nach Bevölkerungsgruppen kategorisierende und nicht eine universellen Prinzipien verpflichtete Position ist. Damit ist klar, dass beide kritikwürdige Positionen verfechten. Dabei vertritt BHL seine Pro-NATO- und Pro-Interventions-Positionen etwa in Bezug auf Jugoslawien aber nicht (wie Ramadan zu suggerieren sucht) deswegen, weil er jüdischer Herkunft ist, sondern, weil er ein konformistischer Intellektueller aus dem linksliberalen Jet-Set-Milieu ist. 

Einen besonderen Fauxpas leistet sich Ramadan, wenn er den Nichtjuden Pierre-André Taguieff flugs als "jüdischen Intellektuellen" kategorisiert, was sein Streben nach Kategorisierung abhängig von Herkunft oder Religionszugehörigkeit nochmals unterstreicht. 

Insgesamt stellt Ramadans Text jedoch keinen offenen Hetzaufruf dar, da er im Ton einer "Verständigung von einer Community zur anderen" gehalten ist. Prominente französische Juden haben seiner erhobenen Grundforderung (die Muslime sollten sich von Regimen wie dem saudischen und vom Terrorismus distanzieren, und die jüdische Bevölkerung solle nicht reflexartig die israelische Politik verteidigen, was viele ihrer Mitglieder auch gar nicht tun) sogar explizit zugestimmt. Der Hauptzweck von Ramadans Text aber ist es wohl, kommunitaristische Grenzen zwischen Bevölkerungsgruppen zu ziehen, die durch religiöse Herkunft definiert werden und als geschlossene Blöcke erscheinen sollen. Damit sucht er sich vor allem zum legitimen Sprecher der "eigenen" Community aufzuschwingen.

Harsche Attacken gegen Ramadan führte in den letzten Wochen zunächst SOS Racisme vor, freilich nicht aus uneigennützigen Gründen. SOS Racisme, die Mitte der 80er Jahre mit Staatsgeldern unter Kontrolle von Präsident François Mitterrand aufgebaut wurde und heute eine unverhüllte Vorfeldorganisation der Sozialdemokratie darstellt, beansprucht ihrerseits eine Hegemenierolle als vorgeblich legitime Vertretung der migrantischen Bevölkerung. In ihr ist SOS Racisme freilich reilich diskreditiert.

Am Donnerstag (23. Oktober) legten einige sozialdemokratische Politiker, unter ihnen SOS-Mitbegründer Julien Dray, nach. Im sozialliberalen Nouvel Observateur klagten sie Ramadan eines "Verbrechens gegen die Republik" an, wobei sie sich im Ton reichlich vergriffen, wenn sie ihn gar kaum verhüllt als "Faschisten" (eine nicht zutreffende Bezeichnung) bezeichnen. Einem derart geschickten, und deswegen auch tendenziell gefährlichen, Prediger wie Tariq Ramadan (der vor allem für die Einwandererjugend gefährlich sein kann, die er in eine religiös-kommunitaristische Falle locken würde) kann man so aber nicht beikommen, vielmehr droht man ihm so die Chance zu geben, sich zum "Opfer" zu stilisieren. 

Diese Frontstellung aber hat dazu geführt, dass Ramadan von vielen Linken, und gerade auch politisch aktiven linken Juden (wie Pierre Khalfa von den SUD-Gewerkschaften, um nur ein Beispiel zu nennen), zumindest tendenziell verteidigt wurde. Auch wenn zugleich bekundet wurde, dass kommunitaritische Bestrebungen störend seien. Angesichts des Powerplays der Sozialdemokraten haben die anderen linken Formationen (Grüne, KP, radikale Linke) schlussendlich das Recht Tariq Ramadans auf Teilnahme am ESF verteidigt. Von der Form her hatten sie mit dem Argument durchaus Recht, dass ein administrativ verkündeter Ausschluss ein denkbar schlechtes und ungeschicktes Ende gebildet hätte. Die Frage ist hingegen, ob ihnen auch allen die Risiken, die dennoch (um von der Sache selbst zu sprechen) mit dem Diskurs von Tariq Ramadan verbunden sind, bewusst waren. Einige Teilnehmer widersprachen, so der linke Bauerngewerkschafter José Bové: Er erklärte, es sei legitim, die Teilnahme von Menschen jeglicher religiösen Herkunft zu wünschen, allerdings müsse man dabei "gerade aus den Determismen heraus kommen".

Das Bestreben vieler Linker ist auch von dem Ansinnen geleitet, nicht die migrantische Bevölkerung und ihre Jugend ausgrenzen zu wollen, und ein Gefühl bzw. einen Diskurs der "victimisation" (der permanenten "Opfer"-Rolle) zu verstärken. Diese Ausgangs-Absicht ist legitim. Dabei wäre es jedoch sinnvoll, wenn man dabei zwischen den Kadern und ihrem Publikum unterscheiden würde. 

Mit einer Fortsetzung des Streits auf dem ESF ist zu rechnen. Tariq Ramadan soll nun an einer Podiumsdiskussion zu Rassismus, Antisemitismus und Islamophobie teilnehmen. Es wäre zu hoffen, dass dabei inhaltliche Klärungen eingefordert werden; bei dem bisher an den Tag gelegten Geschick Ramadans werden diese sich allerdings nur durch eine subtile Argumentation und nicht durch grobschlächtige Vorwürfe befördern lassen. Fortsetzung folgt.

Editorische Anmerkungen:

Der Autor stellte uns seinen Artikel in der vorliegenden Fassung für die Nr. 11-03 zur Veröffentlichung am 8.11.2003 zur Verfügung.