Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe

von
Max Beer
11/04

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III. DIE WIRTSCHAFTLICHEN UMWÄLZUNGSVERSUCHE IN FRANKREICH

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1. Von Bevormundung zur Freiheit.

Seit Beginn des 17. Jahrhunderts machten französische Staatsmänner Versuche, das gewerbliche Leben des Landes zu heben und Manufakturen zu errichten. Da die Initiative von der Regierung, von den staatlichen Organen ausging, erhielten diese Versuche einen bureaukratischen, reglementierenden Charakter. Die Unternehmer genossen zwar große Unterstützung von Seiten der Regierung, aber sie wurden auch in Handel und Wandel, in der Güterherstellung und -Verteilung starken Beschränkungen unterworfen. Der ganze Produktionsprozeß wurde reglementiert, polizeilich bewacht, und durfte in keiner Weise von den behördlichen Vorschriften abweichen. Die unter der Regierung Heinrichs IV. (1589 -1610) errichteten Manufakturen verfielen bald, und erst im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts — unter der tüchtigen Leitung des Wirtschaftsministers J.B.Colbert (1619 bis 1683) — lebten die Manufakturen wieder auf, um dann in den Eroberungskriegen Ludwigs XIV. dem Verfall preisgegeben zu werden. (Vgl. oben, Teil III, Seite 345.)

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts erwachte die gewerbliche Tätigkeit des Landes zu kräftigerem Leben;es entstanden Fabrikorte, die sich seitdem zu verhältnismäßig großen Industriezentren und Werken anwuchsen: Creusot, die Hüttenwerke des Ostens, Firminy, St. Etienne. Die Seiden- und Textilindustrie blühte in Carcassonne, Lyon, Roubaix, Abbeville auf. Lyon allein beschäftigte 48000 Seidenarbeiter; in den Leinenfabriken von Carcassonne arbeiteten 30000 Personen. Es bildeten sich Manufakturzentren in Paris, Havre, Rouen, Limoges. In den gewerblich und kommerziell tätigen Städten wurden ganze Häuserviertel umgebaut. Um das Jahr 1760 schätzte man den Wert der gewerblichen Erzeugnisse Frankreichs auf 930 Millionen Francs. Naturwissenschaftler, Physiker, Chemiker, Schriftsteller begannen sich für alle industriellen Unternehmungen lebhaft zu interessieren. Der Erfindungsgeist wurde geweckt Germain Martin, Les grandes industries en France (1715 bis 1774). Paris 1900.

Das Bürgertum und sämtliche mit ihm verbundenen freien Berufskreise — kurz, der dritte Stand — wurden selbstbewußter, politisch interessierter, und sie empfanden vor allem die staatliche Bevormundung als unerträglichen Druck. Der Ruf nach Bewegungsfreiheit erscholl, der Gedanke von der Schädlichkeit der Staatseinmischung in Handel und Wandel brach sich rasch Bahn. Das Aufblühen der Städte zeigte der bäuerlichen Bevölkerung, welche großen Vorteile sie aus der Landwirtschaft ziehen könnte, wenn sie mehr Boden hätte und von den Verpflichtungen gegenüber Adel und Kirche frei wäre.

Die Städte strebten hinfort nach Freiheit und politischer Macht; die Bauern nach Abschaffung der Feudallasten und nach einer Verteilung des kirchlichen und adeligen Grund und Bodens. In dieser Atmosphäre entstand jene Sozialkritik, deren Grundgedanken oben (Teil III, Seite 347—353) besprochen wurden.

Nicht nur die Sozialkritik, sondern die ganze Volkswirtschaftslehre erhielt durch das Einwirken der wirtschaftlichen Änderungen auf das Denken große Anregung und Förderung. Da aber ihre literarischen Wortführer teils am Hofe lebten (Dr. Francois Quesnay, 1694—1774), teils dem Adel angehörten (Marquis de Mirabeau, Vater des großen Redners der französischen Revolution, 1789—91), oder hohe Beamte (Mercier de la Riviere) waren, also entweder von vornherein für den Ackerbau eingenommen waren oder mit dem gewerblichen Leben in keine direkte Berührung kamen, schufen sie ein ökonomisches System, das die Landwirtschaft stark überschätzte und zugleich überlastete, die Industrie unterschätzte und doch dem Kapitalismus zum Siege verhalf, den Absolutismus stützte und doch die Grundlagen des Staates erschütterte. Ein geistvolles System, voll von Widersprüchen, wie das Frankreich jener Zeit. Wir meinen die Physiokratie.

2. Die Physiokraten:  Wirtschaftsfreiheit: Laissez faire, laissez aller.

Das physiokratische System, das im dritten Viertel des 18. Jahrhunderts in Frankreich geschaffen wurde, ist rein bürgerlich und kann hier nur soweit erwähnt werden, als es das Wirtschaftsleben und die französische Revolution beeinflußte.

Dieses System enthält zwei Grundgedanken: 1. es gibt eine natürliche Ordnung des Wirtschaftslebens; 2. nur die Bearbeitung des Bodens, der natürlichen Materie (auf griechisch: physis, hiervon Physiokratie) ist produktiv, d. h. erzeugt mehr Werte als die auf die Arbeit gemachten Auslagen: nur die Landwirtschaft erzeugt einen Überschuß (produit nel), und von diesem Überschuß oder Mehrwert lebt die ganze Gesellschaft. Betrachten wir diese Punkte näher:

I Die Physiokraten nahmen an, daß es eine natürliche Ordnung der Gesellschaft gibt, die das Wirtschaftsleben reguliert und deshalb der staatlichen Einmischung und Gesetzgebung nicht bedarf. Die Grundlagen dieser natürlichen Ordnung sind: Eigentum, Sicherheit, Freiheit. Die Physiokraten betrachten diese drei Grundlagen als unverletzbare Menschenrechte. Wie man sieht, hat die natürliche Ordnung der Physiokraten nichts zu tun mit dem alten Naturrechte, auf das die Kommunisten und Sozialkritiker sich berufen. Die Physiokraten als Verteidiger der bürgerlichen Ordnung halten das Sondereigentum für das natürlichste aller Rechte, das, mit Wirtschaftsfreiheit gepaart, den Wohlstand der Völker hervorbringen muß. Die beste Politik ist: „Laisser faire, laisser aller", d. h., den Eigentümern, Unternehmern, Händlern die volle Freiheit des Schaltens und Waltens zu lassen. Das Interesse des Einzelmenschen wird sich schon mit dem Interesse der Allgemeinheit decken. Le monde va de lui-meme: die Welt bewegt sich von selbst und bedarf keiner staatlichen Einmischung.

II Nur die Arbeit an der Natur ist produktiv. Hingegen sind Handel und Gewerbe unproduktiv; ihre Tätigkeit besteht nur im Umformen und Austausch der Werte. Die Gesellschaft besteht aus drei Klassen:

1. der produktiven (landwirtschaftlich tätigen); 2. der herrschenden (den Eigentümern des Bodens und hohen Vertretern der Regierung); 3. der sterilen (unproduktiven): Händlern, Gewerbetreibenden, freien Berufen, Dienerschaft. Da nur die Landwirtschaft produktiv ist, so sollte sie die alleinige Steuerzahlerin sein; alle übrigen Klassen sollten steuerfrei sein.

Es ist leicht, zu sehen, daß die Physiokraten, trotz ' ihrer Hochschätzung der Landwirtschaft und des absoluten Königtums, unbewußt die Wortführer der damals zum Klassen- und Machtbewußtsein kommenden französischen Bourgeoisie waren: Privateigentum, Sicherung des Besitzes, Handels- und Gewerbefreiheit, Individualismus. Das ist die eigentliche theoretische Leistung der Physiokraten; sie beeinflußten Adam Smith; sie wurden auch die Ökonomen genannt (1). Hingegen wurden ihre Widersprüche bald durch die französische Revolution gelöst: Die revolutionäre Bourgeoisie beseitigte den Absolutismus und die Herrschaft der adeligen Grundeigentümer, indem sie die politischen Freiheitsideen Rousseaus zu Hilfe nahm. Die Bourgeoisie nahm vom kommunistischen Naturrecht nur die politische Freiheit und Gleichheit gegenüber Königtum und Adel, und von der natürlichen Ordnung der Physiokraten nahm sie nur die wirtschaftliche Freiheit und die Unverletzlichkeit des Privateigentums gegenüber den Sozialreformern und Kommunisten.

(1) Über Physiokratie vergleiche Karl Marx, Theorien über Mehrwert, I, Seite 33 ff.

Editorische Anmerkungen

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S. 383 - 386

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html