Es begann vor 50 Jahren:
Der FLN ­ Von der Gegenmacht zur Staatspartei

von
Bernhard Schmid
11/04
 
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In dieser Woche jährt sich zum fünfzigsten Mal der Beginn des algerischen Unabhängigkeitskriegs. Der 1. November 1954 oder La Toussaint rouge (Das rote Allerheiligen), wie ein französischer Kriegsreporter bei Paris-Match das historische Datum noch während des algerischen Unabhängigkeitskriegs taufen sollte, markierte den Anfang vom Ende der Kolonialherrschaft. Aber auch die Grundlagen für das spätere Herrschaftssystem im unabhängig gewordenen Algerien wurden bereits während der acht Jahre des Befreiungskrieges gelegt.   Vom Autor erscheint im Dezember 2004 im Unrast Verlag, Münster

Algerien
Frontstaat im globalen Krieg?
Neoliberalismus, soziale Bewegungen und islamistische Ideologie in einem nordafrikanischen Land
 
Darin wird u.a. den Gründen für das Scheitern des staatssozialistischen Entwicklungsmodell sowie für das Aufkommen des Islamismus in den 80er und 90er Jahren nachgegangen.

Die Vorgeschichte des 1. November 1954  

Die größte antikoloniale Partei im französischen Algerien, der PPA (Parti du peuple algérien) von Messali Hadj, ist 1953/54 an ihren inneren Widersprüchen zerbrochen. Einerseits unterhielt der durch die französischen Behörden verbotene PPA eine legale Vorfeldorganisation, den MTLD (Mouvement pour le triomphe des libertés démocratiques - Bewegung für den Triumph der demokratischen Freiheiten), mit dem die Antikolonialisten zu Wahlen antreten. D.h. mit dem die antikolonialen Nationalisten dort kandidierten, wo die unterdrückte Mehrheitsbevölkerung überhaupt an Wahlen teilnehmen konnte: Eine schmale und als "assimilationsfähig" geltende Bildungselite unter den Arabern und Berbern konnte einen Teil der Kommunalparlamente (und später auch Bezirksparlamente) im "französischen Algerien" mitwählen. Dagegen war an eine Vertretung der "Eingeborenen" in den nationalen Parlamenten, in Algier und Paris, damals nicht zu denken. Auf der anderen Seite hatte der PPA auch Ende der vierziger Jahre einen bewaffneten Arm geschaffen, die OS (Organisation spéciale), die jedoch zunächst 1950 durch die französische Polizei zerschlagen werden konnte. Doch ab den frühen 50er Jahre brechen die strategischen Widersprüche innerhalb der antikolonial-nationalistischen Partei erneut auf. Während die Einen an den Wahlen (die dann jedoch durch die Staatsmacht gefälscht werden) von 1953 teilnehmen wollen und sich davon eine "allmähliche Überwindung" der kolonialen Herrschaftsstruktur erhoffen, halten die Anderen das hingegen für eine Illusion. Im Laufe der Jahre 1953 und 1954 zerbricht die Einheit der Partei.  

Um die Jahresmitte 1954 bereitet die Strömung der «Aktivisten», wie dieser Teil des in Stücke zerborstene PPA-MTLD genannt wird, die Gründung einer eigenen Organisation vor. Am Anfang sind sie 33 junge Kader. Der Name Front de libération nationale (FLN, Nationale Befreiungsfront) wird bei einer Versammlung am 23. Oktober 1954 angenommen. Die Teilnehmer eint eine Überzeugung: Sie müssen schnell handeln. Denn da der französische Kolonialkrieg in Indochina zu Ende ist und sich in Marokko und Tunesien eine Verhandlungslösung ­ der Kompromiss besteht in einem kontrollierten Übergang zur Unabhängigkeit, unter Aufsicht der Kolonialmacht und unter Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen ­ abzeichnet, droht eine neue Situation: Frankreich wird alle seine militärischen Anstrengungen auf Algerien konzentrieren können. Dem gilt es vorzubeugen, zumal die Repressionsorgane zur Zeit noch durch die Spaltung, oder eher Zersplitterung, des PPA-MTLD verwirrt sind und daher nicht rechtzeitig zuschlagen. Das muss ausgenutzt werden, bevor es zu spät ist.  

Eine Woche später, in der Nacht zum 1. November 1954, zwischen 0 und 3 Uhr morgens, ist es soweit. An rund 30 Orten, die über die gesamte Nordhälfte Algeriens verstreut sind, finden Anschläge statt. In den meisten Fällen werden Armeekasernen und Gendarmeriestationen nächtlich angegriffen, und in der Kabylei werden zahlreiche Kommunikationsverbindungen sabotiert. An anderen Orten fliegen Brücken und Depots in die Luft, ein paar öffentliche Gebäude gehen in Flammen auf. In der Hauptstadt Algier explodieren drei primitive Sprengsätze ­ selbstgebastelte Bömbchen in Konservendosen - beim Radiosender, einem Gas- und einem Erdöldepot, während ein geplanter Anschlag auf die Telefonzentrale scheitert.  

Die Ziele der Anschläge waren nicht auf zentraler Ebene koordiniert, sondern auf der Ebene jeder der sechs Wilayas (Verwaltungsbezirke) ­ in welche der FLN sich von Anfang an aufteilt ­ festgelegt worden. Dabei wurde jedoch zur allgemeinen Maxime erhoben, bei der ersten Anschlagswelle am 1. November nirgendwo die Zivilbevölkerung zu treffen. Dagegen kommt es vereinzelt zu militärischen Opfern. In den beiden ostalgerischen Städten Khenchela und Batna, beide im Bergland der Aurès, kommen bei den Attacken je ein Offizier und ein Soldat ums Leben. In der gleichen Bergregion wird ein Bus von den «Aufständischen» in der Schlucht von Tighanimine angehalten Dabei kommt bei einem ungeplanten Feuergefecht, das sich mit einem herrisch auftretenden caïd (einem einheimischen Beamten des kolonialen Herrschaftsapparats) entwickelt, ein französischer Grundschullehrer zu Tode, der auf dem Weg zu seinem neuen Arbeitsplatz war; seine Ehefrau und Kollegin wird schwer verletzt. Auch die Rebellen erleiden Verluste, so haben sie in Blida drei Todesopfer in ihren Reihen zu beklagen.  

Der Aufstand beginnt  

Auf militärischer Ebene ist der «Aufstand» vom 1. November 1954 zunächst quasi bedeutungslos: Der Unabhängigkeitskrieg begann mit einer Handvoll Guerilleros, einigen Fantasieuniformen und insgesamt 349 Gewehren, von denen am Vorabend allein Ahmed Ben Bella ­ der spätere erste Staatspräsident des unabhängigen Algerien ­ wusste, wo sie versteckt waren. Die Führungsgruppe der Rebellion umfasst neun Personen, von denen drei in Kairo im Exil sitzen. Entscheidend dagegen ist das Signal, das an diesem Tag gesetzt worden ist. Nun wird es darauf ankommen, wie das politische Kräfteverhältnis sich entwickelt, und wie die anderen Strömungen der algerischen Gesellschaft sich positionieren werden.  

Der französische Herrschaftsapparat bemühtsich darum, die Aktivistengruppe FLN-ALN zu isolieren, indem er akzeptiert, sich mit anderen politischen Kräften innerhalb der algerischen «muselmanischen» Gesellschaft an einen Tisch zu setzen. Neuer französischer Generalgouverneur in Algier, in der Nachfolge von Roger Léonard, wird Jacques Soustelle ­ und er hat die Notwendigkeit von Verhandlungen und Reformen zugunsten der algerischen Mehrheitsbevölkerung wohl erkannt, um «zu retten, was noch zu retten ist».  

Am 28. März 1955 kommt es daher zu einem Treffen mit einer Delegation, an der verschiedene algerische politische Strömungen teilnehmen: Die liberal-bürgerliche und an institutionellen Reformen im Rahmen des Kolonialstaats orientierte UDMA (Union du manifeste algérien) unter Ferhat Abbas; die konservativ-religiöse "Vereinigung der Ulema"; aber auch ein Flügel des ehemaligen PPA, der sich an der Mehrheit im ehemaligen Zentralkomitee orientiert. Doch die Begegnung wird ergebnislos bleiben, da sowohl die Mehrheit der europäischen Siedlerbevölkerung ­ die kein Stückchen ihrer Privilegien aufgeben will ­ als auch der FLN nicht akzeptiert, dass auf diesem Wege ein «Kompromiss» eingefädelt wird.  

Die «gemäßigten» algerischen Vertreter müssen erkennen, dass sie in der Bevölkerung keine hinreichende Unterstützung dafür genießen würden und es für eine solche Vereinbarung innerhalb des institutionellen Rahmens zu spät ist. Der französische Staat seinerseits setzt auch weiterhin auf Repression: Am 3. April 1955 nimmt die Pariser Nationalversammlung eine Notstandsgesetzgebung an. In der Folgezeit werden in Algerien Internierungslager eröffnet, die ­ euphemistisch ­ als Camps d¹hébergement (Unterbringungslager) bezeichnet werden. Als Antwort auf eine Offensive des FLN im Umland von Constantine, die am 20. August 1955 eine Revolte der dortigen Bauern auslöst, nimmt die Kolonialmacht Rache nach dem Motto, dass alle musulmans für die vorher begangenen Ausschreitungen in gleichem Maße zur Verantwortung zu ziehen seien. In der letzten Augustwoche 1955 kommt es zu Strafexpeditionen der Truppe, bei denen halbe Dörfer ausgelöscht werden. Die Repression kostet 12.000 Todesopfer. Ab diesem Zeitpunkt wird erkennbar, dass es keine Troisième force (dritte Kraft) zwischen der kolonialen Herrschaft und den FLN-Rebellen mehr geben wird, die zu irgendeiner "Kompromisslösung" führen könnte.  

Nunmehr wird der FLN allmählich die meisten anderen politischen Kräfte in Algerien aufsaugen. Am 19. Mai 1956 richtet die Nationale Befreiungsfront einen Appel an alle Schichten der algerischen Bevölkerung, und besonders die Intellektuellen, sich ihm anzuschließen. Zu diesem Zeitpunkt wird seine politische Führungsrolle kaum noch ernsthaft bestritten.  

Die politischen Strömungen in Algerien: Liberale, Religiöse und Kommunisten  

Die wichtigste bürgerlich-liberale Kraft bildete bis dahin die UDMA von Ferhat Abbas, die vor allem die in die Kommunalparlamente gewählten Vertreter der "Eingeborenen" ­ einer kleinen Bildungselite unter den musulmans ist dort ein fester Prozentsatz an Sitzen reserviert ­ vertritt. Ferhat Abbas hatte zunächst viel vom Regierungswechsel in Frankreich erwartet, wo 1954 der Linksliberale Pierre Mendès-France zum neuen Premierminister gewählt wurde. Doch spätestens mit der massiven Wahlfälschung bei den Bezirksparlamentswahlen im April 1955 ist es mit dem Vertrauen auf Paris und den Generalgouverneur Jacques Soustelle vorbei. Die Polarisierung infolge der kolonialen Repression beschleunigt die Annäherung zwischen Ferhat Abbas und dem FLN. Hinzu kommt, dass die UDMA ihre soziale Basis zu verlieren beginnt ­ vor allem in den kleineren Städten und auf dem Land, wo einer eilig durch UDMA-Mitglieder angestrengten Studie zufolge 90 Prozent die Rebellion befürworten sollen. Am 22. April 1956 wird in Kairo der Beitritt Ferhat AbbasŒ zum FLN bekannt gegeben. Er wird auch künftig eine wichtige Rolle spielen und 1962 der erste Parlamentspräsident des unabhängigen Algerien werden; noch später tritt er freilich in Opposition zum staatssozialistischen Kurs des FLN-Regimes.  

Ein wenig länger wird es mit dem Übertritt der konservativ-religiösen «Vereinigung der Ulema» dauern. Diese Strömung stand am Anfang dem algerischen politischen Nationalismus ausgesprochen feindselig gegenüber. Denn ihr politisches Projekt bestand nicht darin, in irgendeiner Weise «die Massen» zu mobilisieren; vielmehr predigte sie die persönliche «Erziehung» im Sinne einer Wiederentdeckung von Religion und Moral. Der Begriff Œulama oder Œulema bildet eine Ableitung vom arabischen Wort al-Œolum (die Wissenschaft) und bezeichnet die Inhaber des religiösen «Wissens». Entsprechend verstanden die Ulema sich als Vertreter einer sozialen Führungsschicht. Zwar kennt der sunnitische Islam keinen hauptamtlichen Klerus als eigenen Berufsstand, aber die Zusammensetzung des Laienklerus widerspiegelte großenteils die traditionellen einheimischen Eliten.  

Der Ulema zufolge sollte das algerische Volk im Rahmen des französischen Kolonialismus «unassimilierbar» werden, indem es sich seine angebliche angestammte Kultur und Religion ­ die sich freilich in Wirklichkeit keineswegs auf den Islam reduziert, der das Land im 7. Jahrhundert gewaltsam eroberte ­ wieder aneignete. Das konnte nach Ansicht der Ulema durchaus auch im Rahmen der kolonialen Herrschaft, oder einer begrenzten Autonomie Algeriens im französischen Staatsverband geschehen; darauf kam es den Vertretern dieser Strömung jedenfalls nicht wirklich an. Ein weiteres wichtiges Element ist, dass die Wortführer der Ulema am Anfang eine ausgeprägte soziale Missachtung für das «gemeine Volk» hegten. Ihr religiös-moralischer «Erziehungsauftrag» richtete sich daher an die (traditionellen) Eliten. Dem ersten «plebeiischen» algerischen Nationalismus in Gestalt des PPA-MTLD und später des FLN warfen die Ulema vor, mit dem Kommunismus und vor allem dem Trotzkismus im Bunde zu stehen, da besonders die französischen Trotzkisten (anders als die pro-sowjetische KP, die sich eher paternalistisch gegenüber den «Kolonialvölkern» zeigte) die Forderung nach Unabhängigkeit Algeriens bedingungslos unterstützten. Dabei verwiesen die Ulema auf die Schließung von Moscheen in der Frühzeit der UdSSR.  

Wenn also im späteren unabhängigen Algerien - in denen die Ulema ihre Kontrolle über einen Teil des Bildungswesens errichten konnten, da ihr Wirken durch einen Teil der Machthaber als "Gegengift" zum gefährlichen marxistischen Einfluss betrachtet wurde - einige Schülergenerationen Jahrzehnte hindurch lernen sollten, dass diese religiöse Strömung als Erste den Widerstand gegen die Kolonialmacht organisiert habe, dann ist das schlicht und einfach eine Geschichtslüge.  

Doch nach dem 1. November 1954 beginnt das Blatt sich allmählich zu wenden. Unter dem Druck der jüngeren Kader und Mitglieder in den eigenen Reihen beginnen die Ulema, die Idee einer friedlichen Übereinkunft mit der kolonialen Herrschaft ­ auf der Grundlage kultureller Nichtvermischung ­ aufzugeben. Im Februar 1955 verurteilt die Ulema-Vereinigung erstmals explizit die koloniale Repression. Und in einer manifestartigen Erklärung vom 7. Januar 1956 spricht die Ulema-Generalversammlung sich zum ersten Mal für die nationale Unabhängigkeit Algeriens aus. Hinzu kommt, dass der koloniale Herrschaftsapparat 1956 einen religiösen Würdenträger ermordet, den "Cheikh" Larbi Tebessi, der sich innerhalb der Ulema für eine stärkere Kritik gegenüber der französischen Dominanz eingesetzt hatte; damit ist das Maß nun voll. Im selben Jahr 1956 wird ein Vertreter der Ulema, der Student Mohammed Chaabani, in den Generalstab der Armée de liberation nationale des FLN aufgenommen.  

Die Ulema machen dem FLN im weiteren Verlauf des Befreiungskrieges keine Konkurrenz. Später, im unabhängigen Algerien, werden sie jedoch um ihren Platz als ideologische Strömung ringen.  

Und noch eine letzte politische Strömung löst sich 1956 mehr oder weniger in den FLN hinein auf: Der Parti communiste algérien (PCA). Die algerischen Parteikommunisten sind nach dem 1. November 1954 mit dem Scheitern ihrer Politik konfrontiert. Diese zeichnete sich bis dahin vor allem durch dasBeharren auf dem Vorrang der sozialen und gewerkschaftlichen Kämpfe vor allen anderen Forderungen, einschließlich jener nach Beendigung des Kolonialismus, aus.  

Dabei abstrahierte die Partei jedoch reichlich von den hierarchischen und oft gewaltförmigen Beziehungen zwischen den beiden großen Bevölkerungsgruppen ­ die im Rahmen des kolonialen Apartheidsystems als "die Christen" und "die Moslems" definiert werden - im Rahmen der Kolonialverhältnisse. Und die Betonung des absoluten Vorrangs der «sozialen Frage» vermag kaum zu verhüllen, dass der PCA dabei in der Realität fast nur auf die Interessen der gewerkschaftlich organisieren Kernarbeiterklasse sowie der öffentlich Bediensteten, die beide in den städtischen Zentren angesiedelt sind, abstellt. Denn wie der algerische Historiker Mohammed Harbi schreibt, besteht im Rahmen der Algérie française in Wirklichkeit so etwas wie eine duale Ökonomie, wobei aber beide Sektoren nicht voneinander getrennt, sondern eng miteinander verkoppelt sind: «Der vorwiegend europäische, kapitalistische Sektor wächst und blüht auf, indem er seine Substanz dem Ðarchaischen Sektorð entzieht». Letzterer ist überwiegend den Arabern und Berbern vorbehalten; aber auch einige europäische Grundbesitzer partizipieren an ihm, die wiederum «eingeborene» landlose Bauern oder Landarbeiter für sich arbeiten lassen. In diesem «archaischen» oder quasi-feudalen Sektor «vegetieren die präkolonialen Sozialstrukturen, die ihres Zusammenhangs (in der traditionellen Gesellschaftsordnung) verlustig gegangen sind, vor sich hin» und konservieren «die Mentalitäten des Algerien von gestern».  

Der PCA wird daher von anderen gesellschaftlichen Kräften als Interessenvertretung vor allem der europäischen Bevölkerung - und einer kleinen Minderheit gut in das Kolonialsystem integrierter Algerier ­ begriffen, sofern er nicht gleich als eine Art fünfte Kolonne der Kolonisatoren wahrgenommen wird. Die Tatsache, dass er den Islam ­ der für die im «archaischen Sektor» Eingeschlossenen zu einer Art Identität stiftende Zuflucht geworden ist ­ als Fortschrittshindernis denunziert, macht in diesem Kontext die Dinge nicht besser. Man mag abstrakt die Religionskritik absolut richtig finden: Im gegebenen Zusammenhang aber verdeckt sie vor allem die langjährige Unfähigkeit des PCA, eine spezifische Antwort auf das Kolonialverhältnis zu erarbeiten, und verstärkt deren Wirkungen noch. Anstatt größere Teile der arabischen und berberischen Bevölkerung vom Einfluss der Religion abzulösen, führt diese Form der Kritik eher zu verstärkter Identifikation mit ihr als Reaktion darauf ­ während der PCA als Pendant zu den bürgerlich-liberalen «Assimilationisten» betrachtet wird.  

Nichtsdestotrotz hat der PCA, wegen seiner «multiethnischen» und vor allem an sozialen Kategorien orientierten Politik, eine positive, stimulierende Wirkung auf viele algerische Intellektuelle ausgeübt. Doch mit Beginn des bewaffneten Unabhängigkeitskampfs gerät die Partei in eine politische Zwickmühle: Soll man sich distanzieren oder den Kampf unterstützen? Vor allem die arabischen und berberischen Parteimitglieder wollen den bewaffneten Kampf aktiv unterstützen; besonders im Aurès-Bergland nehmen einige von ihnen schon früh Kontakt zum FLN auf. Dagegen stehen die Europäer in der Partei dem überwiegend feindselig gegenüber. Dennoch werden auch einige Dutzend europäischstämmiger algerischer Kommunisten schon früh am Unabhängigkeitskampf teilnehmen. Der wohl bekannteste unter ihnen ist Maurice Labane.  

Im März 1956 wird die Gründung einer eigenen militärischen Organisation der Partei bekannt gegeben, unter dem Namen Combattants de la libération (CDL, Kämpfer für die Befreiung). Doch deren Mitglieder werden am 5. Juni 1956 durch die französische Armee größerenteils getötet. Die Überreste der CDL werden am 1. Juli 1956 in die Armée nationale de libération, den bewaffneten Arm des FLN, integriert. Das ist das Ergebnis von Verhandlungen zwischen den beiden Parteien, die seit Mai jenes Jahres stattgefunden hatten. Dabei verweigert die Kommunistische Partei ihre Auflösung als eigene politische Struktur, wie sie durch den FLN gefordert worden war.  

Sehr viele von ihnen werden später in den Kampfhandlungen mit der französischen Armee zu Tode kommen ­ oft auch, weil man Sorge getragen hat, dass sie nicht oder unzureichend bewaffnet waren. Denn den ehemaligen Parteikommunisten schlägt eine Atmosphäre des Misstrauens entgegen. Jene, die sich «glaubhaft» abgewandt haben und dies durch ihre «Treue» zum FLN-Apparat unter Beweis stellen, können im Apparat der Nationalen Befreiungsfront aufsteigen; jene, die verdächtigt werden, unabhängige Bestrebungen innerhalb der Nationalbewegung zu verfolgen, werden hingegen des öfteren des «Komplotts» angeklagt.  

Die Ideologie des FLN: Der revolutionäre Populismus  

Der algerische Historiker Mohammed Harbi hat den Begriff des «revolutionären Populismus» für die Ideologie der algerischen Nationalen Befreiungsfront geprägt. Er hat jedoch wenig zu tun mit dem, was man heute im deutschen Sprachraum unter Populismus versteht. Muss der in deutschen Medien verbreitete Populismusbegriff bereits im europäischen Kontext als problematisch gelten, wo der Begriff des Neofaschismus oft angemessener wäre, hat er mit dem Phänomen des «Dritte-Welt»-Populismus erst recht nichts zu tun.  

Das Charaktermerkmal dieses Populismus in einem «Dritte-Welt»-Land besteht darin, dass er einerseits als scharfe soziale Kritik an bestehenden Zuständen auftritt und radikalen Veränderungswillen manifestiert; dass er andererseits aber das gesamte «Volk» als solches zum Subjekt der angestrebten Veränderung erklärt. Dabei fließen soziale Kategorien ­ wie etwa: die Arbeiterklasse, die Unterschichten, die einheimische Bourgeoisie... ­ auf diffuse Weise ineinander. Le peuple, das sind in diesem Falle alle, denen es unter der kolonialen Dominanz schlecht geht.  

Sofern eine Struktur oder eine Partei - wie der FLN ­ vorgibt, im Namen dieses peuple zu reden, kann diese Konzeption dann auch dazu führen, reale Interessengegensätze innerhalb der Gesellschaft zu leugnen oder zu überdecken und ihren Ausdruck für illegitim zu erklären. Das nennt man in Algerien den monolithisme, also das Verständnis der Gesellschaft als quasi «aus einem Stein gehauen». Dieser Diskurs wird vor allem dann, wenn der FLN zur Staatspartei geworden ist, zur Legitimationsideologie einer autoritären Führung, die im Namen «des algerischen Volkes» zu sprechen beansprucht und Interessengegensätze unter den Tisch kehrt, beispielsweise "egoistische Partikularinteressen" der Arbeiterschaft für illegitim erklärt.  

In Algerien, vielleicht mehr noch als in anderen Ländern der so genannten «Dritten Welt», tritt dieser «revolutionäre Populismus» auf eine durchaus reale gesellschaftliche Grundlage. Denn sein manifester Erfolg gründet nicht auf ideologischen Hirngespinsten, sondern auf einer materialistischen Grundlage.  

Tatsächlich kann der populisme nicht ohne die kolonialen Sozialstrukturen verstanden werden. Erstens: In dem kolonialen Apartheidsystem, das im «französischen Algerien» herrscht, sind zunächst einmal fast alle Angehörigen des peuple ­ jedenfalls wenn man den Begriff auf die arabische und berberische Bevölkerung bezieht ­ in der einen oder anderen Form Opfer des Herrschaftssystems. Selbst die Eliten der traditionellen Gesellschaft sind ja durch die Landenteignung zugunsten der europäischen Siedler auf ihre Weise deklassiert worden. Eine Ausnahme bilden nur, wenn man so will, die «Kollaborateure» des Kolonialsystems wie die qaïds. Selbst die winzige, hoch gebildete und städtische Elite unter den musulmans wird in ihrem Aufstieg durch die Europäer behindert. Die tiefgreifenden Verwerfungsprozesse innerhalb der algerischen Gesellschaft, die mit der Landnahme in Algerien ­ das als europäische Besiedlungs - und nicht allein als Rohstoffkolonie behandelt wird ­ einher gingen, haben kaum noch Reste der alten Hierarchie intakt belassen.  

Und zweitens: Dieselben Prozesse haben auch den größten Teil der subalternen Mitglieder dieser Gesellschaft aus ihrer Rolle in der traditionellen gesellschaftlichen Arbeitsteilung ­ etwa der Rolle als Bauer ­ heraus gerissen, aber ohne ihnen eine neue «eindeutige» Position in der Sozialordnung zu geben. In Europa etwa hat die Ablösung der Bauern von der Scholle diese «proletarisiert», also in Arbeiter verwandelt. Aber in Algerien sind die Arbeitsplätze in der, quantitativ nicht so bedeutenden, Industrie vorwiegend von europäischen Arbeitern besetzt. Die musulmans sind Tagelöhner; Bauern ohne eigenen Boden oder mit zu wenig Land, das sie nicht ernährt und die daher nebenher noch eine Erwerbsarbeit verrichten; Dienstboten usw. Vor diesem Hintergrund ist es schwierig, sie als Arbeiterklasse oder Bauernschaft oder als eine andere soziale Kategorie zu mobilisieren, da sie keine festgefügte soziale Rolle einnehmen.  

Die «algerische Revolution» verfügt aus diesen Gründen über keine «führende Klasse» ­ eine Rolle, wie sie etwa die nationale Bourgeoisie im Falle der ägyptischen Wafd-Partei im frühen 20. Jahrhundert oder im Falle des tunesischen Néo-Destour (Neue Verfassungspartei) spielte. Sie ist vielmehr ein Konglomerat aus unterschiedlichen sozialen Kräften, worin eine verarmte Bauernschaft sowie die städtische plèbe - abgeleitet vom lateinischen Wort plebs, das die urbane Armutsbevölkerung im antiken Rom benannte ­ den bedeutensten Teil der Basis darstellen.  

In einem Teil der algerischen Nationalbewegung wird diese «Sakralisierung des peuple» als Subjekt der Geschichte sich mit der Bezugaufnahme auf «den Islam» verbinden. Für einen Großteil der Algerier, und vor allem jene, die noch im «archaischen Sektor» eingeschlossen bleiben, bildet die gemeinsame Religion das hauptsächliche identifikatorische Bindeglied. Dabei herrscht vom Islam oft nur ein sehr verschwommenes Verständnis ­ die Ulema werfen dem «gemeinen Volk» deswegen ja Unkultiviertheit vor -, der sich ungefähr mit einer schwammigen Vorstellung vom «Lager der Bedrückten und der Gerechtigkeit» deckt. Tatsächlich wird ja im kolonialen Algerien die Bevölkerungsgruppe der musulmans, als solche, ausgeschlossen und als weitgehend rechtlos behandelt; das schafft eine leiche Identikationsmöglichkeit.  

Daher werden manche FLN-Kader, die sich meist durch ihre Bildung von den Lebensbedingungen größerer Teile ihrer Bevölkerungsgruppe entfernt haben und diese Distanz überbrücken müssen, des öfteren mit Aufrufen zur Mobilisierung zum djihad herum hantieren. Das ist überwiegend taktisch gemeint, denn der Unabhängigkeitskrieg ist ganz klar ein politischer und kein religiös motivierter Konflikt. Dennoch schafft es in einem Teil der algerischen Gesellschaft die Voraussetzungen für eine Ideologie, die man als islamo-populisme bezeichnen kann und die mancherorts gewisse messianische Züge annimmt. Auf der anderen Seite widersprechen Kader des FLN, vor allem marxistisch inspirierte oder aber Angehörige der berbersprachigen Bevölkerungsgruppen ­ die sich der Rhetorik von «Arabertum und Islam» als ideologischem Hauptfundament widersetzen ­ dieser Orientierung. Diese Auseinandersetzung wird den FLN noch Jahre später, und ebenso das unabhängig gewordene Algerien nach 1962 prägen.  

Zwischen politischem Programm und militärischer Vorherrschaft: Der FLN nach dem «Kongress an der Soummam»  

Der FLN wird 1954 von einer Handvoll junger Kader ins Leben gerufen. In den folgenden zwei Jahren wächst die Organisation rasch an, auch durch den Zulauf seitens der anderen politischen Strömungen in Algerien, nach und nach den Führungsanspruch des FLN anerkennen.  

Aber der harte Kern der politischen Organisation wächst nicht so schnell mit, ja er «schrumpft» durch die Verhaftung von führenden Mitgliedern. Von neun «historischen» Chefs des FLN befinden sich zu Anfang des Unabhängigkeitskriegs drei im Ausland. Im Januar, Februar und März 1955 verliert der FLN drei weitere von ihnen: Einer stirbt im Kampf (Didouch Mourad, nach dem heute die wichtigste Straße in der Kernstadt von Algier benannt ist), und zwei werden verhaftet: Mostefa Ben Boulaïd und Rabah Bitat.  

Die Organisation erhält daher, vor allem ab 1956, Zulauf von Kämpfern, die davor keinerlei Berührung mit Politik hatten. Zwei Generationen von Aktivisten stehen sich so gegenüber: Die «politischen» Kader, die noch die verschiedenen algerischen politischen Parteien vor 1954 durchlaufen haben, und die jetzt zahlreicher werdenden, rein «militärischen» Kader. Bis dahin war die Rekrutierung auf strikt freiwilliger Basis erfolgt. Ab 1956 nehmen aber auch die Zwangsmaßnahmen zur Rekrutierung neuer Soldaten zu, die durch Befehlshaber der ALN vor Ort ­ oft eigenmächtig - vorgenommen werden.  

Vom 20. August bis 10. September 1956 findet ein Schlüsselereignis statt, das bis heute in der algerischen Innenpolitik nicht vergessen worden ist und mitunter als positives Gegenbeispiel zu späteren Fehlentwicklungen angeführt wird. Im Tal der Soummam, das ist ein Fluss in der Kabylei nahe am Mittelmeer, findet ein ­ selbstverständlich illegaler ­ Delegiertenkongress des FLN statt. Seitdem ist er unter dem Namen <le Congrès de la Soummam> in die algerische Geschichte eingegangen. 16 Delegierte aus den verschiedenen Kampfzonen in Algerien vertreten die Organisation, die, wie aus den Kongressunterlagen hervorgeht, damals 7.500 bewaffnete Mitglieder und 15.000 Unterstützer umfasst. Der «Kongress an der Soummam» nimmt ein politisches Programm an, aus dem seitdem vor allem drei Punkte zitiert werden: La primauté du civil sur le militaire (Die Unterordnung des militärischen unter den politischen Arm), la primauté de l¹intérieur sur l¹extérieur (die Unterordnung der Exil- unter eine innerhalb Algeriens befindliche Führung) sowie das Bekenntnis zu einem laizistischen Staat.  

Tatsächlich beschließt die Delegiertenversammlung, das Primat der Politik über das Militärische zu gewährleisten. Sie schafft eine Führungsinstanz mit 17 Voll- und 17 Ersatzmitgliedernals eine Art «Parlament» der Unabhängigkeitsbewegung, in dem die wichtigsten Beschlüsse diskutiert werden müssen und das einmal pro Jahr zusammentreten soll. Ihm zur Seite steht, als «Exekutive», der fünfköpfige Koordinierungs- und Ausführungs-Ausschuss (CCE), der innerhalb Algeriens bleiben muss. Diesen Organen sollen die militärischen Abteilungen strikt untergeordnet sein. Ferner wird die Abhaltung von Assemblées populaires, einer Art Volksversammlungen mit der örtlichen Basis der Unabhängigkeitsbewegung, im ganzen Land beschlossen. In der Praxis wird dieser Beschluss jedoch alsbald pervertiert werden, da diese Versammlungen ziemlich schnell zu einem Abnickgremium werden, in denen der FLN- oder ALN-Apparat seine zuvor aufgestellten Forderungen, im Hinblick auf materielle Unterstützung, an die Bevölkerung richten kann. Statt eines politischen Beschlussorgans werden die «Volksversammlungen» so alsbald zum verlängerten Arm des militärischen Apparats, der sich über diese Gremien seine logistische Unterstützung organisiert.  

Der Delegiertenkongress beschließt ferner auch das Prinzip der Einheitspartei, demzufolge es allein dem FLN zustehe, für Algerien zu sprechen. Aus Sicht mancher der führenden Kader handelt es sich um eine Weichenstellung, die nur für die Dauer des Unabhängigkeitskriegs gedacht ist, mit einer offenen politischen Debatte innerhalb des FLN. Es wird freilich anders kommen.  

Schließlich nimmt die Soummam-Konferenz noch ein soziales Programm an, das in wesentlichen Teilen vom vormaligen Generalsekretär des Parti communiste algérien - Amar Ouzegane ­ verfasst worden ist. Es bestätigt im Wesentlichen die populistische Orientierung, derzufolge der FLN sich an das gesamte algerische Volk richtet; freilich wird hinzugefügt: «Die Nationale Befreiungsfront will sich vor allem auf jene Schichten stützen, die am zahlreichsten, am ärmsten und am revolutionärsten sind: die Bauern, die Landarbeiter». Zum Stand der Arbeiterkämpfe heißt es, diese seien noch nicht hinreichend entwickelt, die UGTA stehe dafür jedoch aber Instrument zur Verfügung.  

Zur Rolle der Frau in der algerischen Gesellschaft werden im Wesentlichen moralisierende und implizit konservative Ausführungen gemacht. Ihre Rolle wird im Wesentlichen ausgemalt als «moralische Unterstützung der Kämpfer, Informationsbeschaffung, Logistik, Hilfe für die Familien von Kämpfern oder Gefangenen». In der sozialen Realität jedoch wird die Entwicklung teilweise über diese Konzeption hinweg und hinaus gehen, insofern als tatsächlich auch Frauen am bewaffneten Kampf teilnehmen, was aus Sicht der traditionellen Gesellschaft unerhört ist. Das ist zwar offiziell nicht vom ALN-Militärapparat vorgesehen, der nur dann Waffen an Frauen austeilt, wenn diese etwa als Krankenschwestern an die Front zugeteilt werden. Faktisch kommt es jedoch dazu, dass Frauen zu Waffenträgerinnen werden und ihre Gewehre auch benutzen, so wie sie in den Städten als politische Aktivistinnen am Kampf teilnehmen. Noch heute spielen die Moudjahidat, die Kämpferinnen aus dem Unabhängigkeitskrieg, eine wichtige Rolle als Avantgarde der algerischen Frauenbewegung.  

Eine der wichtigsten Aussagen in den Programmdokumenten des Congrès de la Soummam ist das Bekenntnis zu einem laizistischen Staat und der Trennung von Religion und Politik, da es sich um einen qualitativ neuen Schritt in der FLN-Politik handelt. Auch wenn diese Formulierung eher an die französische und internationale Öffentlichkeit gerichtet ist, deren Unterstützung gesucht wird, während es im Landesinneren Algeriens nicht so stark herausgestrichen wird. Das bedeutet nicht, dass der Programmpunkt nicht ernst zu nehmen wäre; aber taktische Notwendigkeiten zwingen den FLN zu einem gewissen doppelten Diskurs, da den algerischen ländlichen Bevölkerungsteilen diese Prioritäten nicht unmittelbar einleuchten.  

Schwarz auf weiß sieht das Programm erstmals vor, dass auch die nicht-moslemische, namentlich europäische Bevölkerung ihren Platz im zukünftigen Algerien habe, sofern sie die Unabhängigkeit akzeptiere. Bisher war diese Frage nicht explizit aufgeworfen worden. Für die politische Führungsgruppe um Abbane Ramdane ­ FLN-Kader seit Anfang 1955 -, die das «Programm von der Soummam» durchgesetzt hat, handelt es sich dabei auch um ein ureigenes Anliegen: Die Berufung auf die möglicherweise abweichenden Interessen der europäischen Bevölkerung in einem zukünftigen unabhängigen Algerien soll ihr als Garantie dafür dienen, dass auch nach der Unabhängigkeit der politische Pluralismus gewahrt bleibt. Als Kabylen sind sie zugleich misstrauisch gegenüber einer ungezügelten Vorherrschaft der «arabo-islamischen» Komponente.  

Von Kairo aus meldet sich das FLN-Gründungsmitglied Ahmed Ben Bella zu Wort, der am Kongress nicht teilgenommen hatte. Er sieht das verabschiedete Programm im Widerspruch zum notwendigen Festhalten an den «Prinzipien des Islam», aus denen heraus der Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit zu begründen sei. Dabei handelt es sich bei Ben Bella auch um ein taktisches Argumentieren, denn dieser ist weit weniger ein glühender Anhänger der Religion als vielmehr vor allem ein arabischer Nationalist, der eine pan-arabische Orientierung und ein Bündnis mit Ägypten unter Nasser anstrebt. Doch im «Programm von der Soummam» wird affirmiert, die «algerische Revolution» sei ebenso sozialer wie nationaler, d.h. spezifisch algerischer Natur und «weder Kairo noch London, Moskau oder Washington unterworfen». Das gefällt Ben Bella nicht. Er bereitet sich deswegen darauf auf, nach Algerien zurückzukehren und den ideologischen Kampf gegen die Soummam-Thesen zu führen. Dazu kommt es nicht: Ben Bella sitzt mit anderen Führungskadern des FLN in dem Flugzeug, das ­ nach einem diplomatischen Besuch bei der marokkanischen Staatsspitze ­ auf dem Rückflug nach Kairo am 22. Oktober 1956 durch die französische Luftwaffe gekapert und nach Algier entführt wird. Daher landet Ben Bella bis kurz vor Erreichung der Unabhängigkeit hinter Gittern.  

Abbane Ramdane kann jedoch nicht lange seine Position durchsetzen. In den ersten Monaten des Jahres 1957 gerät der FLN in seine bis dahin schwerste Niederlage und rutscht daraufhin in die Krise. Verantwortlich dafür ist die Hinwendung zum urbanen Terrorismus, die der FLN seit dem Herbst 1956 eingeschlagen hatte. Voraus gegangen war die Niederlage Frankreichs, Großbritanniens und Israels anlässlich der «Suez-Expedition» im Oktober 1956 ­ die drei Staaten hatten zusammen Ägypten überfallen, nachdem das Land den Suezkanal nationalisiert hatte, waren jedoch durch USA und UdSSR gemeinsam im UN-Sicherheitsrat ausgebremst worden. Die Führungsebene des FLN will daraufhin erneut den Lauf der Ereignisse beschleunigen. Man glaubt, durch den Einsatz terroristischer Mittel in den großstädtischen Zentren, und namentlich in Algier, den Befreiungskrieg abkürzen zu können, da die französische öffentliche Meinung die Verlängerung des Konflikts nicht um diesen Preis akzeptiere. Ein folgenschwerer Irrtum.  

Bereits am 30. September 1956 waren Bomben in zwei Gaststätten in Algier (Le Milk Bar und La Caféteria) explodiert, die einen Toten und 62 Verletzte forderten; es handelte sich um eine Vergeltungsmaßnahme für die Sprengung von Häusern in der Casbah, der von «Eingeborenen» bewohnten Altstadt von Algier. Ab November desselben Jahres sucht der FLN die Kraftprobe in der Hauptstadt, auch mit den Mitteln des urbanen Terrorismus ­ später würde man sagen: der Stadtguerilla. Mit einem Aufruf zum achttägigen Generalstreik in der Hauptstadt im Januar 1957 setzt der FLN zum Kampf um das Zentrum an. La bataille d¹Alger (1) (Die Schlacht um Algier) beginnt.  

Doch sie hat einerseits zur Folge, dass der europäische Bevölkerungsteil enger mit der französischen Staatsmacht zusammengeschweißt wird. Andererseits setzt der französische koloniale Staatsapparat brachiale Mittel zur Brechung der FLN-Offensive ein, darunter den äußerst massiven Einsatz von Folter gegen alle «verdächtig» wirkenden Algerier, die den Schergen der Repression in die Finger geraten ­ die französische Folterpraxis sollte dabei als historisches Modell etwa für spätere Militärdiktaturen in Lateinamerika dienen (2). Die ersten Monate des Jahres 1957 sind jene Zeit, in denen sich eine Figur wie der freiwillig dienende Unteroffizier Jean-Marie Le Pen auszeichnet. Der spätere rechtsextreme Politiker hat damals ­ wie in Frankreich als gerichtlich erwiesen gilt ­ im Verhör-Hauptquartier in der Villa des Roziers an Folterungen, auch solchen mit Todesfolgen für die Betroffenen, aktiv teilgenommen (3).  

Der systematische Einsatz der Folter gegen «Eingeborene» in der Kolonialgesellschaft Algeriens ist nicht wirklich neu; denn bereits Karl Marx hatte ihn in einem Brief aus Algier an Friedrich Engels im Jahr 1882 erwähnt (4). Das jetzt Ausgeübte aber stellt alles bisher Dagewesene in den Schatten. Ab dem 20. März 1957 erregt in Frankreich eine Artikelserie des Chefredakteurs Jean-Jacques Servan-Schreiber, der als Reserveleutnant in Algerien eingesetzt war, im Wochenmagazin L¹Express über die Verwendung der Folter und brutale Einsätze gegen die Zivilbevölkerung großes Aufsehen.  

Frankreich hat sich in den Augen eines Teils der Weltöffentlichkeit durch sein Vorgehen in Algerien moralisch diskreditiert. Für den FLN aber endet die Bataille d¹Alger vor allem mit einer politischen und strategischen Katastrophe: Die Organisation hat ihre städtischen Kader sinnlos «verheizt». Die urbane Intelligenz wendet sich von ihm ab oder geht in¹s Exil, die organisierte Arbeiterbewegung ist zusammengebrochen. Das innere Führungsorgan C.C.E., das auf dem «Kongress an der Soummam» gegründet worden war und in Algerien bleiben sollte, ist am 27. Februar 1957 klammheimlich geflohen, um seiner definitiven Zerschlagung zu entgehen ­ aber die Aktivistenbasis weiß davon zunächst gar nichts. Die Casbah, die schwer zugängliche Altstadt von Algier, ist durch französische Fallschirmjäger-Elitetruppen belagert und von der übrigen Stadt mit Stacheldrahtbarrikaden abgetrennt; «Eingeborene», die dort wohnen, müssen bei ihrem Verlassen und Betreten an militärischen Check points Durchlass begehren.  

Solche Krisenperioden sind günstig, um offene Rechnungen zu begleichen. Die «Militärs» im Apparat des FLN können sich nunmehr endlich des lästigen «Politikers» Abbane Ramdane entledigen. Am 27. Dezember 1957 wird er in Marokko in einen Hinterhalt gelockt und erschossen, durch die Männer von Abdelhafid Boussouf. Boussouf leitet den FLN-eigenen Nachrichten- und Spionageabwehrdienst, den Malg (Ministère de l¹armement et des liaison générales ­ Ministerium für Bewaffnung und logistische Verbindungen). Die im libyschen Tripolis ansässige Organisation bildet den Vorläufer der Sécurité militaire SM, des späteren militärischen Sicherheitsdiensts, der nach der Unabhängigkeit im Einparteienstaat des FLN die Rolle der ­ hinlänglich berüchtigten - politischen Polizei übernehmen wird. Die zunehmende Macht des Malg schon während des Unabhängigkeitskriegs stellt eine wichtige Weichenstellung für die Zukunft dar.  

In den Reihen des FLN triumphiert nunmehr Krim Belkacem, der seit dem «Kongress an der Summam» als Armeechef der Befreiungsfront angesehen wird. Der militärische Arm dominiert über den politischen.  

Kriegsende in Algerien: Eine Armee übernimmt den Staat  

Die Situation, die ab dem Jahr 1957 innerhalb des FLN eintritt, beschreibt der damalige Teilnehmer der Ereignisse Mohammed Harbi wie folgt: «In der Führung gibt es keine politischen Tendenzen mehr, sondern Clans. Niemand hat eine kohärente Strategie für die Gegenwart und die Zukunft vorzuschlagen. (...) Das Programm hat keine Bedeutung mehr. Der Geist der Bürokratie weht über den Führungsebenen. Die Ðaltenð Aktivisten, die schon vor dem Krieg politisch tätig waren, erkennen sich (in der Organisation) nicht länger wieder.»  

Das gegenseitige Misstrauen und der Argwohn gegenüber kritischen Intellektuellen innerhalb der Organisation wird noch durch eine besonders ausgeklügelte Operation der französischen Nachrichtendienste verstärkt, die so genannte Opération Oiseau bleu (Blauer Vogel, im Sinne von «Lockvogel»). Diese trägt ihren Namen aufgrund des blauen Arbeitsanzugs, den die neu angeworbenen algerischen Zuträger und Informanten der Sicherheitskräfte tragen. Die Zahl dieser Hilfskräfte hat nach der bataille d¹Alger von Anfang 1957 sprunghaft zugenommen, da dieses katastrophale Kapitel der FLN-Politik zum Verlust zahlreicher seiner städtischen Aktivisten geführt hat. Viele bisherige FLN-Mitglieder oder Sympathisanten können daher durch die französische Armee «umgedreht» werden, sei es unter dem Effekt der politischen Demoralisierung, sei es unter der Folter ­ oder durch den kombinierten Effekt von beidem.  

Der Dienst für psychologische Kriegsführung der Armee wird nun, 1958, vor diesem Hintergrund ein Täuschungsmanöver einfädeln, um den FLN innerlich zu schwächen. Er wird versuchen, die Organisation fälschlich glauben zu machen, ihre Maquis ­ ihre bewaffneten Gruppen, der (französische) Name kommt von der rund um¹s Mittelmeer verbreiteten Maccia-Vegetation ­ seien bereits von Agenten durchsetzt. So wird er beispielsweise in der Kabylei drei FLN-Mitglieder festnehmen und nach einiger Verhörzeit wieder freilassen, in dem Glauben, zahlreiche ihrer Kampfgefährten und sogar Offiziere seien Doppelagenten. Ein schon zuvor als besonders rabiat bekannter Militär der ALN - der Colonel (Oberst) Amirouche - beschließt daraufhin, eine gründliche Säuberung in den eigenen Reihen vorzunehmen. Und weil die Gelegenheit so günstig ist, wird er dabei gleich noch einige offene Rechnungen mit «Berberisten» und angeblichen «Kommunisten» regeln. Oder auch mit Brille tragenden Intellektuellen, die ihm verdächtig vorkommen. Dabei wird er an die 2.000 Aktivisten des FLN «opfern», die der Opération Bleuite (ungefähr: Blaukur) getauften Säuberungswelle zum Opfer fallen. Daraufhin beginnt ein gewisses paranoides Klima in den Reihen der Organisation um sich zu greifen, denn die ALN-Kämpfer sind verunsichert und sehen sich potenziell als bedroht an. Tendenziell vertrauen sie nur noch ihren unmittelbaren Vorgesetzten, vor allem wenn diese aus derselben Region stammen. Damit beginnt eine weitere folgenschwere Entwicklung, nämlich die Fraktionierung der Armee in unterschiedliche «Clans» und der Triumph des «Regionalismus» in ihrem Inneren. Ein gemeinsames Interesse artikuliert sich nur schwer, unter dem Deckmantel der einheitlichen militärischen Organisation bilden sich Clans und regionale Seilschaften heraus. Das hat die algerische Armeehierarchie bis auf den heutigen Tag geprägt.  

Viele unter den Militärs des FLN haben, ähnlich wie der Colonel Amirouche, außer dem Kampf keine Ausbildung genossen. Ferner haben sie keinerlei Erfahrung mit politischer Diskussion oder Analyse, und sie haben nie unter demokratischen Verhältnissen gelebt. Deswegen orientieren sie sich an Vorstellungen der traditionellen algerischen Gesellschaft, also an dem Muster archaischer Sozialbeziehungen, was die Rolle «eines Chefs» betrifft.  

Zu einem richtigen «Chef» - so meinen sie - gehört, dass er demonstrativ Geld ausgibt und seine Klientel versorgt. Entsprechend wächst ihr Bedarf an Geld- oder Sachmitteln, die sie oftmals der Bevölkerung abverlangen. Von Anfang an ist das Verhältnis der FLN-Militärs zur Landbevölkerung von einer Mischung aus Sympathie der letzteren, Aufrufen zur Mobilisierung für die gemeinsame Sache, aber auch Zwang und Druck geprägt. Entsprechend ruft dies mitunter Gegenreaktionen in einem Teil der ländlichen Bevölkerung hervor. Dort, wo der Druck besonders ausgeprägt ist oder wo traditionelle gesellschaftliche Bruchlinien ­ etwa Konflikte zwischen Dörfern oder Großfamilien ­ hinzu kommen, führt dies Bevölkerungsgruppen dazu, sich in den «eingeborenen» Hilfstruppen des Kolonialregimes zu engagieren. Die bekanntesten dieser Hilfstruppen werden harka genannt. Daher kommt der Name der berühmten Harkis, von denen heute einige Zehntausend in Frankreich leben und deren gesellschaftlicher Status ungeklärt ist, da sie weder durch die französische noch die algerische Gesellschaft richtig anerkannt werden; ein kleiner Teil der Harki-Kinder hat sich deswegen aus Trotz gar der kolonial-nostalgischen extremen Rechten in Frankreich angeschlossen.  

Ab 1959/60 nimmt der Anteil des Zwangs dort, wo der FLN präsent ist, dagegen ab. Denn erstmals kommt es zu Protesten, vor allem im städtischen Milieu, wo die Sympathisanten sich keine Vorschriften mehr von ebenso autoritären wie ungebildeten «kleinen Chefs» machen lassen wollen. Aus den Internierungslagern entlassene politische Häftlinge weigern sich, als Geldeintreiber für den FLN tätig zu werden, bevor sie nicht wissen, was mit den eingesammelten Geldern genau geschieht. Der Apparat gibt daraufhin Anweisungen, die bisherige Arbeitsweise zu korrigieren. Hinzu kommt, dass ab 1960 auch die Kampfgebiete im Landesinnern nun «endlich» in den Genuss der «äußeren Hilfe» - die etwa unter der Immigrationsbevölkerung in der französischen «Metropole» eingetrieben wird ­ kommen. Die Abgaben der sympathisierenden Bevölkerung werden damit auf einen symbolischen Unterstützungakt begrenzt.  

Doch zugleich hat auch die Bedeutung der «Wilayas des Inneren» - eine Wilaya ist ein algerischer Verwaltungsbezirk, und der FLN ist in sechs Großbezirke eingeteilt ­ drastisch abgenommen. Denn die innerhalb Algeriens tätige Guerilla ist teilweise durch das französische Militär zerrieben, teilweise ihrer Unterstützung durch die sympathisierende Bevölkerung mittels Zwangsumsiedlungen beraubt worden. Der koloniale Herrschaftsapparat verpflanzt mindestens eine Million Algerier in von außen bewachte und mit Stacheldraht umgebene Umsiedlungslager. Ein Bericht in der Pariser Abendzeitung Le Monde vom 18. April 1959 macht auf die Gefahr einer Hungerkatastrophe unter den Insassen aufmerksam, von denen 100.000 an akuter Unterernährung oder Wassermangel leiden.  

An Bedeutung gewonnen hat dagegen zur selben Zeit die Armée des frontières, die Grenzarmee. Sie sitzt in den grenznahen Regionen Marokkos und Tunesiens, wo sie unter der zahlreichen Flüchtlingen aus Algerien ein immenses Rekrutierungspotenzial vorfindet. So leben bei Kriegsende rund 300.000 Algerier in Flüchtlingslagern in Tunesien. Die militärischen Kampfhandlungen berühren die Grenzarmee kaum, da ein Übergreifen des französischen Kolonialkriegs auf die ­ mittlerweile unabhängigen ­ Staaten Marokko und Tunesien ernste internationale Verwicklungen zur Folge hätte. Am 8. Februar 1958 hatten so französische Kampfbomber das tunesische Dorf Sakhiet Sidi Youssef bombardiert, nachdem französische Flugzeuge in Grenznähe beschossen worden war. 79 Menschen sterben bei den Luftangriffen, und 130 werden verletzt, ausschließlich Zivilpersonen. Doch daraufhin kommt es zu einer Welle von internationalen Protesten gegen das französische Vorgehen, und aus aller Welt treffen Hilfslieferungen in dem tunesischen Dorf ein.  

Weitgehend von Kampfhandlungen verschont, wächst sich die «Grenzarmee» so zu einem stattlichen und gut bewaffneten Apparat heraus. Sein Offizierkorps nimmt immer mehr Algerier auf, die bis dahin in der französischen Armee ihren Dienst verrichtet ­ und oft auch an kolonialen Feldzügen in anderen Ländern teilgenommen ­ hatten. Der Funktionärsapparat der Armée des frontières besteht tatsächlich großenteils aus ehemaligen Angehörigen und Offizieren des französischen Militärs, die eine entsprechende Ausbildung, gute Sprachkenntnisse und ein relativ hohes Bildungsniveau mitbringen. In Marokko und Tunesien unterhält die Grenzarmee darüber hinaus einen eigenen Repressionsapparat und eigene Gefängnisse. Bereits 1956 beschwerte sich die Fédération de France des FLN in der «Metropole» über Misshandlungen an Aktivisten, die sie über die Durchgangslager an den Grenzen nach Algerien einschleusen wollte. Diese hatten als politisch nicht «sicher» gegolten.  

Ohne einen Schuss mit der französischen Armee zu wechseln, wartet die Grenzarmee das Kriegsende ab. Der Unabhängigkeitskrieg ist auf diese Weise nicht vorwiegend militärisch gewonnen worden: Die Guerilla im Landesinneren war 1959/60 weitgehend zerschlagen, und die Armée des frontières hat nicht gekämpft. Doch die Unmöglichkeit einer Internationalisierung des Konflikts ­ einer Ausweitung auf Marokko und Tunesien ­ ohne größere Verwicklungen, der wachsende diplomatische Druck auch seitens der USA und UdSSR und nicht zuletzt die zunehmende Abwendung der französischen «Metropolen»-Bevölkerung von dem immer mehr als sinnlos betrachteten Krieg führen eine politische Wende herbei. Ab 1959/60 bekehrt sich die französische Regierung unter Präsident Charles de Gaulle, nachdem sie eisern an der Algérie française festgehalten hatte, zu einer realpolitischen Position. Was Charles de Gaulle nunmehr vorschwebt, ist ein politischer Deal: Er ist bereit, die agrarischen Interessen der europäischen Siedler in Algerien zu «opfern», sofern die Interessen der französischen Wirtschaft an Rohstoffen unter dem algerischen Boden gewahrt bleiben. Auch würde er Algerien gern weiterhin als Hinterland für französische Atomwaffentests sichern. Die Accords d¹Evian, die Abkommen von Evian am Genfer See, scheinen de Gaulle im März 1962 Recht zu geben: Diese schreiben den französischen Zugriff auf das algerische Erdöl und ­gas sowie den Forgang der Atom- und Chemiewaffentests Frankreichs in der algerischen Sahara auch in die Zukunft hinein fort. Beide Formen fortdauernden neokolonialen Einflusses enden 1971, als Algerien die entsprechenden Abkommen kündigt und das Erdöl nationalisiert.  

Am 5. Juli 1962, dem 132. Jahrestag der Kapitulation des osmanischen Regentenvon Algier vor den heranrückenden französischen Truppen, wird Algerien ein unabhängiger Staat. Und als Kandidat für die Macht in diesem Staate steht die Armée des frontières bereit. Diese verfügt an den Grenzen Marokkos und Tunesiens über 35.000 bis 40.000 gut ausgebildete und ausgerüstete Berufssoldaten. Hingegen ist die inneralgerische Guerilla weitgehend aufgerieben. Mit dem Waffenstillstand vom 19. März 1962 zeigt sich, dass diese nur (noch) über 5.000 Kämpfer verfügt, von denen nur wenige an der ersten Periode des Unabhängigkeitskampfs teilgenommen haben ­ denn von denen sind viele in den mörderischen Armeeoffensiven von 1959 umgekommen. Dagegen sind 40 Prozent der Beteiligten relativ «frische» Deserteure aus der französischen Armee, die gegen die Maquis kämpfen sollten und dann überliefen. Ferner finden sich viele junge Algerier, die vor kurzem ihre Schulausbildung abgebrochen haben.  

Die Grenzarmee, von ALN umbenannt in APN (Armée populaire nationale, Nationale Volksarmee), wird den wichtigsten Machtapparat des jungen Staates bilden. Und sie wird mindestens bis zum Ende des Ein-Parteien-Regimes 1989, teilweise auch darüber hinaus, das organisatorische Rückgrat der Machtstruktur in Algerien bleiben.  

FUSSNOTEN:  

(1) La bataille d¹Alger hat später einem Film den Namen gegeben, der durch den italienischen Regisseur Gillo Pontecorvo gedreht und im Jahr 1966 beim Mostra-Festival in Venedig vorgestellt wurde. An dem Film wirkten vorwiegend algerische Laienschauspieler mit, die ihre eigene Rolle in den ­ damals nur wenige Jahre zurückliegenden ­ Ereignissen darstellen. Sehr viel später kam der Film (der zwischenzeitlich von zahlreichen «Dritte Welt»-Bewegungen oder der US-amerikanischen Black Panther Party studiert worden war) zu erneuter Berühmtheit, da das US-Verteidigungsministerium sich in den Jahren 2002/03 für ihn zu interessieren begann. Dabei ging es den nordamerikanischen Militärs und Politikern darum, die nützlichen bzw. schädlichen Effekte, die der Einsatz der Folter durch die Franzosen im Algerienkrieg zeitigte, auszuwerten ­ im Hinblick etwa auf die Invasion im Irak. Vgl. dazu ausführlich: http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/kino/17510/1.html  

(2) Die französische Folterpraxis im Algerienkrieg hat unmittelbar die späteren Repressionstechniken unter den lateinamerikanischen Militärdiktaturen der siebziger und achtziger Jahre, insbesondere in Argentinien (unter General Jorge Videla)) und in Chile (unter General Augusto Pinochet), inspiriert. Bereits im Jahr 1957 kamen 60 argentinische Militärs, die in Paris an der Ecole de guerre ausgebildet wurden, in das noch französisch beherrschte Algerien ­ zum Zwecke der Fortbildung in Sachen «antisubversiver» Kriegsführung. Unter ihnen befand sich der colonel (Oberst) Lopez Aufranc, der schon 1961 einen Fortbildungskurs zum «interamerikanischen antimarxistischen Kampf» vor 39 Offizieren aus 13 südamerikanischen Ländern leiten würde. Dabei wurden die Schriften des französischen Oberstleutnants Roger Trinquier, des Theoretikers in Sachen «Subversionsbekämpfung» und Autors des Werks La guerre moderne (Der moderne Krieg), die den französischen Militärs in Algerien als Handlungsanleitung dienten, ins Spanische sowie ins Englische übersetzt. Der französische General Paul Aussaresses, einer der führenden Militärs während der bataille d¹Alger, seinerseits würde später als Ausbilder vor nord- und südamerikanischen Offizieren tätig werden, zuerst im US-amerikanischen Fort Bragg, bevor er von 1973 bis 75 als französischer Militärattaché in Brasilien ­ wo zu jener Zeit eine Militärdiktatur herrscht ­ residiert. In Argentinien, wo die Armee sich im März 1976 an die Macht putscht und die Jagd auf Marxisten eröffnet, ist der französische Oberst Robert Servant (von 1974 bis Oktober 1976) im Hauptquartier der Infanterie tätig, wohin ihn der französische Premierminister Pierre Messmer geschickt hatte. Vgl. ausführlich dazu: Quand la France formait les tortionnaires in L¹Humanité Hebdo vom 20./21. 09. 2003. Speziell zum General Aussaresses, der sich später (2001) in seinen Memoiren freimütig zur Folter im Algerienkrieg bekennen wird, vgl. Jungle World 20 / 2001 und allgemein zur französischen Debatte bezüglich der Folter im Algerienkrieg vgl. Jungle World 50 / 2000.  

(3) Unmittelbar vor dem zweiten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahl im Mai 2002 veröffentlichte die Pariser Abendzeitung Le Monde Zeugenaussagen aus der Zeit während der bataille d¹Alger. Darin beschuldigte Mohammed Scherif Moulay den rechtsextremen Politiker, seinen Vater Ahmed Moulay, der damals der algerischen Nationalen Befreiungsfront angehörte, zu Tode gefoltert zu haben. Le Pen habe ihm literweise Seifenwasser eingeflößt, ihn durch Stromstöße gefoltert und danach erschossen. Moulay gab an, als Kind die Geschehnisse in seinem Haus heimlich beobachtet zu haben. Le Pen klagte gegen die Zeitung, ein Jahr später kam es zum Prozess. Dabei musste er eine unangenehme Überraschung erleben: Der Zeuge konnte in der Verhandlung den Armeedolch präsentieren, den Le Pen am Ort des Geschehens vergessen hatte. Er trägt tatsächlich eine Inschrift mit dem Namen und dem militärischen Dienstgrad Le Pens. Die Echtheit wurde bestätigt. Die Zeitung Le Monde wurde am 26.06.2003 freigespochen. Le Pen kann jedoch leider für diese Taten nicht mehr gerichtlich belangt werden, sie sind in Frankreich bereits verjährt bzw. fallen aufgrund französisch-algerischer Vereinbarungen unter eine Amnestie.  

(4) Vgl. dazu: Karl Marx: Lettres d¹Alger et de la Côte d¹Azur (Briefe aus Algier und von der Côte d¹Azur), übersetzt und eingeleitet von Gilbert Badia, Pantin bei Paris 1997, besonders S. 70.  

Ausgewählte Literatur:  

  • Benyoucef Ben Khedda: La fin de la guerre d¹Algérie. Les accords d¹Evian. Algier, 1998. - Général Bigeard: Crier ma vérité. Paris, 2002. (Rechtfertigungsschrift eines französischen Militärs; muss man nicht gelesen haben.)
  • Saïd Bouamama: Algérie. Les racines de l¹intégrisme. Brüssel, 2000.
  • Jean-Paul Cahn und Klaus-Jürgen Müller: La République fédérale d¹Allemage et la Guerre d¹Algérie. Paris, 2003 (Studie zum Verhältnis zwischen Westdeutschland und Frankreich während des Algerienkriegs).
  • Jean-Luc Einaudi: Un Algérien. Maurice Labane. Paris, 1999. (Portrait eines europäischstämmigen Kommunisten in Algerien, der am Befreiungskrieg teilnahm)
  • Mohammed Harbi: Aux origines du FLN: Le populisme révolutionnaire en Algérie. Paris, 1975. - Mohammed Harbi: Le F.L.N., mirage et réalité. Des origines à la prise du pouvoir (1945 ­ 1962). Paris, 1980, zweite Auflage:1985.
  • Mohammed Harbi: 1954, la guerre commence en Algéri., Brüssel, 1998.
  • Mohammed Harbi/Gilbert Meynier: Le FLN, documents et histoire 1954-1962. Paris, 2004.
  • Jean Lacouture: 1962. Algérie, la guerre est finie. Brüssel, 1985.
  • Gilbert Meynier: Histoire intérieure du FLN (1954 ­ 1962). Paris, 2002.
  • Jakob Moneta: Die Kolonialpolitik der französischen KP. Hannover, 1968.
  • Sylvain Pattieu: Les camarades des frères. Trotskistes et libertaires dans la guerre d¹Algérie. Paris, 2002.
  • Daniel Rivet: Le Maghreb à l¹épreuve de la colonisation. Paris, 2002.
  • Emmanuel Sivan: Communisme et nationalisme en Algérie 1920 ­ 1962 . Paris, 1976
  • Benjamin Stora: Histoire de la guerre d¹Algérie (1954 ­ 1962). Paris, 1993. - Pierre Vidal-Naquet: La torture dans la République. Paris, 1972.  

Vom Autor erscheint im Dezember 2004 im Unrast Verlag, Münster, das Buch: <Algerien: Frontstaat im globalen Krieg? Neoliberalismus, soziale Bewegungen und islamistische Ideologie in einem nordafrikanischen Land>. Darin wird u.a. den Gründen für das Scheitern des staatssozialistischen Entwicklungsmodell sowie für das Aufkommen des Islamismus in den 80er und 90er Jahren nachgegangen.

Editorische Anmerkungen

Diesen Artikel schickte uns der Autor am 4.11.2004 in der vorliegenden Fassung zur Veröffentlichung. Eine gekürzte Fassung erschien als Dossier der Wochenzeitung <Jungle World> vom 03. 11. 2004.