Betrieb & Gewerkschaft

VW: Ein Hauch Kolonialismus
11/04

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Über das Ergebnis der Tarifrunde bei VW sprach Thies Gleiss für die SoZ mit Stephan Krull, Mitglied des Betriebsrats bei VW in Wolfsburg und des Ortsvorstands der IG Metall Wolfsburg.

Wie beurteilst du das Abstimmungsergebnis und warum konnten 15 Mitglieder der Großen Tarifkommission der IG Metall dem Verhandlungsergebnis nicht zustimmen?

Es ist bekannt, dass die Vertreterinnen und Vertreter der Auszubildenden gegen den »Kompromiss« gestimmt haben. Das ist damit begründet, dass die Azubis am meisten gebeutelt werden: 20% reduzierte Ausbildungsvergütung, 20% weniger Entgelt nach der Ausbildung und dazu noch für künftige Auszubildende eine eingeschränkte Übernahme in ein Arbeitsverhältnis bei VW (15% aller Auszubildenden werden nach Leistungskriterien nicht übernommen). Bei der VW-Tochter AutoVision werden für zwei Jahre 185 Ausbildungsverträge abgeschlossen, allerdings zu einer Ausbildungsvergütung unterhalb des Flächentarifvertrags und ohne Anspruch auf Übernahme nach der Ausbildung.
Andere Tarifkommissionsmitglieder haben erklärt, dass die Arbeitszeitverlängerung und Entgeltkürzung für neu einzustellende Beschäftigte falsch und unanständig sei. Trotz zum Teil umfassender Kritik hat die Mehrheit unter dem Eindruck der Ereignisse dem »Kompromiss« zugestimmt, einige formulierten sogar, die »Neuen« müssten weniger verdienen, damit »wir Alten« mehr bekommen. Das hat natürlich mit Solidarität nichts zu tun, sondern ist Ausdruck der nach wie vor vorhandenen Basis für Standortchauvinismus und letztlich Kolonialismus in der deutschen Arbeiterschaft.

IG Metall und noch mehr der VW-Betriebsrat haben von sich aus auf die Ausgangsforderungen verzichtet und einen eigenen Sanierungsplan einschließlich Lohnverzicht und Arbeitszeitverlängerungen durch die Belegschaft vorgelegt. Welche Auswirkungen hatte dieses »Co- Management« auf den Tarifkampf? Ist dies nicht eine Einladung an die Konzernleitung, die »Verzichtsschraube« noch bewusster anzuziehen?

Na ja, der Verzicht auf die ursprüngliche Forderung und weitere Angebote an das Unternehmen sind nicht eigentlich von der IG Metall oder dem Betriebsrat ausgegangen, sondern entspringen der Dramaturgie und Dynamik der Verhandlungen. Der Betriebsratsvorsitzende hat bereits sehr früh die Losung »Jobs oder Mäuse« ausgegeben. Übersetzt ergibt sich daraus die schwachsinnige Position »Arbeit oder Geld«; oder anders gesagt: »Wer Arbeit hat, soll nicht auch noch Geld haben wollen.«
Viele Beschäftigte nehmen das als Doppelpassspiel zwischen Betriebsrat und Unternehmensleitung wahr. Die Tarifkommission wurde oft damit überrascht, was gerade gegen was »getauscht« worden war, z.B. Arbeitszeitkonten von ±400 Stunden für den Erhalt von Erholzeitpausen oder die Sicherung des Sonderurlaubs für Schwerbehinderte. Ob das Unternehmen die Verzichtsschraube selbst bewusst anziehen musste, kann bezweifelt werden, weil das selbstgesteckte Ziel der Einsparung von 1 Milliarde Euro »Arbeitskosten« in dieser Verhandlung erreicht wurde — wie bei Daimler, Karstadt, Siemens und anderen Unternehmen.

Die alte IG-Metall-Position, Lohnverzicht sichert keine Arbeitsplätze, gilt die noch?

Dass Lohnverzicht keine Arbeitsplätze sichert, ist ja nicht irgendeine IG-Metall-Position, sondern historische Erfahrung und ökonomische Realität. Diese Realität ist übrigens nicht aus der Welt zu schaffen. Dazu ein Beispiel: Die Lohnkosten in Ungarn betragen etwa ein Fünftel der hiesigen, sie machen aber in Deutschland nur 15% der gesamten Kosten aus. Viel gravierender ist, dass der (arme) ungarische Staat mit zehn Jahren Steuerfreiheit lockt und die EU die Verlagerung der Arbeitsplätze hoch subventioniert — alles mit unseren Steuergeldern übrigens.
Dennoch setzen die Unternehmen, so auch VW, massive Lohnkürzungen durch. Das Ergebnis wird ein kleiner Aufschub der Arbeitsplatzverlagerung sein sowie massive Lohndrückerei in Ungarn, um Deutschland gegenüber wieder konkurrenzfähiger und attraktiver zu werden, schließlich eine Zunahme von Armut und Arbeitslosigkeit in ganz Europa. Viele hatten gehofft, dass diese Spirale nach unten bei VW durchbrochen wird. Die Enttäuschung ist groß, weil es hier einen gewerkschaftlichen Organisationsgrad von mehr als 90% gibt. Aber der Enttäuschung geht immer eine (Selbst-)Täuschung voraus.

Die veröffentlichte Meinung ist sich angesichts der Absatz- und Profitkrise der Automobilunternehmen — insbesondere bei VW und Opel — einig: hier liegen gravierende Managementfehler vor. Sind Managementfehler tatsächlich ausschlaggebend? Würde ein neuer Vorstand wirklich Änderungen der Situation auslösen?

Natürlich gibt es vereinzelt gravierende Fehlentscheidungen. Hartz ist dafür bei Betriebsversammlungen im September minutenlang ausgepfiffen worden. Bei Erwähnung seines Namens bei den Warnstreiks wurde in Sprechchören sein Rausschmiss gefordert. Aber hinter dieser Kulisse geht es um die Gebrechen des kapitalistischen Systems, um die tödliche Wirkung des Konkurrenzprinzips.
Bei VW wurde jetzt mehr Mitbestimmung des Betriebsrats bei Investitionen und Produkten per Tarifvertrag vereinbart. Ist das nun die Erfüllung des Traums der Arbeiterbewegung, zieht jetzt Demokratie in den Betrieb ein? Wenn diese Mitbestimmung zur Optimierung der Kapitalverwertung des Unternehmens oder zur Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit eines Betriebsteils genutzt wird, wird Mitbestimmung mehr als je zuvor zum Instrument der Standortpolitik, zum Gegenteil von Solidarität und gewerkschaftlicher Bewusstseinsbildung. Managementfehler sind nicht das Entscheidende, sondern das Konkurrenzprinzip und die daraus abgeleitete Diktatur der Ökonomie.

Der linke Autoindustrieexperte Winfried Wolf beendet seine Analyse der Opelkrise mit den Worten: »Der Teufelskreis von Erpressung, Sozialabbau, verstärkter Arbeitshetze und Werkschließungen wird nur unterbrochen werden, wenn es zu einer gemeinsamen Gegenwehr — bei den Belegschaften von GM/Opel/Saab, VW und denjenigen von anderen Autoherstellern — kommt.« Die IG Metall erweckt derzeit nicht den Eindruck, eine Strategie zu erarbeiten, die in diese Richtung geht. Meinst du, dass es trotzdem richtig ist, entsprechend aufzuklären und wie kommt so etwas in den betrieblichen Diskussionen bei VW an?

Der Diskussionsprozess in der IG Metall ist ja im Gange. Dominiert wird er allerdings von in den sozialpartnerschaftlichen Korporatismus eingebundenen Arbeitsdirektoren, Betriebsratsfürsten und IG- Metall-Funktionären, die auf Ministerposten schielen oder Sozialattaché werden wollen.
Im Betrieb sieht die Diskussion anders aus. Und genau dort müssen wir auch ansetzen, einen anderen Weg kenne ich nicht. Die Erkenntnisse der Beschäftigten in Konfliktsituationen sind eindeutig: Wozu dient ein solches Unternehmen, wenn nicht gerade auch den Menschen, die darin arbeiten und alle Werte schaffen? Der Profit hat hinten an zu stehen. Das drückt sich auch in solchen Sprechchören aus wie: »Wir sind VW!« Wie können wir diese Diskussion gegenüber den sozialpartnerschaftlichen, korporatistischen Positionen zur Dominanz verhelfen? Was Besseres als Vernetzung und Aktion von unten fällt mir dazu nicht ein.

Es sieht so aus, als ob die derzeit laufende Großkampagne von Kapital und Regierung unter dem Motto »Die Arbeit ist teuer« in ihre finale Runde geht: nach dem Angriff auf die sog. Lohnnebenkosten, nach der Schaffung eines großen Niedriglohnsektors und dem Druck auf das gesamte Lohngefüge wird jetzt als dritter Angriffspunkt die rabiate Lohnsenkung in den vitalsten Großbetrieben gesucht, damit in deren Folge auch Tausende von Klein- und Mittelbetrieben folgen können. Was müssen die Gewerkschaften tun, um diesen Angriff doch noch zurückzuschlagen?

Wir sind meilenweit davon entfernt, den Generalangriff von Kapital und Kabinett mit einem Generalstreik zu beantworten. Meines Erachtens müssen wir als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter folgendes vorrangig tun:

  • In der zu intensivierenden Bildungsarbeit sind ökonomische und politische Zusammenhänge zu erarbeiten und zu vermitteln. Ohne dieses Wissen um Zusammenhänge fehlt uns die entscheidende Voraussetzung für Aktionen, die das System der Konkurrenz grundsätzlich kritisieren und bekämpfen. Damit bleiben wir in der Defensive.
  • Die internationale Tätigkeit der Gewerkschaften muss vervielfacht, verbreitert und vertieft werden. Trotz positiver Beschlüsse und verschiedener Absichtserklärungen gibt es hier fast keine Fortschritte. Verbreiten und Vertiefen heißt, dass betriebliche und örtliche Aktivisten selbstständig international agieren, innerhalb von Multis und auf die Branchen und die gesamte Produktionssphäre bezogen.

Ich weiß sehr gut um die materiellen Hindernisse und sprachlichen Hürden. Aber Gewerkschaften sind eben auch in dieser Situation nicht die internationalen Abteilungen, nicht die Vorstände oder der IBFG — Gewerkschaften sind wir alle, die wir Mitglieder und aktiv sind. Ohne autonome Gewerkschaftspraxis kriegen wir den notwendigen Schub und den Veränderungsdruck nicht hin.

Editorische Anmerkungen

Der Artikel  erschien in SoZ - Sozialistische Zeitung im Dezember 2004 und  ist eine Spiegelung von http://members.aol.com/soz9/0412081.htm

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