Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe

von
Max Beer
11/05

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I. PALÄSTINA Zur Kapitelübersicht

1. Soziale Zustände.

Als Nomadenhorden aus der nordarabischen und ostägyptischen Wüste fielen die Hebräer im 12. Jahrhundert v. Chr. in Kanaan ein. In blutsverwandte Sippen und Stämme gegliedert, waren sie unter ihren Führern herangezogen, um neue fruchtbare Gebiete zu erobern und ansässig zu werden. Leicht erregbar und trotzig, aber durch die Fährnisse des Wüstenlebens abgehärtet und durch die althergebrachte Stammeszucht zusammengehalten, brachen sie in langen Kämpfen den Widerstand der ihnen kulturell weit überlegenen Kanaaniten und ergriffen Besitz von ihrem Lande. Die siegreichen Barbaren teilten es durch Los unter ihre Stämme und diese unter ihre Familien. Sondereigentum an Grund und Boden war ihnen vorerst unbekannt; die Stämme betrachteten die verteilten Ländereien als Gemeinbesitz, und die Familien hielten ihre Erbteile für Stammesgut (4. Buch Mosis, 36. Kapitel). Einen besonderen Ausdruck für Eigentum gibt es im Hebräischen nicht. Diesem Begriffe am nächsten ist „nachiah" (Erbteil, heredium). Eigentümer heißt „Herr", hebräisch „baal", — ein allgemein semitisches Wort, das der Mann oder Erzeuger bedeutet. Teils infolge des ununterbrochenen Besitzes und der individuellen Bebauung und Nutznießung, teils infolge kanaanitischer Kultureinflüsse, gewöhnten sich die hebräischen Familien, ihren unbeweglichen Besitz als unbeschränkt zu betrachten und über ihn eigenmächtig zu verfügen. Durch Verkäufe und Verpfändungen wurde die alte wirtschaftliche Gleichheit im Laufe der Zeiten erschüttert und eine Klassenteilung der früheren einheitlichen Gesellschaft herbeigeführt.

Der oberste Gott der Hebräer, mit dem sie nach Kanaan zogen, war JHWH (Jahwe oder Jehowah), ein Gott der Wüste, der sengenden Hitze, des verzehrenden Feuers und der Gewitterstürme, ein Kriegsheld nach außen und der Beschützer des Stammeszusammenhalts nach innen, ein gerechter Gesetzgeber, der eine strenge, sittenreine Lebensführung fordert. Jahwe erschien den Hebräern als das Sinnbild der physikalischen Eigenschaften der Wüste, sowie der sozialen, wirtschaftlichen und moralischen Daseinsbedingungen tüchtiger .Nomadenhorden. Karg war das Opfer, das sie ihm darbrachten, etwas Mehl und ein Lamm. Was konnten denn Wüstennomaden anderes darbringen? Nüchtern und streng, wie ihr Leben, war der Gott, den sie anbeteten und fürchteten. Nach dem Ebenbilde ihrer physikalischen Umwelt und ihrer gesellschaftlichen Organisation schufen die Hebräer sich ihren Gott.

Ändern Charakters war Baal, der Gott Kanaans: er war, gleich Dionysos oder Bacchus der Hellenen, das religiöse Sinnbild der schwellenden Triebkraft der Natur, der Gott eines Landes, das von Milch und Honig, von Öl und Wein floß. Den Menschen, Tieren und Pflanzen gab er Fruchtbarkeit; er stellte das Mysterium der Zeugung dar; seine geweihten Anhöhen, seine Altäre wurden zu lärmenden Gelagestätten, seine Opfer zu üppigen Festen, seine heiligen Haine zu schattigen Plätzen für die brünstigen Umarmungen der beiden Geschlechter. In den Augen der Propheten war der Baaldienst eitel Buhlerei und Hurerei. Kulturell war Kanaan längst über die Stufe der Stammesorganisation hinaus, — zersplittert in Stadtgebiete, wo Handel und Gewerbe betrieben wurde und wo Sondereigentum an allen Dingen bestand.

Die Hebräer (oder Israeliten), in die neue Umgebung versetzt, machten den Ackerbau zur Grundlage ihrer Gesellschaft und unterlagen bald den kanaanitischen Kultureinflüssen. Das religiöse Leben der Nomaden konnte den neuen landwirtschaftlichen Lebensbedürfnissen nicht genügen: Jahwe konnte die Flur, den Weinberg, den Ölbaum nicht befruchten, — die Fruchtbarkeit war keine seiner hervor stechenden Eigenschaften, er war ein Wüstengott — und die entstehende neue gesellschaftliche Schichtung war mit den Geboten Jahwes nicht in Einklang zu bringen. Das Leben erwies sich stärker als die Idee: ein Abfall von Jahwe bahnte sich an, entweder indem man ihm Eigenschaften beilegte, die Baal gehörten und den Jahwedienst nach dem Baalkult umformte, oder indem die Israeliten ihren alten hebräischen Gott verließen und Baal anhingen. Seit dem 9. Jahrhundert durchzitterte eine religiöse Krise das Volk, die, je nach den Umständen und den auftretenden Persönlichkeiten, eine heftigere oder mildere Form annahm; zwischen den Anhängern Jahwes und Baals entstand ein feindlicher Gegensatz, in welchem die Propheten, gekleidet als Wüstenbeduinen, sich an die Spitze der Anhänger Jahwes stellten, vorerst Elia und Elisa, bei denen noch das rein traditionell-religiöse Moment überwiegt, dann jene gewaltigen Prediger, wie Amos, Jesaja, Jeremia, die den Klassenkampf der Enterbten führen, die soziale Gerechtigkeit schlechthin fordern und in Jahwe den Weltgott, den Richter der Welt erblicken. Denn die wirtschaftliche Entwicklung Israels und die hieraus entstandene Klassenteilung der Gesellschaft verschärften die Krise, in deren Verlauf der Jahwebegriff eine Bedeutung erhielt, die, wie wir sehen werden, eine Revolution auf religiösem Gebiet in sich schloß. Die Lockerung und Umwälzung der primitiven Zustände wurde gefördert durch die zahlreichen Kriege, die teils zur Verteidigung, teils zur Ausdehnung des Landes unternommen wurden. Die Kriege und deren Wechselfälle weckten (im 10. Jahrhundert v. Chr.) bei den ackerbauenden Stämmen den Wunsch, eine Zentralregierung zu bilden, einen König zu haben, der ihre Grenzen vor feindlichen Angriffen schützen und ihre Interessen dem Auslande gegenüber wahrnehmen könnte. Die neue Institution schien sich zu bewähren. Hatten die Stämme Israels bisher einen Verzweiflungskampf um ihre Existenz zu führen, so gelang es ihnen bald, eine achtunggebietende Stellung einzunehmen. Die Nachbarn wagten es nicht mehr, Israel anzugreifen und die Ruhe schien von längerer Dauer zu sein (2. Sam. 7, i; i. Könige 5, 4).

Die Beute an Edelmetallen war bedeutend; der Ackerbau nahm einen Aufschwung, und da die Israeliten nach Niederwerfung der Kanaaniten in den Besitz der Karawanenstraßen und zeitweise der Meeresküste gelangt waren, so knüpften sie Handelsbeziehungen mit den seefahrenden und gewerbetätigen Phöniziern an. Der Handel fand im Königtum einen mächtigen Förderer. Die blutigen Kriege mit Edom im 9. und 8. Jahrhundert waren Handelskriege; Elat (Eziongeber), die Hafenstadt am Roten Meere, mußte erobert werden, um Gold aus Ophir und Kolonialwaren aus Indien zu bringen. Die Könige Josaphat, Joram, Amazia, Usija kämpften um den Meerbusen von Akaba, und als der syrische König Rezin die Hafenstadt Elat unterworfen hatte, „stieß er die Juden aus" (2. Könige 16, 6). Im Norden war es der Stamm Sebulon, „der an der Anfurt des Meeres wohnte, an der Anfurt der Schiffe, und an Sidon reichte" (i. Mosis 49, 13). Israel erklomm die Kulturstufe Kanaans in Landwirtschaft und Handel und erlag demgemäß der Baalreligion und tanzte um das goldene Kalb.

2. Klassengegensätze und Prophetie.

Die Zeiten, in denen Israel unter dem Weinstock und Feigenbaum in innerer Eintracht und Freiheit saß und ein jeder tat, was ihm recht dünkte, schwanden unwiederbringlich dahin. Die wirtschaftliche Ungleichheit wuchs und mit ihr der Konflikt der gegensätzlichen Klassen: der Armen und der Reichen, der Herrschenden und der Beherrschten, der Bedrücker und der Bedrückten. Die Besitzenden als Klasse hingen — ihren Lebensbedürfnissen und ihrem ganzen Seelenzustande nach — Baal an, dem Gott der Fruchtbarkeit, des Genusses, des Gewinns; die Besitzlosen klammerten sich an Jahwe, den sie als den Gott des festgefügten Stammeszusammenhalts, der Gemeinschaftlichkeit, der Güte und Barmherzigkeit zu betrachten gewöhnt waren. Wie gut war Israel, als er, in Stämme gegliedert, in der Wüste lagerte! Wie schön seine Zelte! Er liebte Jahwe, und Jahwe liebte ihn; — den Besitzlosen erschien die Nomadenzeit und die alte Stammesorganisation im Lichte des goldenen Zeitalters. Wie milde und lieblich sind die Töne, die die sonst so strengen und unerbittlichen Propheten anzuschlagen wissen, wenn sie die Jugendzeit Israels herauf beschwören!

Wie man sieht, war der Konflikt zwischen Jahwe und Baal ein durch die Änderung des Wirtschaftslebens hervorgerufener Klassenkampf, der sich unter religiösen Formen abspielte.

An Jahwe und seine Propheten wandten sich die Besitzlosen in ihrer Not. „Dein Knecht, mein Mann", klagt ein Weib dem Propheten Elisa, „ist gestorben; so du weißt, fürchtete er Jahwe. Nun kommt der Schuldherr und will meine beiden Kinder zu seinen Sklaven nehmen" (2. Könige 4, i). Das semitische Kapital in Kanaan trat mit derselben Härte und unter derselben Form auf, wie das arische Kapital in Hellas und Rom: als Wucher- und Kaufmannskapital. Mit welchem Unwillen dem Wucher in Israel begegnet wurde, zeigt der hebräische Ausdruck für Wucher: „neschech", der wörtlich „beißen" bedeutet. Die zunehmende Geldwirtschaft und die Ausbildung des Sondereigentums zersetzten die alte Wirtschaftsordnung und die alten Sitten. Üppigkeit und Luxus in den Kreisen der Begüterten, Dürftigkeit, Bedrük-kung und Schuldknechtschaft in den Kreisen der Enterbten. Das unvermeidliche Ergebnis war ein Klassengegensatz, von dem man — soweit geschichtliche Zeugnisse vorliegen — zwar sagen darf, daß er zu keinen Aufständen und Metzeleien führte, wie sie in Hellas und Rom das soziale Leben in seinen Grundfesten erschütterten, dafür aber erzeugte er einen einzigartigen sozialreligiösen Gärungsprozeß, dessen Wortführer die Propheten waren. Diese sittlichen Heroen, die aus ihren Feuerseelen nie verlöschende Gluten in den Kampf um die soziale Gerechtigkeit warfen, mußten nach und nach in der Sozialethik das wichtigste Element der Religion erblicken. Sobald dieser religiöse Umformungsprozeß einigermaßen vollendet war, hörte Jahwe auf, ein Stammes- und Lokalgott zu sein und wurde zum allgemeinen Gott der Gerechtigkeit. So erhoben die Propheten den primitiv-gesellschaftlichen Götzen der hebräischen Nomadenstämme zum Universalgott der Wahrheit und der Menschenliebe. Sie wurden im Laufe ihres Wirkens noch gekräftigt und wuchsen aus nationalen Führern zur Höhe weltpolitischer Seher empor infolge der geographisch-politischen Lage Palästinas, die sie in den Wirbel der Weltpolitik hineinriß. Palästina bildete seiner Lage wie seiner Bodengestaltung nach den Brückenkopf zwischen Vorderasien und Ägypten, — ein Verbindungsgebiet zwischen den damals miteinander rivalisierenden Weltreichen und war deshalb Invasionen ausgesetzt, dafür aber wurde der Geist seiner hebräischen Bewohner wachgehalten und für weltpolitische Vorgänge geschärft. Ihre geistig hochstehenden Männer, die Propheten, ließen ihren Blick über die großen Imperien schweifen, die gegeneinander um die Herrschaft rangen; sie wogen den Wert der Dinge und Menschen, der Reiche und Länder auf der Wagschale der sozialen Gerechtigkeit; Assyrien, Baby-lonien, Ägypten, Persien wurden zu Werkzeugen in der Hand Jahwes, und sein Wille, sein Plan durchdrang das Universum. Der Sturm raste durch die Weltgeschichte und brach alles Hohe und Ragende, fegte die Stolzen und Hoffärtigen hinweg, und im Zusammenbruch aller irdischen Macht und menschlichen Gewalt offenbarte sich, majestätisch und unvergänglich, eine moralische Weltordnung, in deren Mitte Israel stand. Die Propheten wurden zu Verkündern kommender Erschütterungen, des kommenden Unheils für Israel und Juda und deren endgültiger Läuterung sowie der Erlösung der Menschheit — der Erlösung von Krieg und Wirrnissen, von inneren und äußeren Kämpfen, durch den Sieg des Geistes, durch die Herrschaft von Recht und Gerechtigkeit, die Jahwe durch Vermittlung der Juden über die ganze Menschheit aufrichten wird. Elementar Gewaltiges war das Lebenselement dieser Männer, und es muß eine körperlich und geistig starke Rasse gewesen sein, aus der so machtvolle Persönlichkeiten entsprangen. Mit dem rein lokalen Kampfe für die Bedrückten begannen sie, und mit der sittlichen Weltmission schlössen sie ihre unvergängliche Laufbahn ab.

3. Um die soziale Gerechtigkeit.

Amos, der Hirt aus Tokea, erhebt seine Stimme gegen sämtliche Völker Syriens und Palästinas und kündet ihnen Unheil wegen ihrer Sünden: „Verkündiget in den Palästen zu Asdod und in den Palästen im Lande Ägypten und sprechet: Sammelt euch auf die Berge Samaria und sehet die Wirrnisse in seiner Mitte. Sie achten nicht das Recht, sammeln Schätze durch Frevel und Raub" (3, 9—10). Sie glauben wohl, durch Schlachtopfer und Gebete Jahwes Willen erfüllen zu können. Aber Jahwe sagt: „Ich bin euren Festtagen gram und verachte sie; ich mag nicht riechen in eure Versammlung. Ich habe kein Gefallen an euren Brandopfern, Speiseopfern und Dankopfern. Hinweg mit dem Lärm eurer Gesänge, denn ich mag dein Psalterspiel nicht anhören. Sondern es möge das Recht sprudeln wie Wasser, und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom. Habt ihr vom Hause Israel mir denn in der Wüste die vierzig Jahre lang Schlachtopfer und Speiseopfer gebracht?" (5, 2i—25). Nicht Opfer und Gebete, sondern Recht und Gerechtigkeit verlangt Jahwe. Die Richter sollen nicht zugunsten der Reichen entscheiden. Die Vornehmen und Besitzenden sollen die Armen und Notleidenden nicht vergewaltigen; die Getreidehändler müssen aufhören, die Hungrigen zu betrügen. Amos geißelt die Fürsten und die Machthaber, die Geldprotzen und die Emporkömmlinge, die in Palästen aus Quadersteinen wohnen, auf luxuriösen Lagerstätten faulenzen, auf Betten aus Elfenbein sich wälzen, die besten Lämmer und die Mastkälber verspeisen, „und spielen auf der Harfe und dichten Lieder, trinken Wein aus Schalen und salben sich mit Balsam, aber kümmern sich nicht um die Übelstände des Volkes" (6, 4—6). Die Strafe wird nicht ausbleiben: „Jerobeam wird durch das Schwert sterben und Israel wird aus seinem Lande gefangen weggeführt werden" (7,11). Darum „suchet das Gute und nicht das Böse, auf daß ihr leben möget. Hasset das Böse und liebet das Gute; bestellet das Recht im Tor, so wird Jahwe sich der Überreste des Volkes erbarmen" (5, 14-15).

Hosea mahnt die Kinder Israel, daß Jahwe Ursache hat, mit ihnen unzufrieden zu sein, „denn es ist keine Treue, keine Liebe, keine Gottesfurcht im Lande, sondern Lästern und Lügen, Morden und Rauben und Ehebrechen hat überhand genommen und eine Blutschuld folgt auf die andere" (4, i—2). Israel ist auf seinen Reichtum stolz geworden. „Der Kaufmann hat eine falsche Waage in seiner Hand und betrügt gerne. Denn Ephraim spricht: Ich bin reich und habe Wohlstand erlangt" (12, 8—9). Und auch in der äußeren Politik haben sie Jahwe verlassen. Wie eine verirrte Taube läuft Israel hin und her und schließt sich abwechselnd Assyrien und Ägypten an, um vor feindlichen Überfällen Schutz zu suchen. Deshalb leidet das Land und das Volk geht zugrunde. Wie anders war Israel in seiner Jugendzeit, als es noch in der Wüste lebte und vom Baalsdienst nichts wußte (n, i—2). Jetzt aber pflügt es Böses, erntet Übeltat und ißt Lügenfrüchte (10, 13). Deshalb wird es der Züchtigung nicht entgehen; das Land wird zerstört und Israel gefangengenommen werden. „Darum säet Gerechtigkeit und erntet Liebe, und pflügt anders (10, 12)... übet Barmherzigkeit und Recht, hoffet stets auf Jahwe" (12, 7). Dann wird Jahwe „ihren Abfall wieder heilen und sie lieben"... und einen Bund mit ihnen schließen und alle Kriegsgeräte und den Krieg beseitigen, denn der Bund wird beruhen auf Recht und Gerechtigkeit, auf Liebe und Barmherzigkeit (2, 18—19).

Michas heiliger Zorn richtet sich gegen die Großen und Reichen des Landes: „Höret doch, ihr Häupter im Hause Jakob und ihr Fürsten im Hause Israel, die ihr das Recht verschmähet und alles Aufrechte beuget. Die ihr Zion mit Blut bauet und Jerusalem mit Unrecht. Ihre Richter urteilen um Geschenke, ihre Priester lehren um Lohn und ihre Propheten wahrsagen um Geld... Darum wird Zion wie ein Berg des Tempels zu einer öden Höhe werden (3, 9—12). Mißtrauen, Zwietracht, Kampf aller gegen alle zersetzen das Volk (7, 4—6). Durch Schlachtopfer ist Jahwe nicht zu versöhnen. „Meinst du, Jahwe habe Gefallen an viel tausend Widdern? Oder am Öl, wenn es gleich unzählige Ströme wären ? ...

Es ist dir, o Mensch, gesagt, was gut ist und was Jahwe von dir fordert: Gottes Wort halten, Liebe üben und vor Jahwe in Demut wandeln" (6, 7—8). Der sprachgewaltige Jesaja, dessen mächtiger Widerhall Micha ist, unterwirft das ganze soziale Leben Palästinas einer rücksichtslosen Prüfung und findet nichts Gutes an ihm. Recht und Gerechtigkeit sind verschwunden, die Sittenreinheit ist durch Luxus, verführerische Modekleidung, ungehemmte Genußsucht und Jagd nach Reichtum und Ruhm verdrängt worden. Die Armen, die Witwen und Waisen werden bedrückt und ausgebeutet, die Kleinbesitzer werden enteignet, Großgrundbesitz entsteht: „Wehe denen, die Haus an Haus an sich ziehen, einen Acker zum ändern rücken, bis kein Raum mehr ist, so daß sie allein das Land besitzen" (5, 8). Gegenüber den juristischen Versuchen, diesen Zustand gesetzlich zu sanktionieren, ruft der Prophet aus: „Wehe den Schriftgelehrten, die ungerechte Gesetze machen und unrechtes Urteil niederschreiben, um das Recht der Besitzlosen zu beugen und das der Enterbten in meinem Volke zu vergewaltigen, um die Witwen zum Raub und die Waisen zur Beute der Reichen zu machen" (10, i—2). Deshalb wendet Jahwe sein Angesicht ab von den Gebeten und Schlachtopfern Israels: „Bringt mir kein Speisopfer mehr; das Räucherwerk ist mir ein Greuel; der Neumonde und Sabbate, da ihr euch versammelt, bin ich überdrüssig. Und wenn ihr eure Hände ausbreitet, verberge ich doch mein Angesicht vor euch; und ob ihr schon viel betet, höre ich euch doch nicht, denn eure Hände sind voll Blut" (i, 13—15). Das Urteil Jahwes wird verhängt über alles Hoffärtige und Hohe, daß es erniedrigt werde; über die Zedern im Libanon, über alle Eichen in Basan; über die Kauffahrer zur See und über alle Luxuswerke (2, 11—16). Jahwe „wird die Schädel der Töchter Zions kahl scheren und ihr Geschmeide abreißen: die Armspangen, die Kettlein, die Hauben, die Ohrgehänge, die Haarbänder, die Fingerringe, die Prachtgürtel, die Mäntel, die Spiegel, die Riechfläschchen .. . Deine Truppen werden durch das Schwert fallen, deine Krieger im Streit" (3, 17—24). Und Israel wird in Gefangenschaft ab-

geführt werden, seine Herrschenden werden verhungern, seine Lebemänner verdursten, seine Hervorragenden gedemütigt wandeln (5, 13—15). Dann „werden die Enterbten wieder Freude haben an Jahwe und die Armen unter den Menschen werden fröhlich sein im Heiligtum Israels, wenn die Tyrannen ein Ende haben und es mit den Hartherzigen aus sein wird" (29, 19—20). Aber auch ganz Israel ist noch zu retten, wenn es zu Jahwe zurückkehrt und seine Gebote hält: „Waschet, reiniget euch, tut euer böses Wesen von meinen Augen, lasset ab vom Bösen. Lernet Gutes tun, trachtet nach Recht, helfet den Unterdrückten, schaffet den Waisen Gerechtigkeit und helfet der Witwen Sache" (i, 13—17).

Jeremia (um das Jahr 600 v. Chr.), als Mensch und Denker wahrscheinlich der größte unter den Propheten, erinnert im Namen Jahwes das Haus Jakob und die Geschlechter Israels an die Wüstenzeit: „Ich denke an die Zeit, da du voll Tugend und Schönheit eine liebliche Braut warst, als du mir folgtest in der Wüste, im Lande, wo man nicht säet. Israel war damals Jahwes eigen und schützte ihn gegen alle Feinde... Ich brachte euch in ein schönes Land, damit ihr seine Früchte und seine Güter esset. Und da ihr hineinkamt, verunreinigt ihr mein Erbe durch den Baaldienst (2, 2—7), durch Raub, Bedrückung, Zwietracht und Falschheit." Der Prophet weissagt in tiefbewegten, aber unerbittlichen Worten die Wegführung Judas und die Zerstörung Jerusalems. Das ist die Bürde seiner Visionen und er versucht, Fürsprecher Judas bei Jahwe zu sein; der Mensch ist in seinen Handlungen nicht frei; er hat keine freie Wahl: „Ich weiß, o Jahwe, des Menschen Tun steht nicht in seiner Gewalt, und es steht in nie-mands Macht, wie er wandeln oder seinen Weg richten soll" (10, 23). Aber die soziale Gerechtigkeit ist der Sinn des Völkerlebens; die moralische Weltordnung muß sich durchsetzen. Die Juden müssen für ihre Abkehr von Jahwe leiden und für ihre historische Mission reif werden.

Zephania, ein älterer Zeitgenosse Jeremias, faßt in wenigen Kapiteln den ganzen Kampf zusammen und verkündet das Herannahen von Jahwes Tag, — das Herannahen des Strafgerichts über Juda. „Ein lautes Geschrei wird sich (in Jerusalem) erheben vom Fischtor an und ein Geheul von dem ändern Tor, und ein großer Jammer an den Hügeln. Heulet, die ihr an der Mühle wohnet, denn das ganze Krämervolk ist dahin und alle, die Gold sammeln, sind ausgerottet... Es wird sie ihr Silber und Gold nicht erretten können am Tage des Zornes Jahwes, sondern das ganze Land soll durch das Feuer seines Eifers verzehrt werden" (i, 10—11, 18).

Mit geringerem prophetischen Schwung, aber mit großer Gelehrsamkeit und bohrender Gründlichkeit behandelt Hesekiel im babylonischen Exil (um das Jahr 560 v. Chr.) das Problem. „Wehe den Hirten, die sich selbst hüten, anstatt die Herde zu weiden. Ihr fresset das Fette und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. Der Schwachen wartet ihr nicht und die Kranken heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht und das Verlorene sucht ihr nicht, sondern hart und herzlos herrscht ihr über sie... Aber auch zu euch, meine Herde, spricht Jahwe: Ich will richten zwischen Widdern und Böcken, zwischen fetten und mageren Schafen. Darum, daß ihr tretet mit den Füßen und die Schwachen von euch stoßt und verjagt mit euren Hörnern, will ich meiner Herde helfen, damit sie nicht mehr zum Raube werde" (34, 2—22). Jeder ist für seine Handlungen verantwortlich, es steht in jedermanns Willen, Gutes oder Böses zu tun (33, 11—19). Darum soll sich Israel bekehren und Jahwes Gebote erfüllen.

Verwoben mit der Strafpredigt und Unheilsverkündung ist bei allen Propheten eine Heilsbotschaft an Israel und die felsenfeste Überzeugung von der endgültigen Erlösung der Menschheit. Im zweiten Jesaja (Kapitel 40 bis Ende) erreicht die Prophetie ihren Gipfelpunkt (um das Jahr 540 v. Chr.). Die Juden werden zum Missionsvolke der sozialen Gerechtigkeit: „Der Geist Jahwes ist über mich, er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, den Enterbten die frohe Botschaft zu künden, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu predigen den Gefangenen die

Befreiung, den Gebundenen die Erlösung" (61, i). Dieses Volk, wenn es die Sendung auf sich nimmt, wird zum Mittelpunkte der Menschheit. Lange verachtet und für unwert gehalten, wird es zur Zierde der Welt. „Mache dich auf, werde Licht; denn dein Licht kommt und die Herrlichkeit Jahwes geht auf über dich. Denn siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker, aber über dich bricht die Herrlichkeit Jahwes hervor. Und die Heiden werden in deinem Lichte wandeln und die Könige im Glanz, der über dich aufgeht... Deine Vorsteher sollen den Frieden lehren und deine Pfleger Gerechtigkeit predigen... Dein Volk soll aus lauter Gerechten bestehen und das Erdreich ewiglich besitzen" (60, i—21). Sein Zeitgenosse Hesekiel entwarf ein Bild eines jüdischen Gottesstaates, in dem Menschen- und Besitzgleichheit zur Hauptbedingung gemacht wird. „Und ihr sollt das Land gleich austeilen, einem wie dem anderen... Und wenn ihr das Los werfet, das Land unter euch zu teilen, so sollt ihr die Fremdlinge, die unter euch wohnen, halten gleichwie die Einheimischen unter den Kindern Israel, und sollen auch ihren Teil am Lande haben, ein jeglicher in dem Stamme, unter dem er wohnt" (47, 14—22).

Mit dem Ideal von Recht und Gerechtigkeit war das des ewigen Friedens eng verbunden: „Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen und der Leopard bei den Böcken liegen; ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben ... Die Schwerter werden zu Pflugscharen, die Speere zu Rebmessern umgeschmiedet, denn es wird kein Volk wider das andere ein Schwert aufheben und werden hinfort nicht mehr kriegen lernen" (Jes. 2,4; Micha 4,3; Hosea 2,18). Sacharia sieht die Zeit kommen, in welcher Jahwe „die Kriegswagen aus Ephraim, die Schlachtrosse aus Jerusalem und die Kriegspfeile abschaffen wird. Ewigen Frieden wird er unter allen Völkern verkünden. Seine Herrschaft wird sich über alle Meere bis an der Welt Ende ausdehnen" (9, 10). Nicht durch Heer noch durch Gewalt, sondern durch den Geist wird das Gottesreich gegründet (4, 6). Und einer der letzten Propheten, Maleachi, stellt die Menschheitsfrage: "Haben wir nicht alle einen Vater? Hat uns nicht ein Gott geschaffen? Warum verachten wir denn einer den ändern?" (2, 9).

4. Reformversuche.

Im letzten Viertel des 7. Jahrhunderts (621 v.Chr.) wurde der Versuch gemacht, eine Reformgesetzgebung zu schaffen, um den Mißständen einigermaßen abzuhelfen. Diese Reformgesetze sind im 5. und 3. Buche Mosis niedergelegt. Sie enthalten im wesentlichen die zwei Hauptforderungen der Besitzlosen des ganzen Altertums (auch des hellenischen und römischen): Schuldenkassierung und Neuverteilung des Grund und Bodens. Sie proklamieren, daß das Land Jahwe gehört, das heißt, daß der Grund und Boden Gemeinbesitz des Gesamtvolkes ist.'„Darum sollt ihr das Land nicht auf ewig (als Eigentum) verkaufen." Alle fünfzig Jahre erfolgt eine Rückkehr zur Freiheit und Gleichheit: „Ihr sollt das fünfzigste Jahr heiligen und es ein Freiheitsjahr heißen; da soll ein jeder wieder zu seinem Erbe und zu seinem Geschlecht zurückkehren" (3. Mosis 25, 10, 23). Die Schuldknechtschaft ist inzwischen zu mildern: „Wenn dein Bruder verarmet und verkauft sich dir, so sollst du ihn nicht wie einen Leibeigenen behandeln, sondern wie einen Tagelöhner und Gast und bis zum Jobeljahr soll er bei dir dienen. Dann soll er frei abgehen, er und seine Kinder, und soll zurückkehren zu seinem Geschlecht und zu seiner Väter Habe" (3. Mosis, 25. Kapitel). Jede sieben Jahre soll ein Erlaßjahr eintreten, an dem die Schulden erlassen werden. „Wenn einer seinem Nächsten etwas geliehen hat, der soll es nicht einfordern; denn es heißt ein Erlaßjahr Jahwes. Es soll kein Bettler unter euch sein... Wenn irgendeiner deiner Brüder arm wird, so sollst du dein Herz nicht verhärten, noch deine Hand zuhalten gegen deinen armen Bruder . .., und sollst nicht in deinem Herzen sprechen: Es nahet bald das Erlaßjahr (und mein Geld wird verloren sein); du sollst deine Hand auf tun deinem Bruder, der bedrängt und arm ist in deinem Lande.

Wenn sich dein Bruder, ein Hebräer oder Hebräerin, dir verkauft, so soll er dir sechs Jahre dienen, im siebenten Jahr soll er frei werden" (5. Mosis, 15. Kapitel). Das Pfandrecht wird beschränkt. „Wenn du deinem Nächsten Geld leihest, so sollst du nicht in sein Haus gehen und ihm ein Pfand nehmen, sondern du sollst draußen stehen und er, dem du leihest, soll sein Pfand zu dir herausbringen. Ist er aber ein Dürftiger, so sollst du ihm sein Pfand zurückgeben, wenn die Sonne untergeht, damit er in seinem Kleide schlafe" (5. Mosis 24, 10—13). Witwen und Waisen dürfen überhaupt nicht gepfändet werden. Der Arbeitslohn soll täglich bezahlt werden (24, 14—15). Charakteristisch für die noch stark wirkenden Überlieferungen des Gemeinbesitzes ist die Erlaubnis, auf dem Acker des Nächsten Ähren mit der Hand abzureißen (23, 25), sowie die Bestimmungen über die vergessene Garbe, die Nachlese und die Zurücklassung eines Winkels der Ernte für die Besitzlosen.

Es liegen jedoch Zeugnisse vor, aus denen hervorgeht, daß die Sozialreformgesetze nicht zur vollen Anwendung kamen. Die Bestimmung über das Jubeljahr trat nie in Kraft, und das Gesetz über das Erlaßjahr wurde beim Aufschwung des Handels in der nachexilischen Periode aufgehoben. Der Prophet Jeremia klagt über die Mißachtung dieser Gesetze, und in Nehemia (5. Kapitel) hören wir wieder das Volk Beschwerde führen über Auswucherung durch die eigenen Volksgenossen, über Schuldknechtschaft und Verpfändung der Äcker und Weinberge (um das Jahr 500 v. Chr.). Der Talmud, der in seinem juridischen Teile eine Kodifizierung des auf dem Boden des Privateigentums und Handelsverkehrs entstandenen Rechts ist, hat uns auch die Formel überliefert, die bei der Außerkraftsetzung des Erlaßgesetzes vor Gericht niedergeschrieben wurde. Der Grund zu dieser Aufhebung war rein wirtschaftlicher Natur. Der Talmud (Mischnah Schebiit 10, 3, Gittin 4, 3) sagt hierüber: „Wenn das Erlaßgesetz aufrechterhalten worden wäre, hätte man die Türen vor den Borgern verschlossen." Er meint ferner, da bei der Bestimmung über das Erlaßjahr auch geboten wurde, „keinen bösen Gedanken im Herzen aufsteigen zu lassen, um etwa wegen der Nähe des Erlaßjahres dem Nächsten die Hilfe zu versagen", und ein solcher Gedanke doch nicht abzuwehren war, so hätten die Rabbiner beschlossen, das ganze Gesetz außer Kraft zu setzen. Mit anderen Worten heißt dies, daß die wirtschaftliche Entwicklung sich stärker erwies als die Sozialgesetzgebung.

Von der ganzen Sozialgesetzgebung blieben nur die ethischen Bestimmungen, Barmherzigkeit gegenüber den Armen zu üben, sowie ein umfassendes Armenrecht.

Die gemeinwirtschaftlichen Überlieferungen lebten jedoch bei den unteren Klassen weiter fort. Noch im Zeitalter Jesu finden wir folgenden merkwürdigen Ausspruch über die unter den Juden vorherrschend gewesenen Strömungen in bezug auf Eigentum (Pirke Aboth, V, 13): „Es gibt vier Arten unter den Menschen: eine sagt: Was mein ist mein und was dein ist dein, — das ist die Art der Mittelklasse (der Bourgeoisie) oder wie manche sagen: Sodoms; eine andere sagt: was mein ist dein und was dein ist mein, — das ist die Art des gemeinen Volkes; eine andere sagt: was mein ist dein und was dein ist auch dein, — das ist die Art der Frommen; wieder andere sagen: was mein ist mein und was dein, ist auch mein, — das ist die Art der Bösen." Diese Mitteilung über die vier Menschenkategorien, die sich damals in Palästina befanden, ist äußerst lehrreich. Wir sehen die Bourgeoisie an der Spitze mit ihren strengen Eigentumsbegriffen; der Überlieferer dieses Ausspruchs bemerkt noch bissig, daß dies auch die Art Sodoms sei. Sodann kommen die Kommunisten, die weder Mein noch Dein kennen; sie werden einfach als das gemeine Volk, als 'am ha-arez bezeichnet. Weiter kommen die Frommen, die auf alles Eigentum verzichten, also der apostolischen Armut anhängen: der „paupertas evangelica", die im Urchristentum und im 12., 13. und 14. Jahrhundert eine so große geschichtliche Bedeutung erlangte. Die vierte Kategorie bedarf keiner Erklärung: es sind die Ausbeuter, Diebe und Mörder.

5. Die jüdischen Kommunisten: die Essäer.

Es war nicht nur das einfache Volk, das keinen Sinn für die Privatwirtschaft hatte. Einige tausend der edelsten Männer unter den Juden Palästinas machten den Versuch, den Kommunismus ins praktische Leben einzuführen. Das waren die Essäer (die Gerechten), die schon im zweiten Jahrhundert vor Christus auftraten und als eine besondere Sekte galten. Sie werden von allen zeitgenössischen Schriftstellern, die sich mit ihnen beschäftigen, mit Hochschätzung und Bewunderung erwähnt. Die jüdischen Intellektuellen, wie Philo (1) und Josephus (2), die mit der griechischen Philosophie, wie überhaupt mit dem geistigen Leben des Römischen Reiches vertraut waren, sprechen von der Gemeinwirtschaft als dem Inbegriff der Tugend. Josephus hält Kain, den Brudermörder, für den Begründer des Sondereigentums an Grund und Boden (Jüdische Altertümer I, Kap. 2). Kain war auch merkwürdigerweise der erste, der eine Stadt gründete. Mit innerer Befriedigung erzählt Philo: In Palästina wohnen an die 4000 tugendhafte Männer, Essäer genannt; sie leben in den Dörfern und vermeiden die Städte wegen der unter Städtebewohnern gewöhnlichen Zügellosigkeit. Manche betreiben Landwirtschaft, andere gehen friedlichen Künsten nach und nützen so sich und ihren Nächsten. Dabei sammeln sie weder Silber noch Gold, erwerben auch keine Ländereien, um sich große Einkünfte zu verschaffen, sondern sie bemühen sich bloß um die notwendigen Bedürfnisse des Lebens. So sind sie es allein fast unter allen Menschen, die kein Eigentum besitzen, nicht etwa aus Mißgunst des Glücks, sondern weil sie nicht nach Reichtum streben, und doch sind sie in Wahrheit die Reichsten, da ihnen Bedürfnislosigkeit und Zufriedenheit für Reichtum gilt. Künstler zur Anfertigung von Pfeilen, Wurfspießen, Schwertern, Helmen, Brustharnischen und Schilden wirst du bei ihnen nicht finden, auch keine Waffenschmiede, keinen, der sich mit dem Bau von Kriegsmaschinen beschäftigen würde, oder überhaupt mit etwas, das zum Kriege gehört. Handel, Schankwirtschaft, Seewesen ist ihnen nicht im Traume eingefallen, denn sie wollen nichts von alledem wissen, was zur Habsucht Veranlassung gibt, Sklaven gibt es unter ihnen auch nicht einen. Alle sind frei und arbeiten füreinander. Herrschen und Regieren verwerfen sie nicht nur, weil dies ungerechterweise die Gleichheit verletzt, sondern auch weil dies gottloserweise eine Einrichtung der Natur aufhebt (3), welche alle wie eine Mutter als wahre und leibliche Brüder erzeugt und ernährt, eine Verwandtschaft, die die erfolgreiche Hinterlist und Habsucht erschüttert und statt Vertrautheit Entfremdung, statt Freundschaft Haß bewirkt hat. Die Essäer werden unterwiesen in den Grundsätzen der Frömmigkeit, Heiligkeit und Gerechtigkeit, in der Verwaltung des Haus- und Gemeinwesens, in der Kenntnis dessen, was gut und böse ist, und man bedient sich hierbei als den drei sittlichen Begriffen oder Grundsätzen: Liebe zu Gott, zur Tugend und zu den Menschen. Als Äußerungen der Menschenliebe nennen sie Wohlwollen, Billigkeit und die über alles Lob erhabene Gütergemeinschaft, worüber einiges zu sagen ist:

Vorerst hat keiner ein eigenes Haus, was nicht auch allen gehört. Schon abgesehen davon, daß sie gesellschaftsweise zusammen wohnen, steht jedes Haus auch den aus der Ferne kommenden Genossen offen. Dann gehören auch die Magazine und die in denselben enthaltenen Vorräte allen gleichmäßig an, auch die Kleidungsstücke sind gemeinschaftlich, ebenso die Speisen für diejenigen, die nicht gemeinschaftliche Mahlzeiten halten. Und überhaupt könnte man das gemeinschaftliche Wohnen, Leben und Speisen bei keinen anderen Menschen so vollkommen zur Ausführung gebracht finden, wie bei ihnen. Denn, was sie den Tag über verdienen, das bewahren sie nicht für sich, sondern bringen es zusammen und bieten es zur gemeinschaftlichen Benutzung für diejenigen, die davon Gebrauch machen wollen. Kranke und Greise werden mit allergrößter Sorgfalt und Güte behandelt.

Philo erzählt weiter, daß die Essäer überall die höchste Achtung genössen. Auch die grausamsten ' Herrscher und Prokonsuln konnten ihnen nichts an- ] haben. Vielmehr wichen sie vor der reinen Tugend dieser Männer zurück, begegneten ihnen freundlich als solchen, die sich ihre eigenen Gesetze zu geben berechtigt und frei sind von Natur, sie rühmten ihre gemeinschaftlichen Mahle und ihre über alles Lob erhabene Gütergemeinschaft überhaupt, welche allerdings auch der deutlichste Beweis eines vollkommenen und glücklichen Lebens ist.

So Philo. Auch Josephus beschäftigt sich liebevoll mit den Essäern und schreibt: Sie sind Verächter des Reichtums, und bewunderungswürdig ist bei ihnen das gemeinsame Leben. So kann man bei ihnen niemanden finden, der sich durch Eigentum hervortun würde. Denn es ist ein Gesetz, daß diejenigen, welche in diese Sekte eintreten, ihr Eigentum dem Orden übertragen. So ist unter ihnen allen weder Dürftigkeit und Armut noch Übermaß und Luxus zu gewahren, weil eben die Besitztümer aller zusammengemischt sind und alle wie Brüder nur ein gemeinsames Eigentum haben. Dabei werden Vorsteher des gemeinsamen Vermögens gewählt und jeder ohne Unterschied widmet sich dem gemeinsamen Besten (Jüdischer Krieg, II, 8§, 2—13).

Was das Eheleben anbetrifft, so berichten manche, daß die Essäer die Ehelosigkeit vorzogen, während andere behaupten, daß sie heirateten. Es scheint, daß sie in diesem Punkte so dachten wie der Apostel Paulus, der der Ehelosigkeit den Vorzug gab, aber die Ehe nicht verbot. Mit dem früher angeführten Ausspruch aus Pirke Aboth und den Einrichtungen der Essäer treten wir bereits ins Geistesleben des Urchristentums ein.

Bemerkenswert ist bei den Essäern der unpoliische Zug; sie wandten sich vom Staate ab und hielten das sittliche und das sozialwirtschaftliche Moment für die Hauptsache. Dieser Charakterzug zeichnet überhaupt die ganze Geschichte Israels in Palästina aus. Im Gegensatz zu den Griechen, die sich so lebhaft mit konstitutionellen Fragen beschäftigten und die verschiedensten Staatsformen ausprobierten, haben die Juden nur eine einzige politische Krise — um das Jahr 1000 — durchgemacht, als sie von der Stammesorganisation zur Staatsorganisation übergingen und das Königtum begründeten. Nach und nach bildete sich bei den Juden ein starker Widerwille gegen alle staatliche Machtorganisation aus. Dieser Widerwille findet seinen ersten Ausdruck in der Brandmarkung der Monarchie im i. Samuel, Kapitel 8, das späteren Ursprungs ist. Die Handlungsweise der Großmächte, die Palästina beherrschten, — die ganze Geschichte der großen antiken Imperien (Reichsgebiete des Altertums), deren Wellen Palästina überfluteten, war in der Tat nicht geeignet, aus einem so ernsten, nach Gerechtigkeit ringenden Volke Staatspolitiker zu machen. Ein starkes Schlaglicht auf die Haltung der Juden gegenüber dem Staate wirft folgender im Talmud überlieferter Ausspruch: „Niemand wird hienieden zum Staatsbüttel („schoter"), der nicht oben (im Himmel) als Bösewicht gebrandmarkt ist." Der einzige Herrscher ist Gott; seine Gebote sind die Grundlage und der Wegweiser der Menschen.

Anmerkungen

1) Philo war ein älterer Zeitgenosse Jesu; er lebte in Alexandria, wo er eine bedeutende literarische Tätigkeit entfaltete und die Bibel im religionsphilosophischen Sinne auslegte.

2) Josephus wirkte in der letzten Hälfte des i. Jahrhunderts und schrieb eine Geschichte der „Jüdischen Altertümer" und der letzten „jüdischen Kriege". Er lebte teils in Palästina, teils in Rom. — Philo sowohl wie Josephus schrieben in griechischer Sprache.

3) Dies ist wahrscheinlich eine Erklärung, die Philo selber hinzufügt. Sie ist im stoischen Geiste gehalten.

 

Editorische Anmerkungen

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S. 18-36

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html