Große Mauern gab und gibt es
einige in der Menschheitsgeschichte. In der Regeln dienten sie
dazu, die Wohlhabenden vom Elend der „Ausgesperrten“
abzuschirmen, so jedenfalls die Sichtweise derer auf der
„falschen“ Seite der Mauer – oder die Zivilisierten vom Ansturm
der Barbaren zu verschonen, so die Botschaft auf der anderen
Seite der Trennlinie.
Eine Ausnahme bildete die
befestigte DDR-Grenze, die nicht durch die reicheren Länder
errichtet wurde, um die Bürger der Nachbarstaaten vom
Grenzübertritt abzuhalten, sondern die im Gegenteil eine eher
ein- denn ausschließende Wirkung entfalten sollte. Wohl deswegen
war in der Vergangenheit in allen westlichen Industrieländern
die ebenso billige wie folgenlose Anklage, es handele sich um
eine „Mauer der Schande“, so verbreitet. Dabei war
die Ummauerung der DDR - die prinzipiell kritikwürdig bleibt
- insofern eindeutig weniger schlimm als die aktuelle faktische
Ummauerung rund um Europa, als der DDR-Staat (mangelnde
Demokratie hin oder her) zumindest die Versorgung für die
Versorgung der Menschen übernahm und dafür, dass niemand im
Elend umkommen musste. Aber hier handelte es sich eher um einen
Ausnahmefall der Geschichte, reden wir also lieber von der
Regel.
Eine solche Mauer, die ein
dramatisches Wohlfahrtsgefälle absichern soll, bildet die
Südgrenze Europas, die den „alten Kontinent“ vom postkolonialen
Afrika und Asien trennt. Ein „Glücksfall“ der Geographie, vom
Standpunkt der Befürworter einer Abschottung, dass die
Wassermassen des Mittelmeers die Errichtung von Sperranlagen
erübrigen. Rund um die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla
dereinst Vorposten der katholischen“ Reconquista“ im Feindesland
-, die zwölf bzw. acht Kilometer Grenzlinie vom umgebenden
Marokko trennen, dagegen nimmt das Grenzregime manifeste Formen
an. Die stacheldrahtbewehrten Absperrungen, an denen seit Ende
August bereits offiziell – 14 Personen
den Tod fanden, mehrheitlich durch Schüsse aus den Waffen
spanischer Grenzwächter, sollen nunmehr von drei auf sechs Meter
Höhe aufgestockt werden. Die Überlebeden wurden per Charterflug
ausgeflogen, sofern sie aus dem Senegal oder Mali kamen – diese
Länder haben Rücknahmeabkommen mit Marokko abgeschlossen -,
ansonsten durch die marokkanischen Behörden in die Wüste im
Süden des Landes gekarrt und dort ohne Wasser und Nahrung
ausgesetzt. 1.000 der fast 3.000 Ausgesetzten, die man später
wiedergefunden hat, wurden inzwischen in Sammellager auf
Militärbasen aufgenommen.
Doch in der Gegend gibt es noch
eine zweite „Mauer der Schande“, wie sie jedenfalls durch die
algerischen Nachbarn bezeichnet wird; Sie umgibt die Kernzonen
der von Marokko beanspruchten und seit 1975 annektierten
Westsahara, auf die auch die von Algerien unterstützte „saharaouische
Befreiungsbewegung“ Polisario Anspruch erhebt. Es hängt wohl
auch mit der Existenz dieser anderen Mauer zusammen, wenn das
größere Algerien bisher die durchreisenden Migranten aus dem
Rest des afrikanischen Kontinents, die nach Marokko und von dort
aus weiter auf spanisches Territorium streben, relativ
reibungslos passieren ließ. Denn durch ihre Präsenz auf
marokkanischem Boden wuchs wiederum der Druck der Europäischen
Union auf Rabat, doch bitte die Schmutzarbeit zu übernehmen und
diese Leute von der Wohlstandsfestung fern zu halten. Einen
gezielten „Versuch der Destabilisierung“ seines Landes durch den
Nachbarn prangerte vorige Woche der marokkanische
Premierminister Driss Jettou an. Die algerische Presse giftete
zurück, die Tageszeitung El Watan sprach von einem „Delirium der
marokkanischen Behörden“. Die französischsprachige Liberté
publizierte empörende Erlebnisberichte afrikanischer Migranten,
die – wie viele andere – durch die marokkanische Polizei
misshandelt und danach in der Wüste ausgesetzt worden waren.
Dabei suchte sich die Zeitung solche Migranten heraus, die nach
ihrer Deportation in die südmarokkanische Wüste durch die auf
algerischem Staatsgebiet angesiedelte Polisario aufgenommen
worden waren, und verortete ihren Aufenthaltsort in der Nähe
„der Mauer der Schande“. Die Instrumentalisierung der Empörung,
die über die marokkanischen Praktiken erweckt wurde, für
„nationale Anliegen“ war überdeutlich.
Die EU möchte ihr Anliegen, die überwiegend immaterielle „große
Mauer“ besser bewacht zu sehen, nicht durch die Rivalität
zwischen den beiden nordafrikanischen Regionalmächten gefährdet
sehen. Deshalb plant sie, bis zum Ende des laufenden Jahres
einen gemeinsamen Gipfel der Union mit Marokko und Algerien über
die „Kontrolle der Migrationsströme“ abzuhalten. Dessen
Beschlüsse sollen einen repressiven Aspekt – eine verstärkte
Absicherung der eigenen Grenzen durch die nordafrikanischen
Staaten – und einen „Marshallplan für Afrika“ miteinander
verbinden. Denn offiziell hat man auch bei der EU erkannt, dass
die Elenden eines Kontinents auf Dauer nicht allein durch
Mauern, und auch nicht durch Schüsse, von der Suche nach einem
besseren Leben abzuhalten sein werden – dort, wo der Mehrwert
angehäuft wird, der auf den Reichtümern ihrer Länder basiert.
Konkret ist aber bisher allein die Rede von einer Verdoppelung
des Entwicklungshilfebudgets. Almosen statt der erforderlichen
radikalen Änderung der „internationalen Arbeitsteilung“: Auch
dies wird allenfalls für kosmetische Abhilfe sorgen, aber keines
der drängenden Probleme lösen, aufgrund derer Millionen das
Elend ihrer Herkunftsländer verlassen möchten.
Die deutsche Politik hat es im
schlechtesten Sinne vorgemacht, wie eine repressive „Lösung“
geht: Als die Bundesrepublik im Mai 1993 das Asylrecht im
Grundgesetz weitgehend demontierte, schloss sie mit sämtlichen
Nachbarländern in ihrem Osten „Rücknahmeabkommen“ für
unerwünschte Einwanderer und Flüchtlinge. Polen, Tschechien und
Ungarn wiederum taten desgleichen mit Rumänien und der Ukraine,
wo sich daraufhin faktische Auffangbecken bildeten, in denen
Hunderttausende Flüchtlinge festsaßen. Ähnliches plant die EU
jetzt an ihrer Südflanke. „Wir wollen nicht der Mülleimer
Europas werden“: Diese Erklärung der Präfektur im
ostmarokkanischen Oujda zur Rechtfertigung der Deportation
afrikanischer Flüchtlinge in die Wüste, die durch die
französische Libération aufgeschnappt wurde, drückt die
Gesamtphilosophie dieses Projekts ebenso rücksichtslos wie
treffend aus - die Verdammten dieser Erde sind Abfall, den man
loswerden will.
Editorische Anmerkungen
Der Autor übergab
uns seinen Artikel am 2.11.2005 zur Veröffentlichung.
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