Frankreich:
Welche Strategien als „Antwort“ von Staat und Politik auf die Banlieuekrise?

von
Bernhard Schmid
11/05

trend onlinezeitung
Mehrere neue Eskalationsstufen wurden in den letzten Tagen bei den Unruhen in den französischen Trabantenstädten und beim staatlichen Umgang mit ihnen überschritten.

Die neuen Maßnahmen der Regierung

Am Montag abend ( 7. November) kündigte der französische Premierminister Dominique de Villepin die bevorstehende Verhängung einer Ausgangssperre über von den Unruhen betroffene Zonen aus. Eine vom wöchentlichen Sitzungstermin am Mittwoch vormittag um einen Tag vorgezogene Kabinettssitzung beschloss am Dienstag früh, dazu ein altes Gesetz über den Ausnahmezustand vom 3. April 1955 wieder in Kraft zu setzen. Dieses Gesetz erteilt den Präfekten, den juristischen Vertretern des französischen Zentralstaats in den Départements und Regionen, die Vollmacht, ein allgemeines Ausgangsverbot zu bestimmten Zeiten zu verhängen. Es wurde damals im Zusammenhang mit dem 1954 begonnenen Kolonialkrieg in Algerien und seinen Auswirkungen auch im französischen Kernland verabschiedet. Seit dem Ende des Algerienkriegs wurde es  in Frankreich nicht mehr angewandt. (Jedenfalls nicht auf dem Kontinent; zuletzt wurde im „Überseegebiet“ Neukaledonien, wo Frankreich mit einer antikolonialen  Unabhängigkeitsbewegung konfrontiert war, im Dezember 1984/Januar 1985 eine Ausgangssperre verhängt.) Der Beschluss wird ab Mittwoch 00.00 Uhr gelten .Das Regierungsdekret erlaubt zudem Hausdurchsuchungen bei Tag und bei Nacht.

 Falls die Ausgangssperre über mehr als 12 Tage hinaus verlängert wird, muss dann die Zustimmung des Parlaments eingeholt werden. Eine entsprechende Vorlage an die Abgeordneten befindet sich derzeit in Vorbereitung. An einem entsprechenden Votum der Nationalversammlung würden aber wohl nur geringe Zweifel bestehen, da die konservative Rechte (die bei der Parlamentswahl 2002 von rund 40 Prozent der Teilnehmenden, aber nur 29 Prozent der Stimmberechtigten gewählt wurde) aufgrund des Mehrheitswahlrechts über mehr als 60 Prozent der Sitze verfügt.

Im Namen der Polizeigewerkschaft Alliance verkündete ihr Generalsekretär Jean-Luc Garnier im öffentlichen Radiosender France Info am späten Montag abend, er sei “skeptisch” hinsichtlich einer solchen Entscheidung. Ihre Umsetzung erfordere eine hohe Anzahl und Konzentration von Einsatzkräften in den betroffenen Gebieten, und “wir kommen dann notwendigerweise mit ganzen Bevölkerungsgruppen in Konflikt, die überhaupt nichts mit den Unruhen zu tun haben”. In besonders stark betroffene Örtlichkeiten wolle er den Sinn  einer solchen Maβnahme jedoch nicht ausschlieβen. In einem anderen Beitrag auf France Info hieß es, eine solche Ausgangssperre drohe sich etwa auch gegen spät von ihrer Arbeit heimkehrende Einwohner der Banlieues zu richten. Seitens der französischen Sozialdemokraten erklärte ihr Parteivorsizender François Hollande lediglich, seine Partei werde “über den guten Gebrauch dieses Gesetzes wachen”. Die Grünen kritisierten in einer ersten Stellungnahme den “völlig überzogenen Charakter der Maβnahme” und warfen der Regierung vor, eine “Strategie der Spannung” zu verfolgen. Die trotzkistisch-undogmatische LCR sprach davon, die Regierung habe bisherige Vorschläge der extremen Rechten übernommen..

Ansonsten hatte Premierminister de Villepin noch angekündigt, zusätzliche 1.500 Mann von Polizei und Gendamerie – erstere untersteht in Frankreich dem Innen-, letztere dem Verteidigungsministerium – zu den 8.000 in den hauptsächlich betroffenen Gebieten eingesetzten Beamten zu mobilisieren. Dagegen will der seit Juni amtierende Regierungschef bisher dem Ruf nach einem Einsatz der Armee nicht folgen, der vor allem seit längerem aus dem Rechtsauβenspektrum erhoben wird (Jean-Marie Le Pen forderte ihn bereits vor zehn Jahren permanent), aber in den allerletzten Tagen vereinzelt auch von Bürgermeistern bestimmter Trabantenstädte wie Noisy-le-Grand erwogen wurde. Für den weiteren Fortgang der Ereignisse wollte der Regierungschef eine solche Entscheidung allerdings auch nicht ausgeschlossen wissen.

Ferner kündigte Dominique de Villepin am Montagabend an, die öffentlichen Finanzierungshilfen für die associations (Bürgerinitiativen, Vereine) in den sozialen Brennpunkten wieder herzustellen; sie waren durch autoritäre Sparmaßnahmen in diesem Jahr um 20 bis 30 Prozent amputiert worden. Außerdem soll die bis zum Alter von 16 geltende gesetzliche Schulpflicht verkürzt werden, um Jugendlichen zu erlauben, bereits ab 14 Jahren in ein Lehrverhältnis einzutreten. Die Lehrergewerkschaften zeigen sich äußerst kritisch dazu. So erklärte die mit Abstand größte Gewerkschaft im Bildungswesen, die FSU (durch den Mund ihres Generalsekretärs Gérard Aschieri), eine solche Maßnahme drohe „die Jugendlichen noch tiefer in die Prekarität hinein zu drücken“. da sie so auf Dauer gering qualifiziert blieben. In Frankreich besteht kein zweigliedriges Schulsystem, und höhere berufliche Qualifikationsgrade setzen ein höheres allgemeines Schulbildungsniveau voraus. Im übrigen löse die Maßnahme nicht das zentrale Problem der Diskriminierungen gegen Migrantenkinder und Banlieuebewohner auf dem Arbeitsmarkt. Die Lehrergewerkschaft UNSA-Education sprach von „einer frühen schulischen und beruflichen Segregation jetzt schon ab 14 Jahren“. Die Regierung beruft sich hingegen darauf, ihr Beschluss erlaube es, sich um die „Schulversager“ und –abbrecher zu kümmern. Die Bildungsgewerkschaften antworten darauf, dass endlich mehr für das marode und an gravierenden Mängeln leidende Schulsystem in den sozialen Brennpunkten getan werden müsse.

 

Die allgemeine Situation

In der vorausgehenden Nacht vom Sonntag zum Montag hatten die Unruhen in einigen Brennpunkten ihrerseits eine neue Eskalationsschwelle überschritten. Zum ersten Mal wurden Polizisten durch Schüsse mit scharfer Munition verletzt. In der Nähe der riesigen Hochhaussiedlung La Grande-Borne in der südöstlichen Pariser Trabantenstadt Grigny waren 60 Beamte der kasernierten Bereitschaftspolizei CRS am frühen Abend  in einen Hinterhalt geraten, in dem sie von rund 200 jugendlichen Angreifern mit Steinen und anderen Gegenständen beworfen wurden. Dabei fielen Schüsse aus einem Jagdgewehr sowie einer Schrotpistole. Zwei Beamte wurden durch Gewehrmunition schwer verletz und ins Krankenhaus eingeliefertt, während etwa 30 Bereitschaftspolizisten durch Schrotmunition leichter Verletzungen erlitten . Bisher war der Einsatz von Feuerwaffen in den französischen Banlieues noch die Ausnahme, weshalb der oft gezogene Vergleich zu den Verhältnissen in der Bronx und anderen “Ghettos” von US-Groβstädten auch hinkte. Ein städtischer Angestellter in Grigny, der am Nachmittag desselben Tages einer Unterhaltung von an den Unruhen beteiligten Jugendlichen beigewohnt hatte, wird in “Le Monde” mit den Worten zitiert:

“Sie sagten, dass sie auch ins Fernsehen kommen und im <Top 10> der verschiedenen Hochhaussiedlungen auftauchen wollten. Mit den verletzten CRS-Beamten haben sie stark zugeschlagen, ich glaube, dass sie unter den ersten zwei oder drei Plätzen bei der Medienberichterstattung landen werden.”

In Grigny und an anderen Orten wurden mittlerweile Lehrerinnen und Lehrer, Kindergartenpersonal und andere Bürger selbst aktiv, unter anderem um Schulen und Einrichtungen für Kinder vor Zerstörungen zu beschützen. An einer Reihe von Orten wurden auch diese zu Zielscheiben von Attacken, da sie den jugendlichen Aufrührern als Staatssymbole erscheinen, auf diesen Gebäuden flattert zumeist eine Trikolorefahne. An vielen Orten haben diese “Besetzungen” von Gebäuden, um sie zu beschützen, rein defensiven Charakter wie in Grigny. Auch in Drancy nördlich von Paris beschränkten sich die Teilnehmer an selbstorganisierten “Wachen” darauf, eventuelle Teilnehmer an Zerstörungen davon abzuhalten und in zwei Fällen der Polizei zu übergeben. Andernorts, etwa in Argentueil, sprechen Berichte dagegen mittlerweile von richtigen “Bürgerwehren”, von denen möglicherweise ihrerseits eine gefährliche Dynamik ausgehen könnte. Im Falle von Argentueil wurden die Aktivbürger durch die Stadtregierung, die seit 2001 von der konservativen UMP gestellt wird, mit Material (Funkgeräten, Feuerlöschern...) ausgerüstet. 

Am vorigen Samstag hatten in einigen Trabantenstädten von Paris, etwa in Aulnay-sous-Bois, Demonstrationen “für die Rückkehr zur Ordnung” stattgefunden. In Aulnay-sous-Bois, wo die Initiative dazu vom Bürgermeister und örtlichen Abgeordneten der konservativen UMP ausging, hatte dies allerdings nur zum Effekt, mehrere hundert Bewohner von Reihenhaussiedlungen und aus dem Stadtkern gegen jene der Hochhaussiedlungen – die dem Ereignis fern blieben – zu mobilisieren.

In den Nächten vom Freitag vergangener Woche bis zu diesem Dienstag wurden jeweils über 1.000 Autos frankreichweit in Brand gesteckt. Der Schwerpunkt der Ereignisse verlagerte sich dabei jedoch zunehmend vom Grossaum Paris in die Vorstädte der mittleren und größeren Städte in der französischen „Provinz“.

Strategien im Umgang mit einem Jahrzehnte alten Prroblem

 

Die Banlieue-Problematik ist nicht neu. 1973 beendete die sogenannte „Türme- und Riegel-Verordnung“ die Errichtung groβer Hochhaus- und Plattenbausiedlungen. Die ersten spektakulären Unruhen fanden 1981 in den Lyoner Trabantenstädten statt.

 

Wie gehen nun die etablierten politischen Kräfte und die Staatsorgane seit Jahren mit der Banlieuekrise um? In den letzten 15 Jahren bildete sich ein Konsens zwischen den staatstragenden Kräften heraus, wonach die Problematik der Trabantenstädte vorwiegend als ein Problem polizeilicher Krisenverwaltung und Sicherheitspolitik wahrzunehmen ist. In den frühen 90er Jahren machten die Vorstädte, unter dem damaligen Innenminister Charles Pasqua, der mittlerweile politischer Rentner ist, eine extrem repressive Phase durch. Innerhalb von zweieinhalb Jahren kam es damals zu fast 200 Todesfällen bei polizeilichen Kontrollen, bei Zusammenstöβen zwischen Jugendlichen und Ordnungskräften und, innerhalb der Kommissariate, in „polizeilichem Gewahrsam“. Dies goss auf die Dauer noch reichlich zusätzliches Öl ins Feuer.

 

Als die Sozialdemokraten und mit ihnen verbündete Linksparteien wieder das Regierungsgeschäft übernahmen, vollzogen sie zu allererst einen politisch-symbolischen Paradigmenwechsel: Anlässlich der berühmten „Konferenz von Villepinte“ konstatierten die Sicherheitspolitiker der Linksparteien im Sommer 1997, sie hätten sich geirrt, als sie bisher die Banlieue-Problematik vorwiegend als Ausdruck sozialer Probleme gewertet hätten. Vielmehr hätten die Polizei und die Repression eine nicht zu bestreitende, zentrale Rolle bei der Lösung des Problemes der „violences urbaines“ – diesen spezifischen Begriff haben französische Politiker und Sozialwissenschaftlicher mittlerweile für die Gewalt in den Vorstädten geschaffen – zu spielen. Dennoch setzten die Sozialdemokraten auch eine wichtige Formänderung durch, mit dem Projekt der „einwohnernahen Polizei�� (police de proximité). Dabei privilegierten sie den Aufbau von kleinen, dezentralisierten Polizeieinheiten innerhalb der Trabantenstädte, die tagsüber in ihen Büros ansprechbar sein sollten und etwa bei kleineren Alltagsproblemen und Nachbarschaftsstreitigkeiten eingeschaltet werden könnten. Dadurch sollte ein Minimum an Vertrauensverhältnissen zwischen Polizisten und Einwohnern neu geschaffen werden.

 

Bis dahin war das Bild der Polizei vor allem von ortsfremden und militarisierten Einheiten geprägt, die in den Trabantenstädten nur in gröβerer Zahl und in Form regelrechter Strafexpeditionen aktiv wurden. Dazu gehören die kasernierte Bereitschaftspolizei CRS (Compagnies républicaines de sécurité) und die Brigades anti-criminalité. Nicht alle, aber doch eine gröβere Anzahl der Mitglieder dieser Anti-Aufruhr-Einheiten kultivieren zudem rassistische Verachtungsgefühle gegen��ber einem Teil der Banlieuebevölkerung: Bei den Personalratswahlen der Polizei im Herbst 1995 erhielt der rechtsextreme Front National de la Police, dem später (1998) durch die Gerichte die angebliche Eigenschaft als „Polizeigewerkschaft“ aberkannt und der daraufhin verboten wurde, rund 10 Prozent. Aber bei eine CRS-Kompagnie im Pariser Raum sammelte er 46 Prozent der Stimmen.

 

Ab 1997 wurde die Rolle dieser rein repressiv agierenden Polizeitruppen reduziert und, jedenfalls tagsüber, durch die ziviler auftretenden Polizisten in den neuen Büros innerhalb der Vorstädte abgelöst. In den Nächten und an den Wochenende freilich blieben die BAC und andere militarisierte Einheiten die Herren der Lage. Die sozialdemokratische Regierung versuchte so eine zumindest teilweise Entspannung der Lage zu erreichen. Mit dem Regierungswechsel im Mai 2002 und dem Amtsantritt des neuen Innenministers Sarkozy erfolgte jedoch der fristlose Abbruch des Experiments. Die „einwohnernahe Polizei“ wurde stark reduziert, etwa in Clichy-sous-Bois, und Nicolas Sarkozy verbreitete sich spöttisch darüber, seine Polizisten hätten nicht „Sozialarbeiter und Stadtteilanimateure zu spielen“. Die repressiven Einheiten übernahmen wieder das Terrain.

 

Sarkozy ergänzte seine Strategie aber auch um ein zweites Standbein, das darin bestand, religiöse und kommunitaristische Gruppen als „Ordnungsstifter“ zu mobilisieren, namentlich auch moslemische Verbände. Den letzteren, auch den reaktionär-kommunitaristischen und teilweise Islamisten nahe stehenden Vereinigungen, kam dies entgegen. Besteht ihr zentrales ideologisches Anliegen doch in einer – nötigenfalls autoritären – „Moralisierung“ der Gesellschaft, welche erneut die Voraussetzungen für ein geordnetes Zusammenleben schaffe. Im Übrigen hatten diese Verbände gegenüber Bürgerinitiativen, Frauengruppen oder Stadtteilgruppen den Vorzug, dass sie von der Regierung nicht unmittelbar Geld – etwa für die Befriedigung sozialer Bedürfnisse – verlangten, sondern lediglich Spielraum für ihr eigenes Agieren. Innenminister Sarkozy konnte sich so als Vertreter politischer „Ausgewogenheit“ präsentieren, da er zugleich Integrationsangebote an Vertreter von Migrantengruppen mache und ansonsten die notwendige Repression garantiere. „Hart, aber gerecht“ lautet seine häufig wiederholte Devise. In einem Teil der regierenden Konservativen stieβ Sarkozy aber mit seiner Doppelstrategie auf Kritik. Teils wurde ihm vorgeworfen, er verletze durch sein „Bestärken des Kommunitarismus“ das universalistische Staatsverständnis der französischen Republik. Tatsächlich hat sich Sarkozy, der sich eher an der US-amerikanischen Rechten ein Vorbild genommen hat, in den letzten beiden Jahren durch Kritik am staatsoffiziellen französischen Laizismus hervor getan und wünscht zumindest teilweise eine Überwindung der seit 1905 gesetzlich festgeschriebenen Trennung von Staat und Religion(en). Mehrmals sprach er sich für eine „Überarbeitung des Gesetzes von 1905“ aus.  Teils ging die Kritik im rechten Lager aber auch darauf zurück, dass man Sarkozy beschuldigte, er dulde ein „Nachgeben der französischen Staatsmacht vor fremden Souveränitätsansprüchen auf unserem Territorium“ – stattdessen solle besser man den eigenen Souverän stärken, und nicht fremde Mächte. Beide Facetten der Kritik finden sich in der innerrechten Debatte wieder. Die Rechtsradikalen kritisierten natürlich aus ihrer Sicht ein Zurückweichen des Staates, der Frankreichs Charakter als weiβes und katholisches Land zu garantieren habe.

 

Auch in der jüngsten Krise nach den Ereignissen von Clichy-sous-Bois mobilsierte Sarkozy wieder einige moslemische Gruppierungen, die zur „Rückkehr der Ruhe“ aufriefen. Erschwert wurde dies aber dadurch, dass am vorletzten Sonntag eine Tränengasgranate der Polizei mitten in einer Moschee in Clichy expedierte. Die Gläubigen flohen panikartig aus dem Gebetssaal, der in den Wänden eines Einkaufszentrums liegt. Ein Versehen, wie die Einsatzleiter behaupteten, oder ein absichtlicher Racheakt von Polizisten, wie viele Einwohner argwöhnen? Die moslemischen Gemeinden hatten jedenfalls einen wachsenden Unmut zu verzeichnen. Der als moderat bekannte Rektor der Pariser Zentralmoschee und oberste Repräsentant des institutionalisierten Islam, Dalil Boubakeur, kritisierte daraufhin den Innenminister mit verhaltenen Worten. Ihm fiel wiederum die UOIF (Union islamischer Organisationen in Frankreich), die den rechten und reaktionären Flügel des institutionalisierten Islam vertritt, in den Rücken: Sie kritisierte, dass Boubakeur unzulässiger Weise Politik betrieben“ habe. Zum Hintergrund des Streits gehört jedoch auch, dass Boubakeur dem französischen Präsidenten Chirac persönlich nahe steht, während die Spitze der UOIF in den letzten Jahren eine strategische Allianz mit Sarkozy eingegangen ist. 

 

Um auf die zunehmende Kritik aus dem eigenen Lager an seiner Amtsführung, die in den ersten Tagen dem Ausmaβ der Krise nicht gewachsen schien, zu anworten, hat der Innenminister aber in den letzten Tagen einen Teil der Warnungen vor dem Islamismus - als angeblich hinter den Ereignissen steckendem Unruhestifter - in seine Rhetorik übenommen. In einem Interview in der Sonntagsausgabe von Le Monde, in dem Sarkozy stark nach dem Strickmuster „Ich oder das Chaos“ argumentiert, warnt der Innenminister davor, im Falle eines Scheitern seiner Strategie drohe „die Ordnung der Mafias oder jene der Fundamentalisten“. Tatsache ist jedoch, dass besonders die reaktionären Kreise innerhalb des Islam im aktuellen Kontext eher auf die Strategie setzen, durch die Behörden als potenzielle „Ordnungsstifter“ akzpetiert zu werden. Das entspricht auch eher ihrem ideologischen Profil, also ihrem Anspruch als „Moralisierer“ des öffentlichen Lebens.

 

Seitens der politischen Linken hat man kurzfristig eher Schwierigkeiten damit, eine adäquate Antwort auf die Ereignisse zu finden. Dies ist darauf zurückzuführen, dass man zwar die „soziale Frage“ und ihre besondere Form in den Banlieues als Ursache der Krise begreift – aber zugleich nur schwer die konkreten Aktionsformen de Jugendlichen als Ansatz zu einer Lösung dieser Problematik verstehen kann. Lediglich die autonomen Gruppen, die in der französischen linken Szene jedoch eine ungleich marginalere Stellung einnehmen als in einigen deutschen Städten und gesamtgesellschaftlich extrem randständig sind, begrüβen das Vorgehend der Banlieuejugend nahezu uneingeschränkt. Soweit Meinungsäuβerungen von ihrer Seite einholbar sind, wird in den Riots eine Regung des Subproletariats, als Vorbote der sozialen Revolution, erblickt. Dies dürfte, gelinde ausgedrückt, im Hinblick auf die gesellschaftliche Realität reichlich optimistisch sein.

 

Die staatstragende Linke tut sich ihrerseits in der derzeitigen Lage besonders schwer. Die Sozialdemokraten, die derzeit mit ihrer Kongressvorbereitung und innerparteilichen Konflikten beschäftigt sind, konnten sich erst nach mehreren Tagen zu klaren öffentlichen Stellungnahmen durchringen. Seitdem klagen sie vor allem die „Abkehr vom Prinzip der einwohnernahen Polizei“, der seit dem letzten Regierungswechsel vollzogen wurde, an. Direkt und indirekt kritisieren sie die Politik von Innenminister Nicolas Sarkozy, die wegen seines ruppigen Umgangsjugend mit der Jugend der Banlieues – bei einem viel bachteten Auftritt zwei Tage vor Ausbruch der Unruhen in Clichy-sous-Bois hatte Sarkozy, in ziemlich unspezifischer Weise, von "Gesocks“ und „Abschaum“ gespochen – als "provozierend“ und zudem als übertrieben repressiv gilt. Dennoch konnte sich die führenden sozialistischen Politiker bisher nicht dazu durchringen, auch den Rücktritt des Innenministers zu fordern. Ihrer Auffassung nach wäre dies eine „riskante Operation“, da eine solche Forderung von ihrer Seite als Ermutigung der Unruhen ausgelegt werden könnten. „Jetzt den Rücktritt Sarkozys zu fordern, hieβe, den jugendlichen Krawallmachern Recht zu geben“ verlautbarte etwa der Sprecher des Mitte-Rechts-Flügels der Partei, der Abgeordnete Julien Dray.

 

Dagegen fordern die KP und die Grünen mittlerweile lautstark den Rücktritt des amtierenden Innenministers. Der Grünenpolitiker und ehemalige Präsidentschaftskandidat Noël Mamère, der als ehemalier Fernsehjournalist gut um die Medienwirkung seiner Auftritte weiβ und sehr darauf bedacht, sprach am Samstag eine Rücktrittsfordeung an die Adresse des „Möchte-Gern-Sherrifs“ Sarkozy in die Kameras. Die französische KP legt in ihren Stellungnahmen den Schwerpunkt auf die Forderung nach einer Umgewichtung des staatlichen Handelsn in den Trabantenstädten. Statt auf den repressiven müsse der Akzent weitaus stärker auf den sozialen Staatsfunktionen liegen. Ein paar hundert Mitglieder, darunter viele ihrer Bürgermeister aus den Trabantenstädten, demonstrierten am Freitag abend vor dem Pariser Amtssitz des Premierministers. Es müsse mehr Geld für die dringendsten sozialen Aufgaben und Bedürfnisse in den Banlieues zur Verfügung gestellt werden, wurde gefordert, gleichzeitig wurde auch „die Gewalt“ verurteilt.

 

Weder das Problem aus der staatlichen Perspektive betrachten noch die Aktionsformen der Banlieuejugend bejubeln möchte der gröβere Teil der radikalen Linken. Alain Krivine, einer ehemaligen Köpfe des Pariser Mai 1968 und bis vor kurzem Wortführer de trotzkistisch-undogmatischen LCR, sprach in einer Stellungnahme differenzierend sowohl von „einer Revolte“ als auch „von Gewalttaten“, die „in der Gesellschaft Besorgnis“ hervor riefen. An alle anderen Linkskräfte richtete die LCR den Vorschlag, eine gemeinsame Groβdemonstration in Form eines „friedlichen Marschs aus den Trabantenstädten“ in das Pariser Machtzentrum durchzuführen, um den Rücktritt von Innenminister Sarkozy zu fordern. Dafür gibt es noch keine konkreten Pläne, aber am kommenden Mittwoch werden die LCR und andere linke und gewerkschaftliche Kräfte vor den Rathäusern der Trabantenstädte demonstrieren. Am Montag soll zudem eine gemeinsame Erklärung der Grünen, mehrerer Antirassismusgruppen, der eher linksliberalen Liga für Menschenrechte (LDH), der linksalternativen Gewerkschaft SUD-Solidaires veröffentlicht werden. Darin wird ebenfalls der Rücktritt des Ministers und das Ende einer überwiegend repressiven Behandlung de Banlieues verlangt.

 

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums, in der rechtsextremen Opposition, versucht man dagegen den repressiven Kurs des Innenministers, der als ungenügend empfunden wird, zu toppen. Dabei wurde jedoch dem alternden Rechtsradikalen Jean-Marie Le Pen, der kurz vor dem Ende seiner politischen Karriere steht, dieses Mal die Show gestohlen. Die stärksten Töne spuckte im Laufe der vergangenen Woche der Rechtskatholik und nationalkonservative EU-Kritiker, Graf Philippe de Villiers. Er forderte, statt der Polizei die Armee in den Banlieues einzusetzen, die Militärs mit weitreichenden Durchsuchungsbefugnissen auszustatten und „Eltern in den Trabantenstädten, die ihre Kinder und Jugendlichen abends nach drauβen gehen lassen, die Sozialleistungen zu sperren“. In ähnliche Richtung gehend, aber verbal etwas weniger martialisch auftretend, forderte Marine Le Pen – die Tochter des Front National-Chefs – „die Verhängung des Ausnahmezustands über die Unruhezonen“.

 

Editorische Anmerkungen

Der Autor übersandte uns seinen Artikel in der beiliegenden Fassung am 8.11.05. Eine gekürzte Fassung erschien am heutigen Tage bei Telepolis.