Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe
 
 
von
Max Beer
11/06

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VI. AUSBREITUNG UND VERFOLGUNG DER KATHARER

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1. Bulgarien und die Bogomilen.

Die Südslawen kamen mit der Flut der Völkerwanderung nach der Balkanhalbinsel. Sie waren in Pleme (Stämme), Bratstwos (Brüderschaften) und Zadrugas (Hausgenossenschaften) organisiert und wurden demokratisch geleitet. Sie gerieten jedoch bald in kriegerische Verwicklungen mit ihrer Umgebung und mit dem oströmischen Reiche, organisierten sich militärisch; Kriegsbeute, Plünderungen und Viehzucht wurden die hauptsächlichen Lebensquellen. Hieraus entwickelte sich eine Kriegerkaste, die unter oströmischem (byzantinischem) Kultureinfluß sich feudalisierte, den besten Ackerboden und die Wälder unter ihre Oberhoheit stellte und der landwirtschaftlichen Bevölkerung Frondienste auferlegte. Diese wehrte sich gegen die Bedrückung und empfand um so stärker die Wohltaten der entschwindenden traditionellen (gemeinschaftlich-demokratischen) Ordnung.

Hinzu kam noch ein anderer wirtschaftlicher Vorgang: Der Handel von Konstantinopel nach Deutschland ging zur Zeit Karls des Großen zum Teil durch das Land der Awaren (Ungarn). Um die Mitte des 8. Jahrhunderts schlugen die Bulgaren die Awaren und entrissen ihnen den byzantinisch-deutschen Durchgangshandel und wurden so reich, daß sie den Neid der Griechen weckten. „Die Bulgaren", klagt ein griechischer Schriftsteller, „sind alle Kaufleute geworden, wodurch bei ihnen die Selbstsucht und Korruption entstanden"(1)

Parallel mit diesem Umwälzungsprozeß ging die Christianisierung des Landes und im Jahre 864 nahm Bulgarien die christliche Religion, und zwar in griechisch-katholischer Gestalt an. Mit ihr strömten auch die gnostisch-manichäischen Gedanken in Bulgarien ein, die im Volke einen empfänglichen Boden fanden. Der Kampf zwischen dem Guten und Bösen wurde leicht zum Sinnbild des Gegensatzes zwischen der Feudalkaste und den reichen Kaufleuten einerseits und dem ausgebeuteten und beraubten Volke andererseits, oder zwischen der neuen Klassengesellschaft und der alten gleichheitlichen Ordnung, und je härter die Wirklichkeit sich gestaltete, desto williger war das arbeitende Volk, das Christentum im Lichte der gnostisch-manichäischen Lehre aufzufassen. Um die Mitte des zehnten Jahrhunderts folgten schon viele dem Popen (Geistlichen) Bogomil (Gottlieb), der zum Sektengründer wurde. Die Bewegung dehnte sich nach Serbien aus und fand besonders in Bosnien glühende und zähe Anhänger.

Zu Ende des zehnten Jahrhunderts klagten die orthodoxen Priester über die Bogomilen, daß sie Ungehorsam gegen die Obrigkeit predigten, die Reichen verdammten, die Feudalherren (Bojaren) beschimpften, die Staatsbeamten verachteten und sie für gottlos hielten, die Sklaven verhetzten und ihnen wehrten, ihren Herren zu dienen.

Unter den Bogomilen gab es ebenfalls Vollkommene und Gläubige; jene lebten gemeinschaftlich in Siedlungen, während die Gläubigen nur der Lehre anhingen, ohne sie in jeder Beziehung auszuüben.

Die Verfolgungen der Bogomilen begannen zu Ende des elften Jahrhunderts auf Befehl der Päpste Innozenz III. und Honorius III. und wurden bis zum fünfzehnten Jahrhundert von Zeit zu Zeit durch blutige Kreuzzüge von Ungarn aus fortgesetzt. Im Jahre 1234 wurde Bosnien von den ungarischen Kreuzfahrern mit Feuer und Schwert verwüstet, worauf blutige Kriege folgten. Zähe wehrten sich die bosnischen Ketzer, lebten nach jeder Niederlage wieder auf, so daß sogar einmal — um das Jahr 1400 — der Katharismus zur Staatsreligion in Bosnien erklärt wurde. Erst ein ungarisch-polnischer Kreuzzug, an dem 60000 Streiter teilnahmen, brach die Macht der bosnischen Kätharer. Diese Vernichtungskriege brachten jedoch dem Christentum wenig Nutzen, wohl aber dem Islam, denn seit dem Jahre 1385, in welchem die Türken den entscheidenden Sieg über Serbien auf dem Amselfelde errangen, geriet die Balkanhalbinsel immer mehr unter islamischen Einfluß. Nichtsdestoweniger wüteten die Kreuzfahrer gegen die bosnischen Katharer weiter, bis einem großen Teile der Bosniaken schließlich das ganze Christentum zum Ekel wurde. Als dann die Türken im Jahre 1463 den Krieg auch gegen Bosnien aufnahmen, kapitulierte es ohne Schwertstreich: es hatte weder die Macht noch den Willen, sich gegen den Islam zu verteidigen, um dann vom Christentum mit Feuer und Schwert gänzlich ausgerottet zu werden. Die Erbitterung gegen die offiziellen Christen war so groß, daß die bosnischen Bogomilen ihren mit so großer Zähigkeit verteidigten sozialreformerischen Manichäismus aufgaben und den Islam annahmen. Aus den bosnischen Bogomilen wurden Mohammedaner(2).

2. Italien: der Kampf zwischen Papst und Kaiser. Arnoldisten, Humiliaten, Apostelbrüder.

Die lombardischen Städte erwachten am frühesten unter dem Wellenschlag des neuen, seit der Mitte des zehnten Jahrhunderts entstandenen wirtschaftlichen und politischen Lebens. Sie wurden zu Vermittlungsstätten des europäisch-orientalischen Handels und deshalb zu Mittelpunkten der abendländischen Finanz. Diese Vorteile hatten auch ihre Schattenseiten: die Lombardei wurde zum Anziehungspunkte der imperialistischen Pläne der deutschen Kaiser und der römischen Päpste. Die Lombardei ist, ebenso wie Flandern, eines der großen Kriegstheater Europas. Diese wirtschaftlich-politischen Umstände trugen viel zur Stärkung des Selbstbewußtseins der lombardischen Städte bei: sie wurden zu Republiken mit mehr oder weniger demokratischen Einrichtungen und suchten ihre Selbständigkeit gegenüber Papst und Kaiser zu befestigen. In diesen Bemühungen stießen sie in erster Linie auf klerikale Ansprüche: die Geistlichkeit forderte eine unabhängige Stellung innerhalb der republikanischen Gemeinden; sie verlangten ihre Immunitäten und Privilegien: eigene Gerichtsbarkeit, Steuerfreiheit, Durchführung und Vollstreckung geistlicher Urteile gegen ketzerische Bürger durch den weltlichen Arm. Die Städte widersetzen sich; es entstanden Streitigkeiten, in welchen die städtischen Vertreter nach Argumenten suchten gegen die Kirche, und sie fanden sie teils in den alten demokratischen Überlieferungen, die Marsilius von Padua später in seinem „Defensor Pacis" (Verteidiger des Friedens) zu einer festen Theorie verdichtete, teils in der Bibel und im Urchristentum: sie wiesen auf die apostolische Armut, auf die Bergpredigt, auf die demokratische Verfassung der Ur-gemeinden hin, — kurz, auf die ursprünglichen volksfreundlichen, gleichheitlichen und sozialethischen Lehren des Evangeliums. In diesen Streitigkeiten bildeten sich Parteiungen, die gegeneinander kämpften und die Kritik gegen die Kirche wachhielten. Es waren städtische Kulturkämpfe zwischen Bürgertum und Klerus, wobei die Handwerker und die Armen als dritte Partei sich eigene Gedanken machten, vom offiziellen Christentum abfielen und auf soziale Probleme ihre Aufmerksamkeit richteten.

Zu diesen lokalen Kämpfen und Wirren kam der weltgeschichtliche Investiturstreit, d. h. der Streit um das Recht, Bischöfe einzusetzen und damit Anspruch auf einen Teil der Pfründen erheben zu können, zwischen Papst und Kaiser, der im letzten Viertel des elften Jahrhunderts ausbrach und in Norditalien einen so mächtigen Widerhall fand. Papst Gregor VII. (1073 bis 1085) eme demokratisch-konservative und sozialchristliche Gestalt von überragender Größe, konnte keinen Norditaliener gleichgültig lassen. Seine Verurteilung des korrupten Klerus einerseits, seine weltlichen Machtansprüche andererseits, die im Gange Heinrichs IV. nach Kanossa (1077) ihren drastischen Ausdruck fanden, mußten beim republikanischen Bürgertum sehr gemischte Gefühle auslösen. Seine Charakterreinheit, sein Kampf für soziale Auffassungen, seine Verurteilung des profitsüchtigen Handels, seine Brandmarkung der Könige und Fürsten mußten in Handwerker- und Arbeiterkreisen Sympathien wecken. Es entstanden im Laufe der Zeit päpstliche und kaiserliche Parteien, die die alten Städtekämpfe noch verwirrten. Noch tiefer griffen die Streitigkeiten zwischen dem Papsttum und den Hohenstaufen Friedrich I. Barbarossa (1152—1190) und Friedrich II. (1212—1250) in die Geschichte Norditaliens, ja ganz Italiens ein. Die Parteien der Guelfen (Päpstlichen) und Ghibellinen (Kaiserlichen) wurden zu einem festen Bestandteile des politischen Lebens in Italien. In all diesen Streitigkeiten erwies sich das Papsttum den Kaisern diplomatisch überlegen. Der Investiturstreit begründete den Kirchenstaat, hinterließ der Kurie große diplomatische Traditionen, und — was uns insbesondere angeht — er sicherte der Kirche den weltlichen Arm im unerbittlichen Ausrottungskampfe der Päpste, Bischöfe und Dominikaner gegen die Katharer. Die Kaiserkrönung in Rom wurde zum diplomatischen Instrument in den Händen der Päpste (unter denen Innozenz III., 1198—1216, als der größte hervorragt), die weltliche Macht zum Henker einer im ganzen so edlen, internationalen, urchristlich-demokratisch-sozialen Bewegung zu machen.

Mit der Entfaltung dieser Rivalitäten entstanden weitere Gegensätze in den lombardischen Städten. Solange die Päpste die deutschen Kaiser fürchteten, verhielten sie sich tolerant gegenüber den antikirchlichen und ketzerischen Bewegungen in den lombardischen Städten. Mit ihrer der deutschen Politik weit überlegenen Diplomatie bemühten sich die Päpste, die norditalienischen Städte als Bundesgenossen gegen das Kaisertum zu gewinnen. Die deutschen Kaiser hingegen, die, sobald ihre Heeresmacht es ihnen gestattete, den ökonomisch-imperialistischen Bestrebungen folgten, rückten gegen die Lombardei vor, überzogen ihre Städte mit Krieg und machten sich in Italien diejenigen Elemente zu Feinden, die eigentlich ihre Bundesgenossen waren, da sie denselben Gegner — das Papsttum — gegen sich hatten. Die Macht Barbarossas wurde bei Legnano (1176) von den freien Bürgern der Lombardei gebrochen. Friedrich II. focht vergebens gegen dieselben Elemente. In diesem diplomatischen und kriegerischen Spiel zwischen Papsttum, Kaisertum und Bürgertum wurde, wie bereits angedeutet, ein fruchtbarer Boden für die Ideen der Katharer geschaffen. Die Städte und Dörfer der Lombardei wurden zu Pflanzstätten und Asylen der Katharer. Schon um das Jahr 1030 hören wir von bischöflichen Gerichten gegen Ketzer, die dort auch unter dem Namen Patarener — angeblich nach dem Armenviertel von Mailand — bekannt wurden. Jedoch waren dies nur lokale Verfolgungen. Im großen ganzen lebten die Katharer ohne große Störungen bis zum letzten Viertel des zwölften Jahrhunderts. Im Jahre 1125 gelangten sie sogar in Orvieto zur Herrschaft, wurden jedoch von den Orthodoxen (der Konterrevolution) in blutigem Kampfe besiegt. 1150 waren sie dort wieder stark genug, um die Aufmerksamkeit der Bischöfe auf sich zu lenken. Um jene Zeit war die Lombardei stark ketzerisch, und da inzwischen Friedrich I. Barbarossa mit dem Papsttum Frieden gemacht hatte, wurde 1184 ein Konzil nach Verona einberufen, wo Papst Lucius III. und Barbarossa ein strenges Edikt gegen die Ketzerei erließen, die bischöfliche Inquisition einführten und den weltlichen Arm verpflichteten, die Inquisitionsurteile gegen die Ketzer sowie deren Freunde und Begünstiger auszuführen. Nichtsdestoweniger blühte dort das Katharertum. Wurde es in einer Stadt unterdrückt, so fand es Zuflucht in einer anderen, da die städtischen Behörden nicht gewillt waren, sich zu Henkersknechten der Päpste zu machen. Zu Anfang des dreizehnten Jahrhunderts gab es patarenische Organisationen in Mailand, Ferrara, Verona, Rimini, Florenz, Prato, Fae'nza, Piacenza, Treviso, Viterbo. Ein päpstlicher Erlaß vom September 1207 befahl allen Gläubigen, strengere Ortsgesetze gegen die Ketzer zu schaffen und für deren Durchführung zu sorgen. Ähnliche Erlasse erschienen von Zeit zu Zeit, führten zu lokalen Verfolgungen, aber zu keinem allgemeinen Erfolg. Die Lombardei, insbesondere Mailand, bildete den Mittelpunkt des Katharismus in Europa. Wir sahen oben, daß Straßburger Wal-denser angeklagt wurden, ihre Parteibeiträge oder gar ihr Vermögen dem Haupte der Bewegung nach Mailand gesandt zu haben. Als die Verfolgungen der Waldenser (Albigenser) in Südfrankreich begannen, flüchteten sich viele nach der Lombardei, wo sie bei ihren Genossen Schutz fanden.

Die lombardischen Ketzer hatten auch ein sehr umfassendes Schulwesen. Die begabtesten Schüler wurden auf die Universität nach Paris geschickt, um sich das scholastische und theologische Wissen anzueignen und desto besser mit den Kirchenvertretern disputieren zu können. Als Kaiser Otto IV. (i 198 bis 1215) im Jahre 1209 zu seiner Krönung nach Rom fuhr, waren die Geistlichen seines Gefolges empört darüber, daß es dort Schulen gab, wo die gnostisch-manichäischen Lehren verbreitet wurden (Lea, Geschichte der Inquisition, Band II, S. 219). Auch Friedrich II. beklagte es im Jahre 1236, daß der Papst sich um Mailand, die Brutstätte der Ketzerei, nicht kümmere. In dieser Klage spielte die Politik eine große Rolle: das offizielle Mailand war weifisch, also gegen die Staufer. Deshalb ließ der Papst es in Ruhe.

Im dreizehnten Jahrhundert wurde der italienische Katharismus von der Sekte der Arnoldisten, der Hu-miliaten und Waldenser stark durchsetzt, dann von den Apostelbrüdern. Diesen Sekten wollen wir uns jetzt zuwenden.

Der Gründer der Arnoldisten war der antikirchliche Agitator Arnold von Brescia (lies: Breschia). Er war zu Anfang des zwölften Jahrhunderts in Brescia geboren, studierte Theologie unter Abälard in Paris, beschäftigte sich eifrig mit der Bibel, sog den freien Geist seines Lehrers ein und zeigte, wie dieser, große Redegewandtheit. Nach Absolvierung seiner Studien kehrte er in seine Heimat zurück, wurde Priester, trat aber bald in den Kampf gegen die Machtansprüche des Klerus. Er sprach öffentlich und lehrte, aller Güterbesitz sei ein Übel für Kirche, Klerus und Mönchtum. Seine Predigten fanden unter dem Volke ungeheueren Anklang, das dann von Bischof und Geistlichkeit nichts mehr wissen wollte. Die Angelegenheit kam vor das Laterankonzil 1139, der Papst enthob Arnold seines Amtes und verwies ihn aus Italien. Arnold reiste nach Paris zu Abälard, inzwischen aber machten seine Gedanken Schule im rebellischen Rom, wo sich schließlich die Bürgerschaft gegen den Papst erhob und dessen Besitzungen konfiszierte. Der Papst erließ einen Befehl, Abälard und Arnold sollten in Klöster gesperrt und ihre Bücher verbrannt werden. Abälard unterwarf sich, Arnold aber setzte seine agitatorische Tätigkeit um so eifriger fort und gewann auch in Frankreich so starken Anhang, daß keiner der französischen Bischöfe es wagte, das Urteil des Papstes zu vollziehen. Erst als der König von Frankreich bewogen wurde, Maßnahmen gegen Arnold zu ergreifen, verließ dieser Frankreich, zog nach Deutschland und der Schweiz, dann zurück nach Italien, wo seine Beliebtheit in stetem Wachsen begriffen war. In Rom sammelte sich um ihn die Sekte der Lombarden (Ka-tharer), und er wurde zum Mittelpunkte der ganzen revolutionären Bewegung gegen das Papsttum. „Er trat öffentlich als Redner auf dem Kapitol auf und erging sich in heftigen Ausfällen gegen Papst und Kardinale. Letztere schalt er die Pharisäer und Schriftgelehrten der Christenheit, ihr Kollegium sei nicht die Kirche Gottes, sondern ihrer Hoffart, Habsucht, Heuchelei und Lasterhaftigkeit wegen eher ein Geschäftshaus und eine Räuberhöhle zu nennen. Der Papst selbst sei nicht ein apostolischer Seelenhirt, sondern ein Bluthund, der seine Herrschaft durch Mord und Brand stütze, die Kirche vergewaltige, die Unschuld unterdrücke, seine Geldkasse fülle und die anderer leere" (Hefele, Konziliengesch. V., 526). Der Papst konnte jedoch nichts gegen Arnold unternehmen, da die römischen Volksmassen ihn schützten. Erst Friedrich I. Barbarossa, der im Jahre 1155 zur Krönung nach Italien zog, erzwang auf Ansuchen der Kurie die Auslieferung Arnolds, der dann gehängt und verbrannt wurde; „die Asche ließ man in den Tiber werfen, um ihre Verehrung zu verhindern". Dafür wurde Barbarossa von Papst Hadrian IV. ohne Wissen der Römer zum römischen Kaiser gekrönt.

Arnolds Lehre war, daß die Nachfolge Christi den Papst, die Bischöfe, Mönche und Priester zur Besitzlosigkeit, zur Nächstenliebe, zum Dienen verpflichtete. Die weltliche Macht der Kirche, ihr Reichtum, ihre Vorrechte und Immunitäten führten nur zur Verweltlichung: zu Zank und Kampf, zur Politik und Prozeßführung, zu Intrigen und diplomatischen Kniffen, also zum Abfall von Jesus. Derartige Priester sind unwürdig, die Heils Vermittlung zwischen Gott und Mensch zu übernehmen und können die Sakramente nicht spenden.

Arnold hinterließ zahlreiche Schüler und Anhänger, die die Lehre ihres Meisters verbreiteten. Sie fanden den größten Anklang in Arbeiterkreisen, die in den wirtschaftlich blühenden Städten der Lombardei in religiösen Gemeinschaften und Unterstützungskassen organisiert waren und unter den Einfluß der Katharer, Arnoldisten und Waldenser gerieten. Bald kam der genossenschaftliche Gedanke bei ihnen zur Geltung. Aus den religiösen Arbeitervereinen wurde sodann die ketzerisch-soziale Sekte der Humiliaten, deren Hauptkontingent die lombardischen Weber lieferten. Sie wurden seit Beginn der bischöflichen Inquisition, die auf Grund des Beschlusses des Konzils von Verona (1184) errichtet wurde, verfolgt und als Ketzer behandelt. Sie gingen mit den Arnoldisten in der allgemeinen katharischen Bewegung auf und hatten dann gegen sich die Inquisition der Dominikaner.

Über die Waldenser (Albigenser) werden wir im nächsten Kapitel handeln, da sie zu Frankreich gehören. Inzwischen vollenden wir die italienische ketzerisch-soziale Geschichte, deren merkwürdigste Erscheinung die Apostelbrüder waren.

Der Hauptgedanke Arnolds, daß ein wahrer Nachfolger Jesu und der Apostel ein Leben der apostolischen Armut führen muß, liegt offenbar auch der Schöpfung des Franz von Assisi zugrunde. Nur blieb Franz dem Papsttum treu und entging der Verfolgung, aber seine Schöpfung verlor bald den Grundgedanken, der ihn bei seinem Unternehmen geleitet hatte. Die Franziskaner, mit Ausnahme ihres linken Flügels, gingen Kompromisse ein, wichen von der Regel ab und machten ihren Frieden mit der Kirche. Anders die Katharer und ihre verschiedenen Richtungen. Diejenigen unter ihnen, die den Abfall der Franziskaner von ihrer Regel ebenso beklagten wie den Abfall der Kirche vom Evangelium, versuchten zum Grundgedanken zurückzukehren. Es waren diese Männer, die die Sekte der Apostelbrüder gründeten. Ihr Führer war Gerhard Segarelli.

Im Jahre 1248 meldete sich ein junger, ungebildeter Bauersmann bei den Franziskanern in Parma und bat um Aufnahme in den Orden. Er wurde abgewiesen, da er zu einfältig wäre, um Franziskaner zu werden. Der Bauer ließ sich nicht einschüchtern, wählte die Tracht der Apostel, wie er sie auf Bildern gemalt sah: weißen Mantel, Sandalen, ließ sich Bart und Kopfhaar wachsen und begann zu predigen: „Tuet Buße und bekehrt euch, denn das Himmelreich ist nahe." Er verkaufte sein Hab und Gut, tat das Geld in einen Sack, ging auf den Marktplatz, begann zu predigen, und als die Leute um ihn versammelt waren, schüttete er das Geld unter die Umstehenden aus und rief: „Wer es will, mag es nehmen l" Er gewann bald Anhänger, die zur Buße mahnten und gegen die verweltlichte Kirche auftraten und das nahe Kommen des Gottesreiches (der Gerechtigkeit, der Gleichheit, des Friedens) verkündeten. Sie nannten sich die Apostelbrüder, lebten in Armut, wanderten und predigten, und das Volk hörte ihnen gern zu; auch viele Frauen schlössen sich ihnen an. Sie standen eben dem ganzen Gefühlsleben der Massen viel näher als die Franziskaner. Dies erregte den Neid der Bettelorden und des Klerus; die Apostelbrüder wurden bald als Gefahr für das religiöse Leben betrachtet. Auf dem Konzil zu Lyon 1274 wuren die wilden (vom Papste nicht bestätigten) Bettelorden verboten. Diese sollten sich den bereits bestehenden regelrechten Orden anschließen, zumindest keine Novizen mehr aufnehmen. Trotz des Konzilbeschlusses wuchs die Sekte der Apostelbrüder, so daß 1286 eine päpstliche Bulle an sämtliche Erzbischöfe und Bischöfe erging, die Apostelbrüder zu unterdrücken. Gegen einige derselben wurde bereits der Vorwurf der Ketzerei erhoben. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, sich der Sekte fernzuhalten. 1294 nahmen die Dominikaner die Verfolgung gegen die Apostelbrüder auf, Segarelli wurde verhaftet und um das Jahr 1300 dem Flammentode überliefert.

An seine Stelle trat Dolcino, der seit der Verhaftung Segarellis das eigentliche Oberhaupt der Sekte war. Sein Führertalent war sehr bedeutend; tapfer und entschlossen, war er wie zum Kampfe geboren. Allen Konzilbeschlüssen und päpstlichen Bullen zum Trotz setzte er seine öffentliche Tätigkeit fort, bis der Kreuzzug gegen ihn gepredigt wurde. Seine Kämpfe gegen die ihn verfolgenden Kreuzfahrer sind im kleinen Maßstab nicht minder bewundernswert als die des Spartakus gegen die Römer. Dieser Umstand trug viel dazu bei, daß die Berichte über Dolcino einen romanhaften Charakter erhalten haben. Er soll der Sohn eines aus adeliger Familie stammenden Priesters gewesen sein; er soll später aus Liebe zu der schönen Novize Margharita sich als Knecht im Frauenkloster zu Trident verdingt und sie entführt haben. Es wird ferner erzählt, daß er dann mit seiner Margharita im Trentino ein Wanderleben geführt, Güter- und Weibergemeinschaft gepredigt und auch in Dalmatien gewirkt habe. Sicher ist nur, daß er aus der Gegend von Novara stammte, eine theologische Bildung besaß, sich viel mit der Bibel und den apokalyptischen Auslegungen beschäftigte, die Schriften Joachims von Floris kannte und den Spiritualen nahestand. Als antipäpstlich gesinnter Italiener mag er vielleicht Ghibelline gewesen sein wie Dante und andere hochstehende Italiener.

Dolcino erwartete und berechnete aus der Bibel, daß in den Jahren 1303—06 ein Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte eintreten würde. Der Kaiser würde das Papsttum vollständig besiegen, Gott würde dann einen Friedenspapst erwecken. „Um ihn werden sich die Anhänger des apostolischen Lebens scharen, und Gott wird über sie seinen Geist ausgießen, sie werden sich mehren; der neue Kaiser und der Friedenspapst, der an die Stelle des erschlagenen Papstes (Bonifaz VIII.) treten wird, werden herrschen bis, wie Johannes verkündet hat, der große Gegner Gottes nochmals sich erhebt und die letzten Gerichte beginnen." (Hausrath, Die Arnoldisten, S. 346.) Es war im Grunde die Hoffnung auf das tausendjährige Reich, auf ein Weltalter des Friedens, der Brüderlichkeit, der Tugend, die Dolcino in seinem Wirken leitete. Man kann sich denken, wie groß die Autorität Dolcinos wurde, als im Jahre 1303 der Papst Bonifaz VIII. tatsächlich ein böses Ende genommen hatte. Aus Verzweiflung über den ungünstigen Ausgang seines Konflikts mit dem französischen König Philipp dem Schönen, dessen Soldaten ihn gefangennehmen sollten, „verfiel er in Tobsucht. Die Höflinge, die ihn in den Lateranpalast zurückbringen wollten, fanden ihn, wie er an einem Stecken nagte, an Gott verzweifelnd den Beelzebub anrief, den Kopf gegen die Wand stieß und sein greises Haupt mit Blut befleckte... Am i I.Oktober 1303 starb er im Vatikan, der nun für lange veröden sollte. Der nächste Papst residierte in Perugia, die folgenden in Avignon." (Hausrath, a.a.O., 5.351.) Das gewaltsame Ende Bonifaz' hatte Dolcino noch zu Lebzeiten Segarellis vorausgesagt und das Jahr 1303 als das der päpstlichen Katastrophe bezeichnet. Nur war es nicht ein deutscher Kaiser, sondern ein französischer König, der das Papsttum besiegte. Dieses Ereignis verschaffte Dolcino großen Anhang und kräftigte sein Selbstvertrauen. Er begab sich nach seiner Heimatprovinz Novara, wo ihm alle katharischen Elemente zuströmten. Bald begann jedoch seine Verfolgung durch die Inquisition, die ihn zwang, von Ort zu Ort zu wandern. Seine Freunde und Förderer wurden von der Inquisition schwer bestraft, ihre Häuser verfielen der Zerstörung, ihr Hab und Gut — der Konfiskation. Überall aber fand Dolcino heimliche Gönner, die ihm rechtzeitig die Pläne der Inquisition verrieten. Diese heimlichen Wanderungen in der Gebirgsgegend nordwestlich von Mailand (in jenem Winkel zwischen Italien, Frankreich und der Schweiz) sollten im Jahre 1305 ein Ende nehmen. Dolcino beschloß, den Kampf mit der Inquisition aufzunehmen. Er befand sich damals im Dorfe Kampertolio (bei Novara), von wo er mit einer Schar seiner Anhänger tiefer in die Berge zog; dort bauten sich die Apostelbrüder eine Siedlung, requirierten Lebensmittel und bereiteten sich auf Krieg vor, denn Papst Clemens V., der in Lyon residierte, rief die Gläubigen zu einem Kreuzzuge gegen die Ketzer von Novara. Dolcino erhielt frühzeitig Nachricht über das gegen ihn aufmarschierende Kreuzheer, worauf er beschloß, den Kampf nicht aufzunehmen, sondern heimlich mit seinen Mannschaften das Lager zu verlassen. Als dann das Kreuzheer die Höhen erstieg, um den Angriff zu beginnen, fand es dort niemanden mehr, worauf sich die Kreuzfahrer bald auflösten und auseinandergingen. Dolcino gründete eine neue Niederlassung in der Gegend von Varallo, baute ein festes Lager, das infolge seiner gebirgigen Lage für uneinnehmbar galt. Ketzer aus Savoien, der Lombardei, Südfrankreich und Salzburg sammelten sich abermals um Dolcino, aber auch die Kreuzfahrer sammelten sich um ihre Behörden und griffen das Ketzerlager an. Sie wurden blutig zurückgewiesen, ließen Gefangene zurück, die sie gegen Proviantlieferungen an Dolcino auslösten. Ein neuer Angriff erlitt dasselbe Schicksal. Die Dörfer ringsum litten stark unter den Kämpfen. Die Furcht vor den scheinbar unbesiegbaren Ketzern verbreitete sich in der ganzen Gegend. Aber das Ketzerheer litt Mangel an Lebensmitteln, und die Not wuchs mit der Verödung der Gegend, die zum Schauplatze des Ringens wurde. Im Frühjahr 1306 starben viele Anhänger Dolcinos an Erschöpfung. Krankheit und Tod zogen in das Lager ein, das deshalb im März 1306 verlassen wurde. Der Krieg ging jedoch weiter. Bis August desselben Jahres bereitete Dolcino dem Kreuzheer zwei Niederlagen, die den Papst veranlaßten, neue Aufrufe an die Gläubigen zum Kriege gegen Dolcino zu erlassen. Die Grafen und Bischöfe der ganzen Landschaft von Novara und Savoien stellten ein Heer von einigen tausend Mann auf, das von zwei Rittern befehligt wurde. Es griff die Ketzer an und erlitt eine schwere Niederlage. Die Kreuzfahrer flüchteten sich, räumten die umliegenden Dörfer, die von den verfolgenden Ketzersoldaten ausgeplündert wurden. Besonders litten die Kirchen und die Priester von den siegreich vordringenden Dol-cinianem. All diese Siege konnten sie jedoch nicht retten, solange sie von der Außenwelt abgeschnitten blieben und keine Zufuhren erhalten konnten. Der Winter 1306/07 brachte den Dolcinianern harte Entbehrungen. Kälte und Hunger lichteten ihre Reihen, während die Kreuzfahrer sich wieder sammeln, ihre Mittel und Kräfte erneuern und erhöhen konnten. Am 23. März 1307 kam es beim Berge Zebello zur Entscheidungsschlacht. Sie dauerte den ganzen Tag. Von den 1150 Dolcinianern, die noch kampffähig in die Schlacht gezogen waren, blieben tausend auf der Walstatt. Hundertundfünfzig streckten die Waffen, die ihren von Hunger und Kälte ermatteten Händen entfielen. Unter den Gefangenen befanden sich Dolcino und Margharita, die dann unter schrecklichen Martern ihre Seelen aushauchten.

3. Frankreich: Waldenser; Languedoc: Albigenser.

Der Vertrag von Verdun (843), der die Teilung des Reiches Karls des Großen vollzog, schuf den geographischen Kern Frankreichs. Die Nachkommen Karls des Großen regierten über dieses Gebiet bis zum Jahre 987, jedoch wurde ihre Macht durch die Vasallen: die Herzöge und die Grafen, so eingeschränkt und geschwächt, daß von einem französischen Königtum im frühen Mittelalter kaum etwas zu verspüren war. Die Träger der französischen Geschicke waren die Vasallen: die einzelnen Landesherren. Nach dem Absterben der Karolinger kam im Jahre 987 das Königshaus der Capetinger ans Ruder, das mit der Zeit lernte, die wachsende Macht der Städte und des Handels nacheinander gegen die Feudalen und gegen die Kirche auszuspielen und einen festen französischen Staat zu begründen. Die gewerbliche Tätigkeit Nordfrankreichs, die Messen der Champagne und die Blüte der Städte und Häfen Südfrankreichs (Languedoc) schufen ein festes Band, das den Norden, die Mitte und den Süden aneinander-kettete und ein einheitliches geographisches Gebiet bildete, welches den Capetingern die ökonomische Basis gab für ihre zentralisierende, nationale Politik. Die Überhandnahme der wirtschaftlichen Interessen in Staat und Kirche erzeugte, wie überall, eine Gegenströmung unter denjenigen Volkselementen, die teils unter wirtschaftlichem Druck, teils in geistiger Not sich befanden. Die Gegenströmung knüpfte an das Evangelium an und ergoß sich in ihrem Verlaufe in die ketzerisch-soziale Bewegung. Katharische Einflüsse machten sich bereits, wie wir wissen, im ersten Viertel des elften Jahrhunderts in Frankreich bemerkbar und übten einen heilsamen sozialen und sittlichen Einfluß aus. Ähnlich wirkte die Propaganda Arnolds von Brescia, die viele zur sozialethischen Reformarbeit weckte(3), aber erst das Auftreten des Lyoner Kaufmanns Peter Waldes im Jahre 1170 oder 1173 schuf in Frankreich eine eigene französische ketzerisch-soziale Bewegung, die einen großen Umfang annahm und nach Italien, Deutschland und Böhmen sich ausdehnte. Es war die Waldenserbewegung. Ihr Gründer Peter Waldes war ein reicher Kaufmann in Lyon, der, obwohl ungelehrt, die Wahrheiten des Evangeliums in seinen Quellen zu erforschen wünschte. Er ließ sich deshalb von gelehrten Männern die Bibel ins Romanische übersetzen, ebenso Auszüge aus den Kirchenvätern machen und studierte sie mit großem Eifer. Er ließ es nicht beim Studium bewenden, sondern ging daran, das Gelernte zu üben. Er wählte das Leben der Besitzlosigkeit, ließ seine Frau, die im alten Glauben blieb, einen Anteil an dem Vermögen wählen, den Rest verteilte er unter die Armen und begann, die Lehren der Apostel und des Urchristentums zu pre-• digen. Er fand bald zahlreiche Anhänger, die sich „die Armen von Lyon" nannten, eine besondere Tracht annahmen und ihrem Führer folgten. Wie man sieht, war der Anfang der Waldenser dem des etwa ein Vierteljahrhundert später gegründeten Franziskanerordens sehr ähnlich. Während dieser aber vom Papste bestätigt und zu einem Bestandteil der Kirche wurde, hatte es die Kurie endgültig abgelehnt, sich mit den Waldensern zu befreunden und trieb sie unwillkürlich zum Ketzertum. Möglich, daß die Kurie, durch das Schicksal der Waldenser gewitzigt, viel klüger wurde und dann Franz von Assisi durch Freundlichkeit zähmte.

Im Jahre 1179 sandten sie eine Deputation zum Laterankonzil (Rom), um eine päpstliche Bestätigung für ihre Propaganda zu erhalten. Die Waldenser wurden dort vom englischen Prälaten Walther Map examiniert und verspottet. Er machte sich lustig über ihre Unwissenheit und empfahl, ihnen die päpstliche Bestätigung zu versagen. Von der Kirche mit Schimpf behandelt, kamen die Waldenser bald in Berührung mit den Katharern und bildeten eine Sektion der ketzerisch-sozialen Bewegung. Sie wurden auf dem Konzil zu Verona, dem Friedrich Barbarossa beiwohnte, zu den Ketzern geworfen und verdammt. Eine ausführliche Darstellung ihrer Lehre gibt der Dominikaner Bernard Guidonis in seiner „Practica Inquisitionis" (1331), einer der Hauptquellen der Geschichte der Katharer. Die Waldenser waren in Vollkommene und Freunde oder Gläubige geteilt. Jene waren die Lehrer und Führer. Bei ihrem Anschluß an das Waldensertum legten sie ihr Vermögen in die gemeinsame Kasse der Bewegung, woraus sie die nötigen Mittel zum Leben erhielten, und wo die gemeinsamen Mittel nicht reichten, standen die Freunde und Gläubigen oder die einfachen Genossen bei; sie taten es gerne, denn die Waldenser zeichneten sich durch große Tugenden aus. Als ein angeklagter Waldenser von der Inquisition in Toulouse befragt wurde, was seine Lehre sei, antwortete er: „Weder Böses zu sagen noch zu tun; niemandem etwas zu tun, was man selbst auch nicht getan haben wolle; weder zu lügen noch zu schwören." Eine ähnliche Antwort erhielt im Jahre 1394 der Inquisitor unter den pommerschen Waldensern. Die eifrigsten Gegner der Sekte fanden nichts Nachteiliges gegen den sittlichen Lebenswandel dieser Ketzer zu melden. Ein Inquisitor, der sie wohl kannte, beschreibt sie folgendermaßen: „Man kann die Ketzer schon an ihren Sitten und ihrer Sprache erkennen; denn sie sind bescheiden und leben in wohlgeordneten Verhältnissen. Sie sind nicht prunkvoll in ihrer Kleidung, die weder kostbar noch schmutzig ist. Sie lassen sich nicht auf Handelsgeschäfte ein, um Lügen, Eide und Betrügereien zu vermeiden, sondern leben von ihrer Hände Arbeit. Schuster sind ihre Lehrer. Sie häufen keine Schätze auf, sondern sind zufrieden, wenn sie das Notdürftige haben. Sie sind keusch und mäßig in Essen und Trinken. Sie besuchen keine Wirtschaften oder Bälle oder andere Vergnügungsorte. Sie enthalten sich des Zornes, arbeiten beständig, lehren und lernen, folglich beten sie wenig. Man kann sie erkennen an ihrer Bescheidenheit und ihrer sorgfältigen Sprache, sie vermeiden nämlich Gemeinheiten, Verleumdungen, leichtsinnige Reden." Sie hatten überall Bibelübersetzungen und lernten ganze Teile derselben auswendig. Der Inquisitor von Passau kannte einen bäuerlichen Waldenser, der das Buch Hiob Wort für Wort hersagen konnte. Die werktätigen Männer und Frauen, die dieser Sekte angehörten, pflegten nach harter Tagesarbeit zusammenzukommen, um ihre Abende dem Studium zu widmen. Und wenn es manchen Genossen schwer fiel, dem Unterricht zu folgen oder von ihm zu profitieren, pflegten die Lehrer zu sagen: „Lerne an jedem Tage nur ein Wort, dann wirst du in einem Jahre 360 Worte wissen, und so werden wir siegen!" Überzeugungstreu bis zu Ende, gingen Tausende von Waldensern freudig in die Flammen der Scheiterhaufen, ertrugen mit unerschütterlicher Geduld die Schrecken des Kerkers und der Folterkammer, um nur ihren Glauben verbreiten zu können.

Im dreizehnten Jahrhundert waren sie denn auch die am meisten verbreitete Sekte, besonders stark waren sie in Languedoc (Südfrankreich). —

Im elften und zwölften Jahrhundert war Languedoc das freieste und glücklichste Land Europas. Handel und Gewerbe, Kunst und Wissenschaft blühten in den Städten. Narbonne, Toulouse, Albi, Beziers, Carcasonne waren Sitze des Forschens und Denkens. Die Schätze der freien arabischen Philosophie in Südspanien wurden in Languedoc durch jüdische Übersetzer bekannt. Alle religiösen Richtungen fanden dort gleichen Schutz. Die Städte genossen ein hohes Maß von Selbstverwaltung. Die Herzöge von Aqui-tanien, die Grafen von Toulouse und Provence wachten eifrig über ihre Rechte und Privilegien gegenüber der Kirche und dem französischen Königtum.

In diesem damals hochzivilisierten und gesegneten Landstrich fanden die Katharer schon frühzeitig viele Anhänger. Die Bevölkerung nannte sie bös homes (== bonnes-homes: gute Menschen). Dann kamen die Waldenser und erhielten die nötige Freiheit der Propaganda. Von da aus verbreiteten sie ihre Lehren nach der Lombardei, Tirol, Salzburg und Süddeutschland: Metz, Straßburg und Passau.

Es scheint, daß die Lehren der Waldenser in Languedoc weniger einen sozialkritischen als einen antikirchlichen Charakter annahmen. In der Atmosphäre der Freiheit und des freundlichen Zusammenwirkens aller Klassen — auch der Adel wurde dort zum großen Teile waldensisch und lebte vielfach in Fehde mit dem Klerus — legte die ketzerische Propaganda wenig Gewicht auf sozialökonomische Kritik und wurde hauptsächlich antikirchlich. Der Hauptsitz des südfranzösischen Waldensertums war die Stadt Albi, deshalb wurden die Waldenser allgemein Albigenser genannt.

Die Verbreitung des Waldensertums in Languedoc alarmierte die Kirchenbehörden. An eine durchgreifende Inquisition war dort vorläufig nicht zu denken, da fast die ganze Bevölkerung gegen die Einmischung der Bischöfe war und besonders eifrige Inquisitoren gewaltsam hinwegräumte. Die Kirche griff deshalb zum Mittel der Kreuzzüge gegen die südfranzösischen Ketzer. Alle Gläubigen wurden aufgerufen, sich für den Preis eines Ablasses ihrer Sünden an dem heiligen Krieg zu beteiligen. 1180 wurde der erste Kreuzzug gegen Südfrankreich unternommen, der gar nichts ausrichtete, da die Grafen von Languedoc die Angriffe zurückwiesen. 1195 wurde der Graf Raimund VI. von Toulouse mit dem päpstlichen Bann belegt, aber auch diese Maßregel blieb erfolglos. Die Kirche sandte sodann geistliche Missionen nach Languedoc, um die Ketzer zu bekehren. Einer dieser Missionen gehörte Dominik de Guzman, der Gründer des Dominikanerordens, an. Auch ihre Bemühungen waren fruchtlos. Der Papst griff wieder zum Mittel der Kreuzzüge und gab dem Kreuzheer die Weisung, das „divide et impera" zu beobachten, das heißt: den heiligen Krieg nicht mit dem Angriff auf den mächtigen Grafen von Toulouse zu beginnen, sondern vorerst die schwächeren Gegenden einzeln anzugreifen. Der heilige Krieg wurde unter Leitung Simons von Montfort im Jahre 1209 mit großer Energie begonnen. Beziers und Carcassonne wurden erstürmt, wobei viele Tausende waldensische und katholische Einwohner ihr Leben verloren. Bei der allgemeinen Schlächterei fielen sowohl Ketzer wie Rechtgläubige dem Schwert der Kreuzfahrer zum Opfer. Als die Kreuzfahrer bei der Erstürmung von Beziers doch einigermaßen zauderten, die Schlächterei allgemein zu machen, weil auch gute Katholiken getötet werden könnten, rief ihnen der päpstliche Legat, der Abt Arnold von Citeaux (Zisterzienser) zu: „Caedite eos; novil enim Dominus, qui sunt ejus", was der Dichter Lenau in seinem Gedicht „Die Albigenser" folgendermaßen übersetzt:

"Der Abt entgegnet: ,Dessen ist nicht Not,
Schlagt Ketzer, Katholiken, alle tot.
Wenn sie gemengt auch durcheinanderliegen,
Gott weiß die Seinen schon herauszukriegen."

Hiermit war aber der Krieg noch lange nicht zu Ende. Die Waldenserbewegung lebte immer wieder auf. Kreuzheere unternahmen von Zeit zu Zeit neue Feldzüge bis zum Jahre 1244, wobei das französische Königtum mithalf, denn seine zentralisierende Politik war darauf gerichtet, die mächtigen und fast unabhängigen Grafen von Languedoc zu vernichten und Südfrankreich unter die Herrschaft der Krone zu bringen. Seit 1232 konnte eine regelrechte Inquisition unter Leitung der Dominikaner eingerichtet werden. Kreuzfahrern und Dominikanern gelang es endlich, die Albigenser vollständig auszurotten, aber dieser Sieg wurde mit der Verheerung Südfrankreichs bezahlt. Der Erbe der Grafen von Languedoc war nicht die Kirche, sondern das Haus der Cape-tinger: die französischen Könige, die ein halbes Jahrhundert später den Papst gefangennahmen und seine Nachfolger in der Gefangenschaft von Avignon (1309—1377) hielten.

Das Ergebnis der Verfolgung der Albigenser zusammenfassend, sagt Lea (Gesch. der Inquisition, Bd. II, S. 119): „Im zwölften Jahrhundert war Südfrankreich das zivilisierteste Land Europas gewesen... Da kamen die Kreuzfahrer ins Land, und was sie noch unvollendet ließen, das wurde von der Inquisition aufgegriffen und grausam zu Ende geführt. Sie ließ ein zugrunde gerichtetes, verarmtes Land zurück, dessen Industrie vernichtet und dessen Handel zerstört war. Die Konfiskationen brachten die eingeborenen Adeligen an den Bettelstab. An ihre Stelle traten Fremde, die den Grund und Boden in Besitz nahmen und die rauhen Sitten des nördlichen Lehnswesens oder die despotischen Grundsätze des römischen Rechts in den weiten, von der Krone erworbenen Besitzungen einführten. Ein Volk von reichen natürlichen Gaben war mehr als ein Jahrhundert lang gefoltert, dezimiert, gedemütigt und beraubt worden. Die frühzeitige Zivilisation, welche versprach, der Kultur Europas den Weg zu weisen, war dahin, und Italien blieb die Ehre der Renaissance vorbehalten. Dafür war die Einheit des Glaubens und einer Kirche hergestellt, welche in dem Kampfe verhärtet, verkommen und verweltlicht wurde."

Die Arbeit der Inquisition in Frankreich war so gründlich, daß auf Jahrhunderte hinaus das soziale Ketzertum dort keine Wurzel mehr schlagen konnte.

Der Einfluß der Waldenser auf Kirche und Völker war nichtsdestoweniger sehr bedeutend. Unter dem Eindruck ihrer Propaganda entstanden die Bettelorden, wie etwa in unserer Zeit die christlich-soziale Bewegung als Folge der sozialdemokratischen Bewegung. Der waldensische Einfluß wirkte besonders kräftig in Böhmen und lieferte den radikalen Elementen die geistigen Waffen in den Hussitenkriegen.

4. Flandern: Beguinen und Begharden; Lollharden.

Nachrichten über die Katharerbewegung in Flandern liegen erst aus dem zwölften Jahrhundert vor, also aus einer viel späteren Zeit als über die lombardische und südfranzösische. Hieraus darf indes nicht gefolgert werden, daß die ketzerisch-soziale Bewegung erst spät in Flandern begonnen hätte. Der Grund für die verspäteten Nachrichten dürfte vielmehr darin zu finden sein, daß in Flandern eine gewisse Duldsamkeit geherrscht hatte und daß deshalb Inquisitionsprozesse, die uns die nötigen Dokumente über die Bewegung geliefert hätten, im elften Jahrhundert dort nicht stattfanden. Wir wissen bereits aus dem Schreiben des Lütticher Bischofs Wazo (siehe oben Seite 200), daß in jener Zeit in Flandern Ketzerverfolgungen nicht beliebt waren.

Soziale Gedanken und Vereinigungen sowie gno-stisch-manichäische Lehren fanden jedoch frühzeitig Verbreitung unter der werktätigen Bevölkerung der flandrischen Städte, den Sitzen blühender Gewerbe und den Mittelpunkten weiter Handelsbeziehungen. Die schon im elften Jahrhundert bekannte Bezeichnung der Katharer als Textores (Weber) stammt aus Flandern. Die flämischen Katharer unterschieden aufs bestimmteste zwischen dem alt- und dem neu-testamentlichen Gott. Mit jenem, dem Gott des Gesetzes, wollten sie nichts zu tun haben. Der gute Gott des Neuen Testaments sei allein der wahre Gott, und der wollte, daß man ihm im Geiste diene, nicht durch Zeremonien und Sakramente, nicht in Häusern von Menschen gebaut. Auf gute Werke aber hielten sie mit großem Ernst, waren ungemein fleißig in ihrem Gewerbe und verwarfen, wie es in der Bergpredigt steht, den Eid und die Todesstrafe (Hasse-Köhler, Kirchengesch., 1864, Teil II, S. 128). Keuschheit gehörte zu ihren Haupttugenden. Die urchristlichen Zustände waren ihr Ideal.

Die eigentlich ketzerisch-soziale Schöpfung Flanderns waren die Beguinen und die Begharden. Über den Ursprung und die Benennung dieser Sekte ist viel geschrieben und gestritten worden. Manche Schriftsteller führen sie zurück auf einen gewissen Lambert-le-Begue (Lambert den Stammler), einen Priester in Lüttich, der um das Jahr 1180 gegen die Verweltlichung der Kirche und die Käuflichkeit der geistlichen Ämter eine heftige Agitation einleitete. Er wurde verhaftet und von den Priestern erschlagen. Er soll einige Jahre vorher eine Anzahl lediger Frauen zu einer Art zönobitischer Laienschwesternschaft organisiert haben. Am wahrscheinlichsten ist jedoch die Abstammung der Bezeichnung Beguinen und Begharden vom altsächsischen Zeitwort beg, das betteln oder auch bitten bedeutet. Die Beguinen waren demnach ein weiblicher Laienorden, dessen Mitglieder in apostolischer Armut lebten und auf milde Gaben angewiesen waren. Daß unter den ledigen Frauen derartige Organisationen entstehen konnten, deutet darauf hin, daß entweder viele Männer unter dem Einfluß der katharischen Lehren die Ehe verschmähten oder aber — wie vielfach behauptet wird —, daß ein Mangel an Männern sich einstellte infolge der großen Verluste in den Kreuzzügen, so daß ein starker Überschuß an Frauen entstand(4). Wahrscheinlich waren beide Faktoren am Werke, die Frauen zu veranlassen, sich eigene Organisationen zu geben, was damals doch nur auf religiöser Grundlage geschehen konnte. Das Zöno-biensystem war das Muster. Für die Dauer ihres gemeinsamen Lebens versprachen sie, in Keuschheit und Gehorsam zu leben, durch Arbeit oder durch Betteln zum gemeinsamen Unterhalt beizutragen, die Pflichten der Gastfreundschaft und Krankenpflege überall auszuüben. Ihre Zönobien wurden Beguinen-höfe genannt. Eine strenge Durchführung des Zö-nobienlebens konnte jedoch weder erwartet noch verlangt werden, da die Vereinigungen freiwillig waren.

Mit der Zeit folgten die Männer diesem Beispiele und bildeten Beghardenhäuser. Unverheiratete, werktätige Männer, die ein Leben der Frömmigkeit und der Brüderlichkeit führen wollten, taten sich zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammen, wirkten und lebten genossenschaftlich, studierten die Bibel und dachten über Gott und Welt nach. Gleich den Waldensern zeichneten sie sich durch Fleiß, Nüchternheit und Sparsamkeit aus, genossen allgemeine Achtung und waren besonders bei den armen Schichten der gewerbereichen und blühenden Städte Flanderns beliebt. Die Organisation der Begharden zeigt große Ähnlichkeit mit der der Humiliaten der lombardischen Städte.

Es gab aber auch Beguinen und Begharden, denen das seßhafte, mehr oder weniger genossenschaftliche zönobitische Leben als wenig vollkommen erschien, denn die Gemeinwirtschaft setzt doch Gemeineigentum, Gemeinbesitz voraus — immerhin also Besitz, was aber weniger der Nachfolge Christi entsprach als die apostolische Armut oder die vollständige Besitzlosigkeit. Wir sehen hier denselben inneren Konflikt, wie er sich innerhalb des Franziskanerordens abspielte. Die Beguinen und Begharden, die so dachten, zogen das wandernde, bettelnde Propagandaleben vor.

Die Behandlung, die die kirchlichen Behörden den beiden Kategorien von Begharden angedeihen ließen, war verschieden. Während die seßhaften, genossenschaftlichen Begharden und Beguinen im allgemeinen gefördert wurden, von den Bischöfen und frommen Adeligen Unterstützung erhielten, aber auch unter eine feste Ordensdisziplin gestellt wurden, betrachtete man die wandernden Begharden und Beguinen bald als ketzerisch, und man setzte sie rücksichtslosen Verfolgungen aus. Auf ihren Wanderungen kamen sie in Berührung mit den verschiedenen katharischen Strömungen, wodurch sie in die ganze antikirchliche und antinomistische Bewegung hineingezogen wurden. Sie nahmen amalrikanische frei-geistig-pantheistische Lehren sowie chiliastische Anschauungen der franziskanischen Linken an.

Die Begharden und Beguinen breiteten sich rasch im ganzen Rheinbecken aus. Um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts waren sie bereits in Köln, Mainz, Straßburg und Metz stark vertreten. Und in diesen Städten begann auch ihre Verfolgung. Ihre weitere Geschichte spielte sich in Deutschland ab, und wir werden sie im folgenden Kapitel behandeln.

Eine diesen Bruderschaften verwandte Vereinigung war die der Lollharden. Sie soll um das Jahr 1300 in Antwerpen entstanden sein. Ihre Mitglieder widmeten sich der Kranken- und Irrsinnigenpflege, hauptsächlich aber der Bestattung der Toten. Das hierzu nötige Geld erwarben sie teils durch Arbeit, teils durch Betteln. In der ketzerisch-sozialen Geschichte traten sie erst zu Ende des vierzehnten Jahrhunderts in England auf, wohin auch ihre weitere Behandlung gehört.

5. Deutschland: Waldenser, Beguinen und Begharden, die deutschen Mystiker, Brüder vom gemeinsamen Leben.

Die deutschen Lande brachten keine eigene ketzerisch-soziale Bewegung hervor. Was von dieser in Deutschland auftrat, war ausländischen Ursprungs, jedoch erhielt jede ketzerisch-soziale Richtung, die durch den deutschen Geist hindurchging, eine Vertiefung und Bereicherung.

Die deutschen Bischöfe und Behörden waren anfangs wenig geneigt, Inquisitionsgerichte zu bestellen. Möglich, daß der Investiturstreit, wie überhaupt der Kampf zwischen Kaiser und Papst einen gewissen Grad von Duldsamkeit gegenüber abweichenden Meinungen in Glaubenssachen hier zur Folge hatte. Auf jeden Fall darf festgestellt werden, daß, abgesehen von wenigen Ausnahmen, ein systematischer antiketzerischer Fanatismus, wie er in Frankreich und Spanien so schrecklich wütete, bei deutschen Behörden, Priestern und Mönchen nicht vorhanden war. Die deutschen Gesetzbücher jener Zeit wissen auch nichts von der Einrichtung einer Inquisition. Der Sachsenspiegel (entstanden um 1230), der das Recht der norddeutschen Lande zusammenfaßte, bestimmt zwar den Feuertod für Ungläubige, Giftmischer und Zauberer, sagt jedoch nichts von einer besonderen, durch eine Inquisition geführten Gerichtsbarkeit. Der Schwabenspiegel (um 1270), der das Recht der süddeutschen Lande zusammenfaßte, unterwirft zwar die Ketzer der bischöflichen Gerichtsbarkeit, schützt aber die Angeklagten gegen rachsüchtige Denunzianten: die Ankläger werden mit der Strafe des Scheiterhaufens bedroht, wenn sie ihre Angaben nicht beweisen können.

Der bulgarisch-lombardische Katharismus fand nur im elften und zwölften Jahrhundert in Goslar und Umgegend vereinzelte Anhänger, die ihren Glauben mit dem Tode bezahlten.

Tiefere Wurzeln schlugen die Waldenser, die Beguinen und Begharden sowie die Brüder des freien Geistes.

Schon im Jahre 1199 richtete Papst Innozenz III. eine Aufforderung an die Waldenser von Metz, ihre in der Volkssprache verfaßten Schriften auszuliefern. Da sie die Aufforderung unbeachtet ließen, sandte der Papst drei Äbte nach Metz, denen es gelang, der ketzerischen Schriften habhaft zu werden und sie zu verbrennen. Die Waldenser blieben jedoch unbehelligt in ihrer Propaganda. Einige Jahre später predigte Bischof Bertrand von Metz gegen sie, aber die Bürger der Stadt kehrten sich nicht an die Predigt und schützten die Waldenser gegen alle Verfolgungen. Schlimmer erging es jedoch, wie früher gezeigt wurde, den Waldensern in Straßburg um das Jahr 1213, die unter anderem auch der Gütergemeinschaft und der freien Liebe angeklagt waren. Mehrere der Angeklagten wurden dem Scheiterhaufen überliefert. 1229 fanden wieder in Straßburg Waldenserprozesse statt, die zu jahrelangen Verfolgungen führten. Die standhaften Ketzer wurden verbrannt, die abschwörenden erhielten Kirchenstrafen und kamen mit dem Leben davon.

Inzwischen aber wirkte Konrad von Marburg als Inquisitor und zeigte den Deutschen, was diese Einrichtung wirklich bedeutet. Konrad war Weltpriester, der seit langem als Ketzerrichter und Kreuzzugsagitator dem Papste bekannt war, erhielt im Jahre 1227 den Auftrag von Papst Gregor IX., die Ketzerei in Deutschland auszurotten, ebenso für eine Säuberung der Kirche dort zu sorgen. Der Papst beklagt in seinem Schreiben an Konrad den schlimmen Zustand der deutschen Priesterschaft; diese sei der Wollust, der Völlerei verfallen; sie begehe gewohnheitsmäßig Verbrechen, die sogar von Laien verdammt werden. Eine Reform sei dringend nötig und Konrad solle sie vornehmen. Gleichzeitig wurde er als Beichtvater und Seelsorger der Frau des Landgrafen Ludwig von Thüringen angestellt. Von Kirchenreformen, die Konrad vorgenommen haben sollte, hört man nichts; sein Amt als Beichtvater und Ketzerrichter scheint seine ganze Zeit in Anspruch genommen zu haben. Bald wurden Ketzer in Menge entdeckt, und die deutschen Bischöfe wurden vom Papst angetrieben, die Edikte gegen die Ketzer schonungslos auszuführen. Konrad erhielt umfassende Vollmachten und er ging ans Werk. Opfer fielen rechts und links. Keine Schicht der Bevölkerung war vor der Ketzerverfolgung sicher. Irgendeine Denunziation eines rachsüchtigen Menschen gegen seine Nachbarn genügte, das schlimmste Unheil über ganze Familien heraufzubeschwören. Die albernsten Geschichten fanden bei Konrad Glauben, wenn sie ihm nur Gelegenheit gaben, angeklagte Ketzer auf den Scheiterhaufen oder auf die Folter zu bringen. Konrad trieb es schließlich so toll, daß die Erzbischöfe von Trier und Köln ihn baten, in einem so wichtigen Amte mit mehr Mäßigung und Vorsicht zu verfahren. Aber er kannte keine Mäßigung. Im Jahre 1232 ging er soweit, auf eine Denunziation hin, die Grafen von Arnsberg, Looz und Sayn aus der Diözese Trier unter Anklage der Ketzerei zu stellen. Konrad gelüstete es nach den Lorbeeren der südfranzösischen Inquisition, die die Grafen von Lan-guedoc gedemütigt hatte. Er sah nur nicht, daß die politisch-nationale Entwicklung in Frankreich und in Deutschland diametral entgegengesetzt verlief. Während in Frankreich die nationale Zentralisation, die Abhängigkeit der Grafen von der Krone immer mehr wuchs, nahm sie in Deutschland rasch ab: hier wuchsen die Vorrechte der Fürsten und Grafen, die königliche Gewalt wurde schwächer und konnte mit den Grafen nicht so umspringen wie die französische Krone mit den Grafen von Toulouse. Die angeklagten deutschen Grafen ließen sich durch Konrad nicht einschüchtern, sondern veranlaßten den Erzbischof von Mainz, ein Konzil einzuberufen und es in der Angelegenheit entscheiden zu lassen. Da es sich um hohe Herrschaften handelte, folgten König Heinrich, viele Fürsten und Bischöfe der Einladung, so daß die Versammlung, die im Juli 1233 zusammentrat, mehr einem Reichstage als einem Kirchenkonzil ähnlich war. Der Graf von Sayn erklärte sich für unschuldig und erbot sich, durch Beweise die Anklage zu entkräften. Der Inquisitor Konrad fühlte sofort, daß seine Rolle ausgespielt sei: die von ihm vorgeführten Zeugen sagten teils nichts aus, teils erklärten sie, daß sie aus Furcht vor Konrad die Anklage unterstützt hatten. Das Konzil verwandelte sich in ein Tribunal gegen den Inquisitor. Die ganze Sache wurde vertagt, um über sie nach Rom Bericht zu erstatten. Ganz außer sich über die Niederlage, verließ Konrad das Konzil und begann sofort in den Straßen von Mainz den Kreuzzug gegen die Ketzer zu predigen. Dann ritt er mit seinem Begleiter zurück nach Marburg, aber sein Heim erreichte er nicht: In der Nähe der Stadt lauerten ihm am 30. Juli 1233 einige Adelige auf und erschlugen ihn. Deutschland atmete erleichtert auf, wie nach dem Tode eines der schlimmsten Tyrannen.

Im Jahre 1248 hören wir von einer ketzerischsozialen Demonstration in der Höhe von Schwäbisch-Hall, die jedoch unbehelligt blieb. Weit verbreitet war das Waldensertum in der Diözese Passau, die das ganze östliche Bayern und das nördliche Österreich (von Böhmen bis Steiermark) umfaßte. Es gab hier 41 Schulen oder Gemeinden der Waldenser, hauptsächlich in Dörfern. Ihre Mitglieder gehörten fast ausschließlich dem Bauern- und Handwerkerstande an. Die Bewegung hatte hier im letzten Viertel des dreizehnten Jahrhunderts viel von der Inquisition zu leiden. Dann hören wir ein Jahrhundert lang nichts mehr von den Waldensern, da die Kirche damit beschäftigt war, die Beguinen und Begharden auszurotten. Die Waldenser vermehrten sich in dieser Schonzeit, bis die Reihe der Verfolgungen an sie kam. Um das Jahr 1390 wurden in Mainz mehrere Waldenser ins bischöfliche Gefängnis geworfen. Auf der Folter gaben sie noch einige Namen von Genossen an, die dann dem weltlichen Arm ausgeliefert wurden. Im Jahre 1392 wurden in Bingen 36 Waldenser verbrannt. Gleichzeitig entdeckte man Waldenser in Österreich, Böhmen, Mähren, Polen, Ungarn, Bayern, Schwaben, Steiermark, Sachsen und Pommern. Um das Jahr 1315 zählten die Waldenser in Österreich 80000 Mitglieder. Einer der Inquisitoren, der Dominikaner Arnold, wurde im Jahre 1318 in Krems auf der Kanzel erschlagen. Zwei Jahrzehnte später (1338) töteten Verwandte der verfolgten Waldenser eine große Anzahl von Inquisitoren und deren Gehilfen. In Steyr wurden 1397 etwa tausend Waldenser verhaftet, wovon hundert auf dem Scheiterhaufen umkamen.

Seit Beginn des vierzehnten Jahrhunderts wurde die Verfolgung der Beguinen und Begharden von der Kirche aufgenommen. 1310 tagten Provinzialkonzilien in Trier und Mainz, die scharfe Bestimmungen gegen Beguinen und Begharden erließen. Sie waren um jene Zeit schon sehr stark im Rheinbecken, wandten sich insbesondere gegen die anerkannten Bettelorden (Dominikaner und Franziskaner), disputierten mit ihnen öffentlich, allem Anschein nach mit großem Erfolg, denn der franziskanische Ordensgeneral sandte 1308 den bedeutendsten Kopf des Ordens: Johannes Duns Scotus, nach Köln, um eine Gegenpropaganda zu organisieren. Scotus starb jedoch bald, so daß die Begharden ihre Agitation ungestört betreiben konnten. Schlimmer erging es den Beguinen in Paris, wo 1310 die Beguine Margarete Porete vom Hennegau den Feuertod erlitt und mit unerschütterlicher Standhaftigkeit das Martyrium ertrug. Eine Reihe von Bestimmungen erließ Papst Clemens V. (1305—1314), die durch seinen Nachfolger Johann XXII. im Jahre 1317 in Kraft gesetzt wurden. Viele Beguinenhöfe wurden aufgelöst, die Insassen aufs Pflaster geworfen und ihr Gemeinbesitz beschlagnahmt. Arm und verlassen, ergaben sich viele der Prostitution. Im zweiten Jahrzehnt des vierzehnten Jahrhunderts fanden große Verfolgungen der Begharden in der Diözese von Mainz statt. 1319 beklagte es Johann XXII., daß in Straßburg die Clementinischen Bestimmungen nicht angewandt worden seien. 1321 sagt er in einem Dekret, daß in mehreren Teilen Deutschlands „sogenannte Beguinen in großer Menge wohnen, gemeinsam leben und eine besondere Tracht tragen". Er klagt sie an, daß ihr frommer Lebenswandel nur erlogener Schein sei; er verlangt deren Auflösung.

Seit 1320 wurden die Begharden in Köln scharfen Verfolgungen ausgesetzt, ihr Gegner war Erzbischof Heinrich von Köln, der auch Meister Eckehart denunzierte. 1325 stand eine große Anzahl von Begharden vor dem bischöflichen Gericht unter der Anklage, ketzerische Lehren verbreitet und freie Liebe getrieben zu haben. Etwa fünfzig der Angeklagten blieben standhaft, verfielen der Verurteilung und wurden vom weltlichen Arm teils dem Scheiterhaufen, teils den Rheinfluten überliefert. Viel Aufsehen weckte der Ketzerprozeß gegen den holländischen „Lollharden" Walter, einen der fähigsten Beghardenmissionare. Seine Reden und Schriften, in volkstümlicher, allgemeinverständlicher Sprache gehalten, zeigten große Werbekraft für die beghardischen Lehren. Im Jahre 1327 — im Todesjahre Meister Eckeharts — wurde er verhaftet, den grausamsten Folterungen unterworfen, aber seine Standhaftigkeit war nicht zu erschüttern: er machte keine Angaben, verriet keinen Namen. Nach der Verurteilung erwartete er sein Schicksal mit heiterem Gemüte. Freudig bestieg er den Scheiterhaufen und starb in den Flammen. Bei all diesen Kölner Prozessen drängt sich der Gedanke auf, daß ihr eigentlicher Zweck gewesen sei, dem Erzbischof Belastungsmaterial gegen Meister Eckehart zu verschaffen und ihn auf den Scheiterhaufen zu bringen.

Meister Eckehart stand den pantheistischen und antinomistischen Lehren der Brüder des freien Geistes sehr nahe, aber keineswegs ihren Schlußfolgerungen. Er hing bis ans Ende der apostolischen Armut an und freute sich innigst, sämtliche fleischlichen Anfechtungen überwunden zu haben. Seine berühmten Jünger: die deutschen Mystiker Heinrich Suso (gest. 1361) und Johann Tauler (gest. 1361) lebten in strenger Einfachheit; sie waren der Überzeugung, daß die (mystische) Vereinigung der Menschen mit Gott nur möglich ist, wenn der Mensch ledig und los aller vergänglichen Dinge ist. Ihr holländischer Zeit- und Gesinnungsgenosse Johann von Ruysbroeck (1294—1381), verbreitete ähnliche Lehren. Im Gegensatz zu den anarchistisch-individualistischen Schlußfolgerungen, die die Brüder des freien Geistes aus ihren pantheistisch-amalrikani-schen Lehren zogen, war die Praxis der mit Meister Eckehart verwandten Mystiker entweder apostolische Armut oder die zönobitische Regel. Ruysbroecks Schüler, Gerhart Groot aus Deventer (1340—1384), gründete die kommunistische Gemeinde der „Brüder vom gemeinsamen Leben", offenbar in Opposition gegen die Brüder vom freien Geiste. Groot war jedoch nicht frei von der Sucht der Ketzerverfolgung. Als nämlich die Inquisition um das Jahr 1370 wieder in Deutschland ihre Fangarme ausstreckte, flüchteten sich einige Brüder des freien Geistes nach Holland, wo sie einen günstigen Boden für ihre pantheistischen Lehren zu finden hofften. Hatte doch Ruysbroeck ein Leben lang ähnliche Theorien verbreitet. Groot ließ sich jedoch dazu hinreißen, sie öffentlich der Ketzerei anzuklagen und sie fanatisch zu verfolgen. Nur sein früher Tod schützte Holland vor den Schrecken der Inquisition. Seine Gründung: die Brüder vom gemeinsamen Leben, entwickelte sich gut unter Leitung von Groots Nachfolgern. Die Mitglieder dieser Bruderschaften waren durch kein Gelübde gebunden, sondern lebten in Gütergemeinschaft und gemeinsamer Arbeit, studierten Theologie, schrieben alte Manuskripte ab, oder bereiteten sich auf priesterliche Ämter vor. Die Bruderschaften verbreiteten sich über die Niederlande und Norddeutschland. In ihrem Gemeinschaftsheim in Windesheim lernten Thomas von Kempen, der berühmte Verfasser der „Nachfolge Christi", sowie Erasmus von Rotterdam, der große Humanist, Anhänger des urchristlichen Kommunismus und Freund von Thomas Morus. In der Niederlassung der Bruderschaft in Magdeburg hielt sich der junge Luther ein Jahr lang auf.

Anmerkungen

1) Heeren, Kleine Schriften, Göttingen 1803, Teil 3, S. 334 ff.

2) J. C. Wolf, Historia Bogomilorum. Wittenberg 1742. — Ch. Schmidt, Histoire des Cathares ou Albigeois, Paris, Geneve 1847—49; H. Ch. Lea, Geschichte der Inquisition im Mittelalter, deutsche Übersetzung, Bonn 1909, Bd. z, S. 329 ff. Popowitsch, Neue Zeit, 24. Jahrg., S. 348 ff. Bogomilen gab es auch in Rußland im 15. Jahrhundert. (Bogoslowsky Wiestnik, II, 436—459.)

3) Wie diese Einflüsse wirkten und welchen guten Ruf die Ka-tharer in Nordfrankreich genossen, zeigt folgender Fall, der sich um das Jahr M 80 bei Reims ereignete, und über den einer seiner Beteiligten einen Bericht hinterließ: Gervasius von Tilbury, ein junger Kleriker in Reims, ritt eines Nachmittags mit seinem Erzbischof aus. Sein Blick fiel mit Wohlgefallen auf eine junge, anmutige weibliche Person, die allein in einem Weinberge arbeitete. Er bot ihr sofort galant seine Liebe an, wurde aber zurückgewiesen mit der Erklärung, eine derartige Handlung wäre eine Sünde, für die sie ohne Gnade verdammt würde. In dieser Erklärung des Mädchens erblickte der Erzbischof ein offenbares Zeichen der Zugehörigkeit zur katharischen Bewegung und ließ die Ketzerin verhaften. Sie wurde angeklagt, blieb standhaft während des ganzen Prozesses und wurde schließlich dem Flammentode überliefert (Lea, Gesch. d. Inquisition, i. Band, S. 122—23).

4) Flandrische Kreuzzüge wurden unternommen in den Jahren 1138, 1148, 1157 und 1163; bei der Eroberung Konstantinopels (1204) kämpften die Flamen in vorderster Reihe. (Warnkönig, Flandrische Staats- und Rechtsgeschichte, Tübingen 1835, Bd. I, S. 147, 242.
 

Editorische Anmerkungen

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S. 203 - 233

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html