Sozialismus gegen Kapitalismus vor Gericht
Türkei/İstanbul: Prozessauftakt gegen 23 KommunistInnen

von
Renate Hartmann und Ulf Petersen
(Prozessbeobachtung in Istanbul)

11/07

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Nach 14 Monaten Untersuchungshaft begann am gestrigen Freitag, 26. Oktober, der Prozess gegen 23 kommunistische Journalisten, Gewerkschafterİnnen und Jugendaktivisten. Ihnen wird der "Versuch eines Umsturzes der Verfassungsordnung" und die führende Position in einer in der Türkei illegalen Organisation (der MLKP, Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei Türkei/Nordkurdistan) vorgeworfen.

Für 13 der Angeklagten wird mehrfach lebenslänglich, für die restlichen 10 werden Haftstrafen zwischen 10,5 und 45 Jahren - insgesamt 3000 Jahre Gefängnis - gefordert. Sowohl die Angeklagten als auch die Verteidigerİnnnnen lehnten zu diesem Zeitpunkt eine juristische Verteidigung ab, da ihnen bis zum Prozessbeginn die 13.500 Seiten umfassenden Ermittlungsakten größtenteils vorenthalten wurden. Dies macht eine Verteidigung unmöglich. Die Anwälte forderten in ihrem Antrag die vollständige Akteneinsicht, eine Vertagung der Verhandlung, Freilassung aller Angeklagten aus der Untersuchungshaft sowie die Entfernung der offenkundig gefälschten und bedeutungslosen Beweisstücke aus den Akten.

Für die Angeklagten geht es in dem Verfahren um eine inhaltliche Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus. In ihren sehr ausführlichen und fundierten Redebeiträgen erklärten sie die Ziele des Sozialismus und kritisierten die weltweit und in der Türkei herrschende Ordnung. Eindringlich umrissen sie die Vision einer Welt ohne Ausbeutung, Unterdrückung und soziales Elend. Dabei erklärten sie die Details sozialistischer Programmatik zur Überwindung patriarchaler Herrschaft und Unterdrückung von ethnischen Minderheiten. Auch die Auflösung der Polizei als Teil einer Unterdrückungsmaschinerie und ihre Ersetzung durch kommunale und über demokratische Räte kontrollierte Strukturen wurde erläutert. Die anwesenden Militärpolizisten (Jandarma) erwachten bei diesem Beitrag aus ihrem Schlummer und wurden hellhörig.

Arif Celebi sagte: „Ich bin Kommunist und Atheist. Ich gehöre der kurdischen Nation an, ich bin Alevit und meine Muttersprache ist Kurdisch." Er betonte, „eine Ordnung, die einen Völkermord an den Armeniern verübte, die Kurden mit Assimilation und Völkermord wie auch die in der Türkei lebenden Griechen auszulöschen versuchte" habe sich schon lange überlebt.
Seyfi Polat begann mit den Worten: „Hier soll heute die MLKP angeklagt werden und die Weltanschauung, die sie vertritt." Er sagte, dass „die Entscheidung über dieses Verfahren die Zeit und unser Volk fällen werden", und es für ihn eine Ehre sei, die MLKP zu verteidigen.

Das Verfahren vor dem Staatsicherheitsgericht DMG dauerte sechs Stunden. Die Richter verhielten sich den Angeklagten und Verteidigern gegenüber anders als in den bisherigen Verfahren respektvoll und hörten aufmerksam zu. Vor Prozessbeginn gab es vor dem Gericht eine Pressekundgebung mit ca. 200 TeilnehmerInnen. Wegen der angespannten Lage mit Kriegsvorbereitung und nationalistischer Hysterie auf den Straßen waren viele UnterstützerInnen und Freunde der Angeklagten nicht gekommen. Erfreulich war die Teilnahme von 11 internationalen ProzessbeobachterInnen aus Italien, Frankreich, Belgien und Deutschland. Nach hartnäckigen und wiederholten Diskussionen mit Polizei und Justiz erlaubte der vorsitzende Richter nach zwei Stunden den Einlaß der ausländischen BeobachterInnen.

Dieses ist der erste Prozess, der nach dem neuen türkischen Anti-Terror-Gesetz vom Sommer letzten Jahres durchgeführt wird. Europaweit gibt es die Tendenz, politischen Widerstand als "Terrorismus" zu kriminalisieren. Aktuelle Beispiele sind das Vorgehen im Vorfeld der G8-Proteste in Deutschland, die Operationen gegen die Neue Kommunistische Partei Italiens und die baskische Partei Batasuna. Es ist höchste Zeit über den Tellerrand zu schauen und internationale Solidarität zu praktizieren.

Editorische Anmerkungen

Dieser Artikel erschien bei Indymedia - wir spiegelten von dort.

Soliaufruf für die Angeklagten