Heute denke ich, daß es bei uns Fehlentwicklungen gegeben hat,
die ihren Ausgangspunkt schon sehr früh in den 70ern hatten und
zwar v. a. in unserer zunehmenden Abwendung von der
gesellschaftlichen Realität, dem Zorn, dem Frust, dem Leiden
vieler Menschen hier. Aus der 68er Revolte entstanden, bezogen
wir uns in unserer Aufbauphase sehr stark und direkt auf die
Massenproteste dieser Zeit. Im ursprünglichen
Organisationskonzept ging es noch um die unmittelbare Verbindung
von Stadtguerilla und Basisarbeit, darum, daß alle gleichzeitig
auch in Stadtteil- oder Betriebsgruppen mitmachen sollten. Daß
diese Vorstellung schnell aufgegeben wurde, hatte zum Teil
sicher die praktischen Gründe, von denen die Genossinnen aus
dieser Zeit reden, nämlich daß der sofort hochgepuschte Apparat
der politischen Polizei, der alle linken Gruppen und
Zusammenhänge unter Observation nahm, diese Zweigleisigkeit
unmöglich erscheinen ließ. Aber die sehr schnelle Isolierung
selbst innerhalb des linken Spektrums ist allein daraus nicht zu
erklären.Ich will hier nur kurz einige Stichpunkte nennen:
die Diskussionen wurden von beiden Seiten aus zunehmend
unsachlicher und dogmatischer; gegenseitige Unterstellungen wie
Putschismus und Militarismus einerseits — Reformismus,
Integrations- bzw. Karrierewille und Unterwerfung unter das
System andererseits: auf jeden Fall waren sie nicht mehr geprägt
vom Willen des gegenseitigen Sich-Zuhörens und Verstehen-Wollens,
und es ging von beiden Seiten aus nicht mehr darum, hier
zusammen eine Befreiungsperspektive zu entwickeln.
Manifestiert wurde dieser Bruch nach der ersten großen
Verhaftungswelle und der Tatsache, daß es angesichts des
offensichtlichen Venichtungswillens gegen politische Gefangene
keine Kraft gab, die dem eine Grenze setzte. Aus Sicht der
Gefangenen verweigerte ihnen der allergrößte Teil der Leute, mit
denen sie der gemeinsame Aufbruch verband,
an dieser fundamentalen Frage die Solidarität. Gleichzeitig
war es aber auch so, daß damals, wie fast in der gesamten
RAF-Geschichte, kritische Solidarität immer abgelehnt und
diffamiert wurde. Solidarisches Handeln an der Frage der
Hartbedingungen bei gleichzeitiger Kritik oder Infragestellung
unserer politischen Konzeption war nicht erwünscht.
Was blieb und was zum Teil in seinen Rückwirkungen bis heute
zu spüren ist, sind Verbitterung, Verletztheiten und Distanz auf
beiden Seiten.
Unser frühes Abwenden von der gesellschaftlichen Realität als
Bezugspunkt unserer Politik und die damit einhergehende
Isolierung sind zu kritisieren, weil so keine tatsächlich
relevante politische Kraft aufzubauen war.
Es ist aber auch wichtig zu verstehen, vor welchem
Hintergrund es zu dieser Isolierung gekommen ist, denn die ist
ja nicht einfach im luftleeren Raum entstanden, sondern hängt
zusammen mit eigenen Erfahrungen und der gesellschaftlichen
Situation, auf die wir getroffen sind. Ich denke, zur RAF sind
zu jeder Zeit nur Menschen mit ganz bestimmten Erfahrungen,
Weltbildern, Vorstellungen usw. gestoßen. Für mich, genauso wie
für alle anderen, hätten objektiv unzählige andere Lebenswege
offengestanden. Daß wir uns für diesen entschieden haben, hat
Gründe, die ganz sicher auch mit unseren persönlichen
Lebensgeschichten zusammenhängen, die — obwohl sie sehr
unterschiedlich sind - für jede und jeden von uns zu im Kern
ähnlichen Erfahrungen und dann Konsequenzen geführt haben.
Daß das so ist, hat seine Gründe in der gesellschaftlichen
Situation, aber auch in der Geschichte dieses Landes, in deren
Schatten wir aufgewachsen sind.
Deshalb war die RAF trotz unserer relativen Isolierung immer
auch Ausdruck und Antwort auf diese Realität -anders hätte es
die mehr als zwei Jahrzehnte fortwährende Kontinuität, also die
Tatsache, daß sich immer wieder Menschen für diesen Weg
entschieden haben, nicht gegeben. Wir haben nicht einfach im
luftleeren Raum agiert, es gab immer Menschen, die eine
Verbindung zwischen ihren eigenen Kämpfen und unserem Kampf
sahen und immer auch welche, die sich in unserem Kampf - und sei
es allein als Antwort auf ihre permanente Entwürdigung und
Unterwerfung - wiederfinden konnten.
Während meiner Kindheit erlebte dieses Land — und so auch
meine Familie - die Zeit des „Wirtschaftswunders", mit all ihrer
Sinnentleerung und Verknüpfung des Lebensinhalts mit materiellen
Werten und Konsum. All das konnte nicht darüber hinwegtäuschen,
daß darunter etwas anderes Unausgesprochenes verborgen werden
sollte. Faschismus, seine Verbrechen und der Krieg, auf den
familiären Rahmen bezogen, z.B. die Rolle meines Vaters während
seiner Zeit als Wehrmachtsoldat, waren Tabuthemen und lagen wie
eine Glocke aus Dumpfheit, Enge und Schweigen über allem.
Ich hatte, wenn auch anfangs nicht das Wissen, so doch die
Ahnung, daß es da eine ungeheure Schuld gibt, über die niemand
redet.
In einem Brief an Freunde hatte ich Erinnerungen aus meiner
Kindheit beschrieben, von denen ich denke, daß sie so oder
ähnlich zu unzähligen Biographien von Menschen meiner
Generation, die in Deutschland aufgewachsen sind, gehören. Für
mich waren sie sehr einschneidend, und ich bin mir sicher, daß
sie mein Leben entscheidend mit geprägt haben.
„In dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, lebt seit
Generationen die Familie meiner Mutter - während der
Naziherrschaft war am Rande dieses Dorfes ein Arbeitslager mit
Kriegsgefangenen, und durch unser Dorf fuhren regelmäßig Busse
mit körperlich und/oder geistig behinderten Menschen, die nach
Hadamar gebracht wurden. In Hadamar ist eine psychiatrische
Anstalt, in der im Dritten Reich Gaskammern installiert wurden,
und dorthin wurden die Menschen in den Bussen gebracht, sie
wurden alle vergast und verbrannt.
Als Kinder wußten wir von beidem, vom Arbeitslager und auch
von dem Gas bzw. von den Öfen, in denen die Leichen verbrannt
worden sind. Mit uns wurde aber nie darüber gesprochen, wir
kannten das nur aus Gesprächsfetzen von Erwachsenen, die wir
heimlich in unbeobachteten Momenten aufgeschnappt hatten. Wenn
dabei die Er vachsenen die Anwesenheit von uns Kindern
bemerkten, wurden solche Gespräche - die immer in geflüstertem
Ton geführt wurden -sofort abgebrochen. Wir hatten von allem
auch keine genaue Vorstellung, sondern versuchten uns aus
Halbsätzen wie: 'alle wußten doch, was mit den Menschen in den
Bussen passiert' oder 'alle konnten es doch riechen' ein Bild zu
machen."
Gerade vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen ist es heute
schwer nachvollziehbar, daß wir genauso wie andere linke
Zusammenhänge zu einem Faschismusbegriff kommen konnten, in dem
Faschismus in erster Linie als über der Gesellschaft stehende,
den Kapitalinteressen dienende Herrschaftsstruktur gesehen
wurde. Dabei hätten doch gerade wir das aus unserem eigenen
Leben besser wissen können. Die Kontinuität des NS-Faschismus
zeigte sich nicht nur in der Kontinuität von Nazi-Richtern usw..
Bis in die kleinsten Winkel der Gesellschaft, des täglichen
Lebens hatten sich nach 1945 wesentliche
Tugenden, Denk- und Wertvorstellungen weiter gehalten,, wurden
reproduziert und an uns weitergegeben. Aber das wurde in seiner
ganzen Dimension lange Zeit auch in Teilen der Linken viel zu
wenig gesehen.
Die Konsequenzen aus der Geschichte waren in erster Linie
eine radikale Verurteilung von Faschismus. Abgrenzung zu den
Eltern und eine tiefe moralische Verpflichtung für einen selbst,
wobei diese Abgrenzung mit Sicherheit eine nicht zu
unterschätzende Rolle auch für die Ausrichtung und Bestimmung
unserer Kämpfe gespielt hat. Die Linke in Deutschland hat alles
"Deutsche" immer weit von sich gewiesen, aber so richtig und
notwendig Internationalismus war und ist, mit unserer
internationalistischen Identität haben wir uns lange Zeit auch
viele Fragen vom Hals gehalten, z.B. solche, die seit einigen
Jahren mit der Rassismusdiskussion auf den Tisch gekommen sind,
unsere eigenen Wertmuster und Vorurteile betreffend.
Auch bei der Ausprägung unseres Moralbegriffs hat die Haltung
dieser Elterngeneration meiner Meinung nach eine wichtige Rolle
gespielt. Die Erfahrung mit diesen Eltern, ihrer Ignoranz und
Weigerung, wenigstens im Nachhinein die eigene Verantwortung
auch durch Nicht-Einmischen, Nicht-Helfen oder Mitläufertum
anzuerkennen und sich damit auseinanderzusetzen, hat bei vielen
Menschen meiner Generation zu sehr festgelegten
Moralvorstellungen zu bestimmten Fragen geführt. Dazu gehört
z.B. die unbedingte Verpflichtung für Schwache, für Menschen,
die niedergemacht werden sollen, einzutreten und im Umkehrschluß
genauso die unbedingte Verurteilung derer, die dafür
verantwortlich sind bzw. auf der Seite der Verantwortlichen
stehen. In dieser Schwarzweißsichtweise, der Einordnung in
„Mensch oder Schwein", war uns lange der
Blick auf die Komplexität und auch Widersprüchlichkeit der
Wirklichkeit sowie auch der einzelnen Menschen verstellt. In
diesem Bild steht ein US-Soldat natürlich auf der Seite 'der
Schweine' — was er objektiv ja auch tut, denn Pimental wäre
höchstwahrscheinlich bereit gewesen, an Kriegen und Massakern
der US-Armee, egal wo auf der Welt, mitzumachen. Aber da muß es
auch eine zweite Seite geben, nämlich die, daß es nicht dasselbe
ist, ob einer ein kleiner GI ist, dem so sehr viele Alternativen
im Leben meist nicht geboten wurden, oder ob einer ganz oben im
Apparat weitreichende Entscheidungen trifft und so in ganz
anderer Form Verantwortung trägt. Diesen Unterschied
festzustellen, wurde Kritikerinnen damals als
'sozialarbeiterischer Blick" vorgeworfen. Wir selbst haben mit
unserer eingeengten Schwarzweißeinordnung der Welt solche
Unterschiede nicht gesehen und nicht sehen wollen.
Aber zurück zu den Verbindungen zur Geschichte dieses Landes.
Für viele hat sich bei den Bildern aus Vietnam, dem Einsatz von
Napalmbomben und chemischen Waffen wie agent orange, der
Bombardierung von Staudämmen, eben dem offensichtlichen Willen,
dieses Volk auszulöschen, die Parallele zu Auschwitz aufgedrängt
- für Jugendliche in Deutschland, die die Augen nicht vor den
Verbrechen der Vergangenheit verschlossen, konnte das nicht
anders sein. Für viele ergab sich daraus zwingend die
Notwendigkeit — als moralische Verpflichtung gegenüber der
Geschichte - sich auf die Seite dieses Volkes zu stellen und zu
überlegen, was man selber machen kann gegen seine Vernichtung,
eben nicht zuzuschauen, sondern zu handeln und Verantwortung zu
übernehmen. Natürlich gab es gleichzeitig die Identifizierung
mit den Befreiungszielen, die sich mit unseren eigenen
Utopien deckten - es war beides.
Selbst für mich, die ich zu dieser Zeit noch Schülerin war
und mich nur an den letzten Vietnam-Demos beteiligte, entstand
daraus eine Verpflichtung, die sich bis heute durch mein Leben
zieht. Vietnam, dieser Krieg ist für mich zum Synonym für
Verbrechen und Unterdrückung geworden. Das Bild des
napalm-verbrannten nackten Kindes, das damals tausendfach um die
Welt ging, dieses Bild war für mich einzige Aufforderung und
Verpflichtung zu handeln und den Verbrechen nicht zuzuschauen.
Fast mein ganzes Leben lang habe ich in Situationen, die ich
schwer zu bewältigen fand oder vor denen ich große Angst hatte,
mir das Bild dieses Kindes ins Gedächtnis gerufen — mit ihm habe
ich viele für mich wichtige und schwierige Entscheidungen
getroffen.
Wenn ich mich an die Zeit meiner eigenen Politisierung
zurückerinnere - anfangs war ich an ganz unterschiedlichen
Fragen und in vielen sehr verschiedenen Bewegungen aktiv. Das
ging von Arbeit in einem sozialen Brennpunkt mit überwiegend
türkischen Kids über Initiativen für selbstverwaltete
Jugendzentren oder für die Durchsetzung von mehr
Selbstbestimmung in der Schule, über Fahrpreiskämpfe bis zu
Demos gegen den Vietnamkrieg oder das Folterregime in Spanien.
Diese Vielfältigkeit meiner Aktivitäten hat sich fast
schlagartig mit der Ermordung von Holger Meins geändert. An
seinem Hungerstreik, in dessen Verlauf ich angefangen habe, mich
mit Isolationsfolter, toten Trakts, der systematischen
Vernichtung von politischen Gefangenen auseinanderzusetzen und
an dessen Ende der Tod von Holger Meins stand, lief eine der
zentralen Weichenstellungen für mein Leben.
Editorische Anmerkungen
Der Aufsatz erschien in:
Versuche, die Geschichte der RAF zu
verstehen - Das Beispiel Birgit Hogefeld,
Psychosozial-Verlag, Gießen,
1. .Auflage 1996, S.19
- 58.
Wir zitierten: S. 24 -31
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