Stichwort RAF

Zur Geschichte der RAF
von Birgit Hogefeld
11/07

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Heute denke ich, daß es bei uns Fehlentwicklungen gegeben hat, die ihren Ausgangspunkt schon sehr früh in den 70ern hatten und zwar v. a. in unserer zunehmenden Abwendung von der gesellschaftlichen Realität, dem Zorn, dem Frust, dem Leiden vieler Menschen hier. Aus der 68er Revolte entstanden, bezogen wir uns in unserer Aufbauphase sehr stark und direkt auf die Massenproteste dieser Zeit. Im ursprünglichen Organisationskonzept ging es noch um die unmittelbare Verbindung von Stadtguerilla und Basisarbeit, darum, daß alle gleichzeitig auch in Stadtteil- oder Betriebsgruppen mitmachen sollten. Daß diese Vorstellung schnell aufgegeben wurde, hatte zum Teil sicher die praktischen Gründe, von denen die Genossinnen aus dieser Zeit reden, nämlich daß der sofort hochgepuschte Apparat der politischen Polizei, der alle linken Gruppen und Zusammenhänge unter Observation nahm, diese Zweigleisigkeit unmöglich erscheinen ließ. Aber die sehr schnelle Isolierung selbst innerhalb des linken Spektrums ist allein daraus nicht zu erklären.

Ich will hier nur kurz einige Stichpunkte nennen: die Diskussionen wurden von beiden Seiten aus zunehmend unsachlicher und dogmatischer; gegenseitige Unterstellungen wie Putschismus und Militarismus einerseits — Reformismus, Integrations- bzw. Karrierewille und Unterwerfung unter das System andererseits: auf jeden Fall waren sie nicht mehr geprägt vom Willen des gegenseitigen Sich-Zuhörens und Verstehen-Wollens, und es ging von beiden Seiten aus nicht mehr darum, hier zusammen eine Befreiungsperspektive zu entwickeln.

Manifestiert wurde dieser Bruch nach der ersten großen Verhaftungswelle und der Tatsache, daß es angesichts des offensichtlichen Venichtungswillens gegen politische Gefangene keine Kraft gab, die dem eine Grenze setzte. Aus Sicht der Gefangenen verweigerte ihnen der allergrößte Teil der Leute, mit denen sie der gemeinsame Aufbruch verband, an dieser fundamentalen Frage die Solidarität. Gleichzeitig war es aber auch so, daß damals, wie fast in der gesamten RAF-Geschichte, kritische Solidarität immer abgelehnt und diffamiert wurde. Solidarisches Handeln an der Frage der Hartbedingungen bei gleichzeitiger Kritik oder Infragestellung unserer politischen Konzeption war nicht erwünscht.

Was blieb und was zum Teil in seinen Rückwirkungen bis heute zu spüren ist, sind Verbitterung, Verletztheiten und Distanz auf beiden Seiten.

Unser frühes Abwenden von der gesellschaftlichen Realität als Bezugspunkt unserer Politik und die damit einhergehende Isolierung sind zu kritisieren, weil so keine tatsächlich relevante politische Kraft aufzubauen war.

Es ist aber auch wichtig zu verstehen, vor welchem Hintergrund es zu dieser Isolierung gekommen ist, denn die ist ja nicht einfach im luftleeren Raum entstanden, sondern hängt zusammen mit eigenen Erfahrungen und der gesellschaftlichen Situation, auf die wir getroffen sind. Ich denke, zur RAF sind zu jeder Zeit nur Menschen mit ganz bestimmten Erfahrungen, Weltbildern, Vorstellungen usw. gestoßen. Für mich, genauso wie für alle anderen, hätten objektiv unzählige andere Lebenswege offengestanden. Daß wir uns für diesen entschieden haben, hat Gründe, die ganz sicher auch mit unseren persönlichen Lebensgeschichten zusammenhängen, die — obwohl sie sehr unterschiedlich sind - für jede und jeden von uns zu im Kern ähnlichen Erfahrungen und dann Konsequenzen geführt haben.

Daß das so ist, hat seine Gründe in der gesellschaftlichen Situation, aber auch in der Geschichte dieses Landes, in deren Schatten wir aufgewachsen sind.

Deshalb war die RAF trotz unserer relativen Isolierung immer auch Ausdruck und Antwort auf diese Realität -anders hätte es die mehr als zwei Jahrzehnte fortwährende Kontinuität, also die Tatsache, daß sich immer wieder Menschen für diesen Weg entschieden haben, nicht gegeben. Wir haben nicht einfach im luftleeren Raum agiert, es gab immer Menschen, die eine Verbindung zwischen ihren eigenen Kämpfen und unserem Kampf sahen und immer auch welche, die sich in unserem Kampf - und sei es allein als Antwort auf ihre permanente Entwürdigung und Unterwerfung - wiederfinden konnten.

Während meiner Kindheit erlebte dieses Land — und so auch meine Familie - die Zeit des „Wirtschaftswunders", mit all ihrer Sinnentleerung und Verknüpfung des Lebensinhalts mit materiellen Werten und Konsum. All das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß darunter etwas anderes Unausgesprochenes verborgen werden sollte. Faschismus, seine Verbrechen und der Krieg, auf den familiären Rahmen bezogen, z.B. die Rolle meines Vaters während seiner Zeit als Wehrmachtsoldat, waren Tabuthemen und lagen wie eine Glocke aus Dumpfheit, Enge und Schweigen über allem.

Ich hatte, wenn auch anfangs nicht das Wissen, so doch die Ahnung, daß es da eine ungeheure Schuld gibt, über die niemand redet.

In einem Brief an Freunde hatte ich Erinnerungen aus meiner Kindheit beschrieben, von denen ich denke, daß sie so oder ähnlich zu unzähligen Biographien von Menschen meiner Generation, die in Deutschland aufgewachsen sind, gehören. Für mich waren sie sehr einschneidend, und ich bin mir sicher, daß sie mein Leben entscheidend mit geprägt haben.

„In dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, lebt seit Generationen die Familie meiner Mutter - während der Naziherrschaft war am Rande dieses Dorfes ein Arbeitslager mit Kriegsgefangenen, und durch unser Dorf fuhren regelmäßig Busse mit körperlich und/oder geistig behinderten Menschen, die nach Hadamar gebracht wurden. In Hadamar ist eine psychiatrische Anstalt, in der im Dritten Reich Gaskammern installiert wurden, und dorthin wurden die Menschen in den Bussen gebracht, sie wurden alle vergast und verbrannt.

Als Kinder wußten wir von beidem, vom Arbeitslager und auch von dem Gas bzw. von den Öfen, in denen die Leichen verbrannt worden sind. Mit uns wurde aber nie darüber gesprochen, wir kannten das nur aus Gesprächsfetzen von Erwachsenen, die wir heimlich in unbeobachteten Momenten aufgeschnappt hatten. Wenn dabei die Er vachsenen die Anwesenheit von uns Kindern bemerkten, wurden solche Gespräche - die immer in geflüstertem Ton geführt wurden -sofort abgebrochen. Wir hatten von allem auch keine genaue Vorstellung, sondern versuchten uns aus Halbsätzen wie: 'alle wußten doch, was mit den Menschen in den Bussen passiert' oder 'alle konnten es doch riechen' ein Bild zu machen."

Gerade vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen ist es heute schwer nachvollziehbar, daß wir genauso wie andere linke Zusammenhänge zu einem Faschismusbegriff kommen konnten, in dem Faschismus in erster Linie als über der Gesellschaft stehende, den Kapitalinteressen dienende Herrschaftsstruktur gesehen wurde. Dabei hätten doch gerade wir das aus unserem eigenen Leben besser wissen können. Die Kontinuität des NS-Faschismus zeigte sich nicht nur in der Kontinuität von Nazi-Richtern usw.. Bis in die kleinsten Winkel der Gesellschaft, des täglichen Lebens hatten sich nach 1945 wesentliche Tugenden, Denk- und Wertvorstellungen weiter gehalten,, wurden reproduziert und an uns weitergegeben. Aber das wurde in seiner ganzen Dimension lange Zeit auch in Teilen der Linken viel zu wenig gesehen.

Die Konsequenzen aus der Geschichte waren in erster Linie eine radikale Verurteilung von Faschismus. Abgrenzung zu den Eltern und eine tiefe moralische Verpflichtung für einen selbst, wobei diese Abgrenzung mit Sicherheit eine nicht zu unterschätzende Rolle auch für die Ausrichtung und Bestimmung unserer Kämpfe gespielt hat. Die Linke in Deutschland hat alles "Deutsche" immer weit von sich gewiesen, aber so richtig und notwendig Internationalismus war und ist, mit unserer internationalistischen Identität haben wir uns lange Zeit auch viele Fragen vom Hals gehalten, z.B. solche, die seit einigen Jahren mit der Rassismusdiskussion auf den Tisch gekommen sind, unsere eigenen Wertmuster und Vorurteile betreffend.

Auch bei der Ausprägung unseres Moralbegriffs hat die Haltung dieser Elterngeneration meiner Meinung nach eine wichtige Rolle gespielt. Die Erfahrung mit diesen Eltern, ihrer Ignoranz und Weigerung, wenigstens im Nachhinein die eigene Verantwortung auch durch Nicht-Einmischen, Nicht-Helfen oder Mitläufertum anzuerkennen und sich damit auseinanderzusetzen, hat bei vielen Menschen meiner Generation zu sehr festgelegten Moralvorstellungen zu bestimmten Fragen geführt. Dazu gehört z.B. die unbedingte Verpflichtung für Schwache, für Menschen, die niedergemacht werden sollen, einzutreten und im Umkehrschluß genauso die unbedingte Verurteilung derer, die dafür verantwortlich sind bzw. auf der Seite der Verantwortlichen stehen. In dieser Schwarzweißsichtweise, der Einordnung in „Mensch oder Schwein", war uns lange der Blick auf die Komplexität und auch Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit sowie auch der einzelnen Menschen verstellt. In diesem Bild steht ein US-Soldat natürlich auf der Seite 'der Schweine' — was er objektiv ja auch tut, denn Pimental wäre höchstwahrscheinlich bereit gewesen, an Kriegen und Massakern der US-Armee, egal wo auf der Welt, mitzumachen. Aber da muß es auch eine zweite Seite geben, nämlich die, daß es nicht dasselbe ist, ob einer ein kleiner GI ist, dem so sehr viele Alternativen im Leben meist nicht geboten wurden, oder ob einer ganz oben im Apparat weitreichende Entscheidungen trifft und so in ganz anderer Form Verantwortung trägt. Diesen Unterschied festzustellen, wurde Kritikerinnen damals als 'sozialarbeiterischer Blick" vorgeworfen. Wir selbst haben mit unserer eingeengten Schwarzweißeinordnung der Welt solche Unterschiede nicht gesehen und nicht sehen wollen.

Aber zurück zu den Verbindungen zur Geschichte dieses Landes. Für viele hat sich bei den Bildern aus Vietnam, dem Einsatz von Napalmbomben und chemischen Waffen wie agent orange, der Bombardierung von Staudämmen, eben dem offensichtlichen Willen, dieses Volk auszulöschen, die Parallele zu Auschwitz aufgedrängt - für Jugendliche in Deutschland, die die Augen nicht vor den Verbrechen der Vergangenheit verschlossen, konnte das nicht anders sein. Für viele ergab sich daraus zwingend die Notwendigkeit — als moralische Verpflichtung gegenüber der Geschichte - sich auf die Seite dieses Volkes zu stellen und zu überlegen, was man selber machen kann gegen seine Vernichtung, eben nicht zuzuschauen, sondern zu handeln und Verantwortung zu übernehmen. Natürlich gab es gleichzeitig die Identifizierung mit den Befreiungszielen, die sich mit unseren eigenen Utopien deckten - es war beides.

Selbst für mich, die ich zu dieser Zeit noch Schülerin war und mich nur an den letzten Vietnam-Demos beteiligte, entstand daraus eine Verpflichtung, die sich bis heute durch mein Leben zieht. Vietnam, dieser Krieg ist für mich zum Synonym für Verbrechen und Unterdrückung geworden. Das Bild des napalm-verbrannten nackten Kindes, das damals tausendfach um die Welt ging, dieses Bild war für mich einzige Aufforderung und Verpflichtung zu handeln und den Verbrechen nicht zuzuschauen. Fast mein ganzes Leben lang habe ich in Situationen, die ich schwer zu bewältigen fand oder vor denen ich große Angst hatte, mir das Bild dieses Kindes ins Gedächtnis gerufen — mit ihm habe ich viele für mich wichtige und schwierige Entscheidungen getroffen.

Wenn ich mich an die Zeit meiner eigenen Politisierung zurückerinnere - anfangs war ich an ganz unterschiedlichen Fragen und in vielen sehr verschiedenen Bewegungen aktiv. Das ging von Arbeit in einem sozialen Brennpunkt mit überwiegend türkischen Kids über Initiativen für selbstverwaltete Jugendzentren oder für die Durchsetzung von mehr Selbstbestimmung in der Schule, über Fahrpreiskämpfe bis zu Demos gegen den Vietnamkrieg oder das Folterregime in Spanien.

Diese Vielfältigkeit meiner Aktivitäten hat sich fast schlagartig mit der Ermordung von Holger Meins geändert. An seinem Hungerstreik, in dessen Verlauf ich angefangen habe, mich mit Isolationsfolter, toten Trakts, der systematischen Vernichtung von politischen Gefangenen auseinanderzusetzen und an dessen Ende der Tod von Holger Meins stand, lief eine der zentralen Weichenstellungen für mein Leben.

Editorische Anmerkungen

Der Aufsatz erschien in:

Versuche, die Geschichte der RAF zu verstehen - Das Beispiel Birgit Hogefeld, Psychosozial-Verlag, Gießen, 1. .Auflage 1996, S.19 - 58.
Wir zitierten: S. 24 -31

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