Standardwerk mit Vorbehalten
Eine Presseschau zu
Hans-Rainer Sandvoß Buch
Die "andere" Reichshauptstadt

von Karl Mueller

11/07

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Eberhard Kolb in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« vom 13. Oktober 2007

»Berlin bleibt rot«, rief der SPD-Vorsitzende Otto Wels den zweihunderttausend Menschen zu, die sich am 7. Februar 1933 im Berliner Lustgarten versammelt hatten, um gegen Hitler zu protestieren. Tatsächlich war die Reichshauptstadt eine Hochburg der Arbeiterbewegung. Die SPD zählte Anfang 1933 in Groß-Berlin fast hunderttausend Mitglieder, die KPD kam auf knapp fünfzehntausend, und bei der schon teilweise unfreien Reichstags wähl am 15. März 1933 verbuchte die NSDAP in Berlin ein weit unterdurchschnittliches Ergebnis: 34,6 Prozent (in der Innenstadt gar nur 31,3 Prozent) gegenüber 43,9 Prozent im Reichsdurchschnitt. Bei der Volksabstimmung am 19. August 1934 votierten immerhin 570 000 Berliner mit »Nein« oder »ungültig«, das waren – nach den vermutlich geschönten offiziellen Zahlen – rund 20 Prozent der Abstimmenden, während die Jastimmen im Reichsdurchschnitt bei 90 Prozent lagen. Nach den Massenverhaftungen und Gewaltexzessen in den ersten Wochen des Regimes, nach der Auflösung der Arbeiterparteien und aller ihrer Nebenorganisationen, der Emigration maßgeblicher Führungskader und der Verschärfung der strafrechtlichen Sanktionen für alle Arten regimegegnerischer Aktivität wurde es auch in der Reichshauptstadt zu einer Sache der wenigen, »Widerstand« zu leisten; gebräuchlicher waren übrigens damals die Ausdrücke illegale Arbeit, oppositionelle Arbeit. Sie bestand überwiegend in Abfassung und Verbreitung antinazistischer Druckschriften oder hektographierter Blätter, Durchführung von Geldsammlungen zur Unterstützung der Familien von Inhaftierten, Fluchthilfe für Bedrohte, Übermittlung von Nachrichten über die Zustände im nationalsozialistischen Deutschland ins Ausland, Knüpfen politischer und sozialer Netze zwischen Regimegegnern. In den Kriegsjahren kam seit 1943 in einzelnen Fällen auch Sabotage am Arbeitsplatz hinzu. Zwar wurde das »Dritte Reich« durch all diese Aktivitäten nicht ernstlich beeinträchtigt, aber die Machthaber sahen in den Aktivisten des Widerstands doch gefährliche Gegner und verfolgten sie gnadenlos. Zu diesem Zweck wurde der Verfolgungsapparat enorm ausgebaut. Es gab auch Überläufer, bei der SPD und der KPD, zudem vermochte die Gestapo immer wieder Spitzel in die illegalen Zirkel vor allem der Kommunisten einzuschleusen, und gelegentlich setzte sie sogar Lockspitzel ein, die zu politischen Straftaten anstifteten, welche dann den Untergrundkämpfern zum Verhängnis wurden.

Mitte der dreißiger Jahre waren über tausend Berliner Kommunisten und Sozialdemokraten inhaftiert, die meisten von ihnen waren bestialisch gefoltert worden, um die Namen von Mitverschworenen aus ihnen herauszupressen. Zu den über zweihundert Männern und Frauen aus den Reihen der Sozialdemokratie, die angeklagt und verurteilt wurden, sind jene hinzuzurechnen, die ohne Verurteilung blieben, sowie diejenigen, deren oppositionelles Wirken nicht aufgedeckt wurde. Die Zahl verhafteter und abgeurteilter Kommunisten lag wesentlich höher: Einige tausend gerieten für kürzere oder längere Zeit in Haft, über tausend wurden zu Gefängnis- und Zuchthausstrafen verurteilt. In den Kriegsjahren häufte sich dann die Zahl vollstreckter Todesurteile, sie geht in die Hunderte. Zumal die Kommunisten entrichteten einen hohen Blutzoll.

Hans-Rainer Sandvoß, stellvertretender Leiter der »Gedenkstätte Deutscher Widerstand«, legt nun den voluminösen Band über die »andere« Reichshauptstadt vor – nicht immer leicht zu lesen, aber imponierend durch die Fülle der Informationen. Es ist der große Vorzug der Darstellung von Sandvoß, dass er die illegale Tätigkeit aller Strömungen innerhalb der Berliner Arbeiterbewegung minutiös erfasst und entsprechend ihrem Gewicht ausführlich darstellt, fern eines jeden Gestus einseitiger Heroisierung. Im Vordergrund stehen natürlich Widerstand und Verfolgung von Kommunisten und Sozialdemokraten, aber ein umfängliches Kapitel gilt auch dem Widerstand der von ihm als »Zwischengruppen« bezeichneten unabhängigen Sozialisten und Kommunisten (Kommunistische Partei-Opposition, Sozialistische Arbeiterpartei, Rote Kämpfer, Internationaler Sozialistischer Kampfbund und Neu Beginnen). Die Angehörigen dieser zahlenmäßig kleinen Gruppen zeigten verhältnismäßig mehr Einsatzbereitschaft und Resistenz gegenüber der Gleichschaltung als die Mitglieder der Massenpartfeien. Und da sie die konspirative Arbeit umsichtiger betrieben als die illegale KPD, konnten sie der Infiltration durch Gestapo-Spitzel länger trotzen.
Die präzisen Darlegungen von Sandvoß beruhen aus einer breiten Quellengrundlage, wie sie umfassender kaum gedacht werden kann. Die Unterlagen der Verfolgerseite, Gerichtsurteile und Verhörprotokolle, sind unverzichtbar, bedürfen aber sorgfältiger quellenkritischer Bewertung. Deshalb ist es von Vorteil, dass Sandvoß über 1700 Verfolgten- und Entschädigungsakten auswerten konnte, die bereits in den Jahren 1945/46 angelegt wurden, also in großer zeitlicher Nähe zu den Geschehnissen. Hinzu kommen über dreihundert Befragungen von Betroffenen; den Großteil der Interviews führte Sandvoß selbst. Da von den Widerstandskämpfern, die überlebt haben, nicht wenige sehr alt wurden, konnten sie noch in den achtziger und neunziger Jahren befragt werden.

Wenn bei den Sozialdemokraten die Zahl aktiv tätiger Illegaler auch kleiner war als bei den Kommunisten, so reichte der Kreis entschiedener Regimegegner doch weit über jene zweihundert Verurteilten hinaus. Die Existenz eines informellen Netzes unter gesinnungstreuen Berliner SPD-Anhängern trat in Erscheinung bei Beerdigungen, die sich zu stummen Demonstrationen gestalteten. Besonders spektakulär war die Trauerkundgebung beim Tod der beliebten langjährigen Berliner Reichstagsabgeordneten Clara Bohm-Schuch am 24. Mai 1936. Ein Teilnehmer beschreibt sie so: »Die Halle des Krematoriums fasste nur einen kleinen Teil dieses großen Gefolges der Kameraden und Gesinnungsgenossen. Weit über 5000 Berliner Sozialdemokraten füllten den Platz vor dem Krematorium und verharrten in stummem Schweigen. Fast alle hielten in den Händen einen Strauß leuchtender Frühlingsblumen,, aber der Weg zum Sarg war durch die Fülle der Menschen längst versperrt. Da ging plötzlich der Ruf durch die große Gemeinde ›Alle Blumen nach vorn‹, und nun erhob sich über den Köpfen der Menschen eine Welle leuchtender Farben, bis sie in der weiten Halle verebbte und den Sarg in ein Meer von Grün und Blüten versenkte.«

Wenn es in der Viermillionenstadt Berlin nur einige zehntausend waren, die in dieser oder jener Weise ihre Regimegegnerschaft bekundeten, und nur etliche tausend, die aktive illegale Arbeit leisteten und damit ihre Freiheit – und in den Kriegsjahren das Leben – riskierten, so belegt dieser Befund doch, dass es in der Reichshauptstadt eine dem Regime ausnahmslos ergebene Arbeiterschaft nicht gegeben hat. Dieser Befund ist wichtig, da seit einiger Zeit mit viel medialem Getöse versucht wird, die Deutschen zu willigen Anhängern des NS-Regimes oder gar zu schamlosen Nutznießern der Diktatur zu stempeln. Mit Recht konstatiert Sandvoß, die These von der sozialen Korrumpierung der Bevölkerung durch die NS-Gesellschaftsordnung finde »zumindest für Berliner Arbeiterkreise keine ausreichende wissenschaftliche Begründung«.

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Sven Felix Kellerhoff in der »Welt« vom 14. Mai 2007

Eine große Lücke schließt Hans-Rainer Sandvoß. Seit dreißig Jahren arbeitet er an der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße, seit mehr als zwei Jahrzehnten geht er Bezirk für Bezirk der Anti-Hitler-Bewegung nach – nun hat er die erste Darstellung des Widerstandes aus der Arbeiterschaft vorgelegt. Bisher hatte der Fokus viel zu sehr auf dem 20. Juli gelegen, der zwar in Berlin stattfand, aber eben nur, weil es die Reichshauptstadt war – es handelte sich hier eigentlich nicht um Berliner Widerstand.
Lobenswert ist die Akribie, mit der Sandvoß noch dem kleinsten Beleg für widerständiges Verhalten nachgegangen ist. Im Ergebnis stellt er fest, dass es aus der einst starken Arbeiterbewegung im laut Goebbels »roten Berlin« vielleicht 12000 Menschen dem aktiven Widerstandspotential zugerechnet werden können. Selbst wenn man diese Zahl spekulativ verdreifacht, um die »Dunkelziffer« von Nazi-Gegnern in Berlin einzubeziehen, kommt man auf wenig mehr als ein Prozent der Berliner – während 99 Prozent entweder begeisterte NS-Anhänger waren, unpolitisch oder sich aus Angst vor der Gestapo zurück hielten. Angesichts solcher Werte von der »anderen Reichshauptstadt« zu sprechen, ist mindestens gewagt. Doch das relativiert den Wert von Sandvoß' Studie kaum – es ist die bisher wichtigste Neuerscheinung zur Berliner Geschichte in diesem Jahr.

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Volker Ulrich in der »Zeit« vom 3. Mai 2007

Die Opposition gegen Hitler wird immer noch überwiegend mit den Männern vom 20. Juli identifiziert, von denen sich ja viele erst sehr spät zur Umkehr entschlossen. Immer noch viel zu wenig beachtet wird der opferreiche Widerstand der Arbeiterbewegung – von Kommunisten, Sozialdemokraten, unabhängigen Sozialisten. Hans-Rainer Sandvoß, stellvertretender Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, hat dieses wichtige Kapitel nun für die Reichshauptstadt erstmals umfassend erforscht. Ein unverzichtbares Standardwerk.

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Holger Hübner im »Tagesspiegel« vom 18. April 2007

Es klingt unfassbar: Mit Namenslisten sammelte die unter den Nazis verbotene KPD beispielsweise in den Berliner Firmen Teves und Askania Gelder für Fremdarbeiter. So gelang es der Gestapo, fast alle Beteiligten zu verhaften. Und Illusionen über den Zustand des Regimes verführten noch 1944 verhaftete Funktionäre dazu, bei Verhören bereitwillig Namen von Mitstreitern preiszugeben. Sie hofften, durch die Ausweitung der Zahl der Angeklagten die Justizmaschinerie zum Stocken zu bringen. Tatsächlich führte dies nur zu weiteren Verurteilungen.

So ist der hohe Blutzoll, den gerade die KPD zwischen 1933 und 1945 zu entrichten hatte, auch eine Folge von Leichtsinn, Selbstüberschätzung, fahrlässigem Opfern, Fehleinschätzungen und nicht zuletzt der Zersetzung der Widerstandsgruppen durch Gestapo-Spitzel, wie Hans-Rainer Sandvoß in seinem Buch über den Widerstand der Berliner Arbeiterbewegung gegen das NS-Regime zeigt. Bislang kannte man schon die ausgezeichnete Schriftenreihe der Gedenkstätte Deutscher Widerstand zu den Berliner Bezirken, deren Hauptverfasser er ist. Jetzt legte er das Ergebnis seiner Forschung in kompakter Form vor – eine Gesamtdarstellung des proletarischen Widerstandes in Berlin.
Geschildert werden nicht nur die Aktionen von SPD und KPD, sondern auch die der kleineren sozialistischen und kommunistischen Organisationen, die, wie Sandvoß sie nennt, »Zwischengruppen«, und die »Opposition auf betrieblicher Ebene«. Er stützt sich dabei auf Akten von Gestapo und Gerichten, auf von ihm geführte Interviews mit Zeitzeugen, auf »über 1700 Verfolgten- bzw. Entschädigungsakten« aus den Nachkriegsjahren und – selbstverständlich – auf die bisher erschienenen Publikationen zum Thema. Es ist ein reichhaltiges Material, das kritisch bewertet werden musste, denn natürlich stellen die Unterlagen aus der NS-Zeit manches anders dar als die Akten aus den Jahren danach. Und auch Zeitzeugen irren sich, wissen über Ereignisse oft nur noch fragmentarisch Bescheid.
Viel Forschungsarbeit wurde erst jetzt möglich, weil Materialien vor 1990 nicht zugänglich waren. Das erklärt, warum es eine solche Gesamtdarstellung nicht längst gab. Sandvoß’ profundes Wissen, seine Erfahrung und seine Sorgfalt machen das Buch zu einem unverzichtbaren Standardwerk. Es belegt, dass es noch ein anderes Berlin im »Dritten Reich« gab, das die Nazis nie völlig unterwerfen konnten.

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Siegfried Heimann im »Vorwärts« vom 22. März 2007

»Berlin im Nationalsozialismus« stellt auch 60 Jahre nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur weiterhin ein Desiderat der Zeitgeschichtsforschung dar. Das galt und gilt auch für Forschungen über den Widerstand. In einem wichtigen Teil der Widerstandsforschung aber ist durch die gewichtige Publikation von Hans-Rainer Sandvoß über den »Arbeiterwiderstand« in Berlin eine besonders große Lücke beeindruckend geschlossen worden.

Nun ist der Autor ja schon seit Jahren als profunder Kenner der Geschichte des Berliner Widerstands ausgewiesen. Aus seiner Feder stammen die meisten der seit 1982 in loser Folge erschienenen Geschichten des Widerstands in den einzelnen Berliner Stadtbezirken. Herausgegeben von der Gedenkstätte Berliner Widerstand, waren sie sehr lesefreundlich geschrieben, da sie besonders in der Bildungsarbeit genutzt werden sollten und genutzt wurden. Aber eine Gesamtschau auf ganz Berlin fehlte bislang, was besonders für den Widerstand aus der Arbeiterbewegung besonders misslich war, da darüber in Ost und West die meisten Legenden oder gar Verfälschungen existierten.

Diesen Legenden geht Hans-Rainer Sandvoß bereits in seiner Einleitung zu Leibe. Seine kritische Würdigung der Literatur über den Widerstand vor allem in Berlin und besonders über den Arbeiterwiderstand resümiert noch einmal, wie sehr diese Literatur in Ost und West nach 1945 in sträflicher Weise einseitig ausgerichtet (Ost) oder kaum vorhanden war (West). Noch in jüngster Zeit konnten deshalb Darstellungen über Berlin die Legende transportieren, dass es nennenswerten Widerstand aus der Arbeiterschaft kaum gab und wenn doch, dann »nur« aus den Reihen der Kommunistischen Partei.

Mit guten Gründen spricht Sandvoß diesen Darstellungen deshalb eine nur »eindimensionale Perspektive« zu. Das war auch der schwierigen Quellenlage vor 1990 geschuldet, aber es gab bereits vor 1990 durchaus jeweils in Ost oder West zugängliche Quellen, die ein anderes Bild zu zeichnen erlaubt hätten.

Sandvoß hat nun alle vorhandenen Quellen der unterschiedlichsten Provenienz für seine Studie herangezogen. Dazu gehören in erster Linie die Akten der Gestapo, vor allem aber die zahlreichen Prozessakten des »Volksgerichtshofes«, die alle in bedrückender Weise das weite Feld des Berliner Arbeiterwiderstands abbilden. Zu den von Sandvoß ausgewerteten Quellen gehören aber auch eine Fülle von Erfahrungs- und Erinnerungsberichten und, besonders hervorzuheben, 480 über die Jahre hinweg seit Beginn der achtziger Jahre geführten Zeitzeugengespräche.

Sandvoß ist freilich weit davon entfernt, dem Zeitzeugenbericht nicht genau so kritisch zu begegnen wie jeder anderen schriftlichen Quelle. Dennoch geben gerade die zahlreichen, jedoch überlegt eingefügten Berichte von Zeitzeugen ein besonders plastisches Bild von den Problemen und Schwierigkeiten des Widerstands, mehr als jeder nüchtern zusammenfassende Passus aus den Prozessakten in der menschenverachtenden Sprache der Nazi-Gerichtsbarkeit.

In einem ersten Abschnitt schildert Sandvoß die Gegnerschaft und den Widerstand aus den Reihen der Sozialdemokratie. Von der Zahl her nicht mit dem kommunistischen Widerstand vergleichbar, zeichnet sich die sozialdemokratische Gegnerschaft vor allem durch eine durchgängige Resistenz aus, wie sich nicht zuletzt an der Beteiligung an Beerdigungen von Sozialdemokraten noch während des Krieges zeigt. Die auch in die Tausende gehende Zahl bleibt freilich dennoch weit unter der Zahl der SPD-Mitglieder vor 1933.

In gewisser Weise bemerkenswert erfolgreichen Widerstand übten Mitglieder der zwischen SPD und KPD agierenden kleinen Gruppen und Organisationen. Gemessen an ihrer geringen Mitgliederzahl nahmen an deren Widerstandsaktionen viele teil, ihre illegale Tätigkeit blieb überlegt und realistisch und in ihren Reihen waren kaum Spitzel oder Überläufer zu finden.
Der umfänglichste Teil der Untersuchung ist dem kommunistischen Widerstand gewidmet. Das kann nicht verwundern, da Mitglieder der KPD in vielen Gruppen aktiv Widerstand leisteten, allerdings auch die meisten Opfer bringen mussten. Sandvoß würdigt durchgängig den oft unerschütterlichen Mut von Kommunisten, die auch nach ersten Verurteilungen erneut zum Widerstand bereit waren. Dennoch fällt die Bilanz des kommunistischen Widerstands zwiespältig aus. Sandvoß muss konstatieren, dass bei den führenden Kadern der KPD »der Einzelne gegenüber dem vermeintliche Gesamtinteresse nicht viel zählte und für den späteren Ruhm der Partei notfalls geopfert wurde«.

Quer zu den Abschnitten, die den Widerstand aus den Reihen der verschiedenen Arbeiterorganisationen darstellen, steht der letzte Teil, der den Widerstand »auf betrieblicher Ebene« beschreibt. In diesem Teil gelingt es dem Autor noch einmal sehr überzeugend seine Hauptthese zu belegen: Wenn vom Widerstand der Berliner Arbeiter die Rede ist, kann nicht euphorisch von einer Erfolgsgeschichte gesprochen werden, die Mehrheit der Arbeiter war am Widerstand nicht beteiligt. Aber ebenso falsch ist es, von einer durchgängigen »Korrumpierung« der Berliner Arbeiter durch die Nazi-Diktatur zu sprechen. Eine bemerkenswert große Zahl Berliner Arbeiter blieb resistent gegen dem Nationalsozialismus und eine kleine Minderheit übte auch aktiv Widerstand. Mit dieser Feststellung – zugleich eine Polemik gegen Götz Aly – resümiert Sandvoß, dass bei Kriegsende zwar vom »roten Berlin« (eh mehr Legende als Wirklichkeit) nichts mehr übrig geblieben war, die versuchte nazistische »Gleichschaltung« aber dennoch nicht gelungen war.

Die 668 Seiten umfassende Darstellung ist auf gutem Weg, zu einem Standardwerk zu werden, zumal auch nicht wenige Forschungslücken geschlossen werden. So etwa bei der Darstellung der bislang wenig und als eigene Widerstandskreis um den Kommunisten Pietzuch gar nicht bekannte Gruppe, die, freilich kaum professionell zu nennende, Attentats- und Sprengstoffpläne schmiedete. Pietzuch riskierte im Widerstand gegen den Nazismus sein Leben, verlor es aber wie nicht wenige andere Kommunisten erst im Stalinschen Gulag.
Die vom Lukas Verlag Berlin hervorragend betreute Publikation zeichnet sich nicht zuletzt durch die sehr gute Qualität der zahlreichen Fotos von Widerstandskämpferinnen und Widerstandkämpfern aus. Der Autor hat sich akribisch bemüht, die biographischen Zeugnisse vieler bislang nur wenig bekannter Akteure des Widerstands aufzufinden. Seine knappen biographischen Skizzen setzen den oft Unbekannten aus der »anderen Reichshauptstadt« ein längst verdientes Denkmal, die Fotos aber geben diesen Unbekannten auch ein Gesicht.

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Kurt Wernicke in »Neues Deutschland« vom 1. März 2007

Das andere Deutschland, so hieß eine Ausstellung der VVN 1947, die mit ihrem Nachweis des Widerstands in Berlin gegen die Nazi-Diktatur auch einen Anspruch auf die Zurückweisung deutscher Kollektivschuld formulierte. 60 Jahre später wird nun eine Präzisierung vorgelegt, die sich der »anderen Reichshauptstadt« widmet und Bilanz einer beachtlichen Forschungsarbeit zieht. Hans-Rainer Sandvoß, profilierter Mitarbeiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und verdienstvoller Herausgeber der Schriftenreihe über den Widerstand in Berlin 1933 bis 1945, zeichnet, gestützt auf enorm breiter Quellengrundlage, antifaschistische Aktivitäten der Berliner Arbeiter im »Dritten Reich« nach und stellt die aus demokratischen Traditionen hervorgegangenen Widerstandsgruppen vor. Gegliedert wird nach SPD, KPD, Zwischengruppen sowie gewerkschaftliche Ebene.
Einleitend legt der Autor dar, wie sein Thema in Zeiten deutscher Teilung in die Schablonen des Kalten Krieges gepresst war. Einer umfassende Untersuchung des Widerstandes in Berlins war durch die Spaltung der Stadt und Aufteilung der zum Teil gesperrten Archive erschwert. Die in den Jahren deutscher Zweistaatlichkeit vorgelegten Publikationen dienten der Unterfütterung des jeweiligen eigenen Geschichtsbildes in West und Ost, Erbe einer Traditionslinie zu sein, die für die eigene Gegenwart zurechtgezimmert wurde: einerseits der als ethischer Ursprungsort entdeckte 20. Juli 1944, andererseits der antifaschistische Widerstand »unter Führung der KPD«. Die aus Federn von DDR-Autoren geflossenen Darstellungen wurden im Westteil der Stadt ideologisch gewertet, mit Skepsis aufgenommen und grundsätzlich – nicht immer zu Unrecht – der Überhöhung geziehen. Eine fundierte Untersuchung zum Arbeiterwiderstand gab es im Westteil Berlins bis zu der bereits genannten, seit 1985 erscheinenden Schriftenreihe der Gedenkstätte Deutscher Widerstand nicht.

Im Rahmen dieser Publikationsreihe waren Hunderte von Befragungen durchgeführt worden, Sandvoß selbst unternahm nicht weniger als 480. Doch angesichts des problematischen Wertes der »oral history« – Gedächtnislücken, einseitigen, subjektive Bewertungen und Einstreuung späterer Erkenntnisse – sind diese »lediglich« als ergänzende Quelle zu begrüßen. Relativ sichere Quellen sind die jetzt zugänglichen Ermittlungsakten der nazistischen Verfolgungsbehörden, der Gestapo, des Volksgerichtshofs, des Kammergerichts und der Sondergerichte, die für die vorliegende Publikation minutiös ausgewertet wurden. Des Weiteren wurden VVN-Akten und behördliches Schriftgut herangezogen, deren Dokumente zumeist unter dem frischen Eindruck des Davongekommen-Seins bald nach 1945 zu Papier gebracht worden waren. Den in diesen nicht selten zu findenden Vorwurf »Verrat« relativiert Sandvoß nachdrücklich. Aus dem Studium der Verfolgerakten weiß er um die brutale Folter, der inhaftierte Antifaschisten ausgesetzt waren. Zugleich warnt er aber davor, wie einst von SED- und neuerdings auch wieder von SPD-Historikern, von einer ungebrochenen Widerstandskraft der in der Tradition der deutschen Arbeiterbewegung stehenden Berliner Arbeiter zu sprechen. Was unmöglich war unter dem brutalen Verfolgungsdruck wie auch der facettenreichen Demagogie der Nazis und der Mitte der 30er Jahre durchaus in Deutschland erfolgten Hebung des Sozialstandards. Für Anpassung an das NS-Regime liefert Sandvoß eine Fülle von Belegen, am bewegendsten in einem Exkurs über die SPD-Hochburg »Freie Scholle« in Tegel. Seine Darlegungen stimmen mit den Erfahrungen des Rezensenten überein, dessen Großvater, SPD-organisiert seit 1904, nach seiner ersten KdF-Urlaubsreise 1937 das »Arbeitsfront«-Abzeichen trug. Erst die ab 1943 absehbare militärische Katastrophe weckte (auch beim Großvater des Rezensenten) wieder NS-kritische Potenziale und ermöglichte der winzigen Minderheit Ungebrochener, neue Mitstreiter zu gewinnen, neue Widerstandsnetze zu knüpfen.

Dass fast alle Widerstandsgruppen aufflogen, vor allem die aktivsten, der KPD nahestehenden, begründet Sandvoß mit konspirativen Fehlern, zu großer Vertrauensseligkeit und Anfälligkeit für »Überläufer«, die Spitzel waren. Die nachweisbare Skepsis von Gruppen aus anderen Abteilungen der Arbeiterbewegung gegen eine Zusammenarbeit mit KPD-Kreisen war daher so unberechtigt nicht, denkt man allein an die schlimmste aller Erfahrungen, die gemacht wurde: Im Vorfeld des 20. Juli 1944 hatten SPD-Funktionäre um Julius Leber Kontakt mit der KPD-Organisation um Anton Saefkow aufgenommen. Nicht nur die unmittelbar Eingeweihten landeten auf dem Schaffott. Saefkow hatte entgegen den Absprachen seinen »Abwehrchef« mitgebracht, der ein Gestapo-Spitzel war (was Saefkow nicht wusste!).

Es ist unverkennbar, Sandvoß hat gegenüber der KPD Vorbehalte, übt wiederholt ätzende Kritik an deren Führung, die er nicht vom Vorwurf freisprechen will, beim Einsatz ihrer Kader deren »Verheizen« eingeplant zu haben. Das versucht er z. B. mit dem Einsatz der Legenden umwobenen Fallschirmspringer und deren tragisches Schicksal zu belegen. Er lässt es jedoch nicht an Klarheit fehlen, wenn er resümiert, dass die mehrere tausend KPD-Anhänger in Berlin, von denen Hunderte ermordet wurden, eine bemerkenswert starke Gesellschaftsgruppe gewesen sind, sie vor allem Zivilcourage bewiesen und dass »eine Kollektivschuldthese daher auch aufgrund des Wirkens der illegalen KPD keine wissenschaftliche Begründung findet«.

Hans-Rainer Sandvoß
Die "andere" Reichshauptstadt
Widerstand aus der Arbeiterbewegung in Berlin von 1933 bis 1945


Festeinband mit Schutzumschlag,
668 Seiten mit 403 Abbildungen
B 15,8 × H 23,5 cm
29,80 EUR
ISBN 3-936872-94-5
Lukas Verlag