Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

AUFREGUNG UM GUY MÔQUET
Rechtsregierung unternimmt durchsichtigen Versuch, um kommunistischen Widerstandskämpfer zu vereinnahmen
 
11/07

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Vollständig ist die Rechnung nicht aufgegangen: In den letzten Wochen und Monaten versuchte Nicolas Sarkozy, sich – neben anderen Bestandteilen der französischen Nationalgeschichte – auch das Gedächtnis an einen jungen kommunistischen Widerstandskämpfer einzuverleiben. Gut Môquet (FUSSNOTE[1]) war im Oktober 1941 zusammen mit 26 anderen Geiseln auf der Festung von Châteaubriant (in Westfrankreich in der Nähe von Nantes), als „Vergeltung“ für Taten der Résistance, bei einer  der  ersten Hinrichtungswellen durch die Nazi-Besatzungsmacht erschossen worden. Die Auswahl der Hinrichtungskandidaten hatte das Kollaborateursregime von Vichy getroffen. Am Vorabend seiner Hinrichtung hatte der zu dem Zeitpunkt 17jährige Guy Môquet einen Abschiedsbrief an seine Eltern hinterlassen, der mit den Worten beginnt: „Meine liebe kleine Mama, mein angebetetes ganz kleiner Brüderchen, mein geliebter kleiner Papa, ich werde sterben!“ (Den vollständigen Text findet man u.a. hier: http://www.lefigaro.fr)  Sein Vater, vor dem Parteiverbot im Herbst 1939 kommunistischer Abgeordneter, war zu dem Zeitpunkt selbst inhaftiert.

 Diesen Brief, dessen Lektüre überwiegend die Emotionen des jungen Todeskandidaten übermittelt, aber für sich allein über die Hintergründe des Engagements des jungen Widerstandskämpfers im Dunkeln lässt, sollten alle französischen Oberschülerinnen und Oberschüler am selben Tag zusammen mit ihren Lehrkräften lesen. So lautete eine Anordnung von Präsident Sarkozy, zu dessen laut eigenen Worten „ersten Amtshandlungen“ dieser Rückgriff auf die französische Geschichte gehörte. Diese Initiative rief jedoch, aufgrund der „(partei)politischen Vereinnahmung“ der historischen Erinnerung und aufgrund ihres von oben staatlich angeordneten Charakters, aber auch und insbesondere wegen ihrer Inhalte, massive Proteste hervor. Letztendlich lief das Ereignis nicht so reibungslos wie geplant ab. Aber werfen wir einen Rückblick auf die Polemik der letzten Wochen und Monate.

Im Laufe des Wahlkampfs in diesem Frühjahr hatte Nicolas Sarkozy, bzw. sein bevorzugter Redenschreiber – der stark in Kategorien patriotischer und anderer gaullistischer Mythen räsonnierende Henri Guaino -, die Anspielungen an die französische Geschichte vervielfacht. In seinen wichtigsten Reden bezog der Kandidat Sarkozy sich auf Jeanne d’Arc, die bis dahin vor allem als „Nationalheilige“ der extremen Rechten gedient hatte – die „Jungfrau von Orleans“ trieb im 15. Jahrhundert die Engländer aus dem Land, „für Gott und den König“ – ebenso wie auf den historischen Sozialistenführer Jean Jaurès (ermordet bei Kriegsausbruch im August 1914) und den sozialistischen Premierminister der „Volksfront“, Léon Blum. Guaino war sichtlich bemüht, der Linken auch ihre historischen Integrationsfiguren symbolisch zu „klauen“, um den konservativen Kandidaten die ganze Bandbreite der Nationalgeschichte besetzen zu lassen. 

Als nationale  Integrativfigur  versuchte  Sarkozy sich auch in den Stunden nach seiner offiziellen Amtseinführung, die am 16. Mai 2007 stattfand, zu geben. Im Rahmen einer kleinen Zeremonie im Bois de Boulogne, einem der beiden Pariser Stadtwälder, lieb er 35 jungen Résistance-Anhängern gedenken, die dortselbst noch am 16. August 1944 – Stunden vor der Befreiung von Paris – durch die nazideutsche Besatzungsmacht hingerichtet worden waren. Gleichzeitig kündigte er „als  meine  erste Amtshandlung“  an,  dass künftig  alle französischen Oberschüler am 22. Oktober, also dem Jahrestag seiner Hinrichtung, den Abschiedsbrief von Guy Môquet an seine Eltern lesen müssten. Dabei ging es ihm selbstverständlich nicht so sehr darum, einen jungen Kommunisten für sein Engagement – das ihn in den Tod führte – zu ehren, sondern die in dem Brief enthaltene Emotion zu nutzen, um erklärtermaben einen neuen patriotischen Elan zu begründen.

 
    Dennoch entwaffnete die Initiative für einen (kurzen) Augenblick die linke Kritik an Nicolas Sarkozy und seinem Diskurs, der im Wahlkampf die  Beschwörung einer bedrohten „nationalen Identität“ mit einem neoliberalen „Weltöffnungs“- und „Modernisierungs“impuls verquickt hatte. In einer Ansprache während der Wahlkampagne hatte Sarkozy zunächst, bei seiner ersten offiziellen Kandidatenrede am 14. Januar 2007, Frankreich als in einer Reihe von Gesichtern personifiziert dargestellt. Eine der Personifizierungen Frankreich, die er bzw. der Vefasser der Rede – Henri Guiano – erwähnte, verkörperte sich „im Alter von 17 Jahren, im Gesicht von Guy Môquet, als er erschossen wird“. Als Reaktion auf Nicolas Sarkozys Inanspruchnahme des kommunistischen Résistancekämpfers hatte die KP-Präsidentschaftskandidatin  Marie-George Buffet am 1. April ihrerseits den Abschiedsbrief von Guy Môquet in ihrer Pariser Gro
bveranstaltung vor 12.000 Menschen verlesen lassen. Um das Symbol nicht dem konservativen Kandidaten zu überlassen. 

Daraufhin verlangte, in einer weiteren Wendung,  Präsident Sarkozy in gewisser Weise die Deutungshoheit über die Résistance und ihre Angehörigen, als  Nationalsymbol, zurück – durch seine Anordnung vom Mai, am 22. Oktober dieses Jahres den dadurch berühmt gewordenen Abschiedsbrief an allen Oberschulen verlesen zu lassen. Gleichzeitig allerdings verlieh Sarkozy den Handlungen Guy Môquets den Sinngehalt, den er ihnen gerne geben möchte. So  betonte er in seiner Ansprache unter anderem, die jungen Résistants verkörperten „das Unbesiegbare. Sie haben Nein gesagt: Nein zur Fatalität (Anm.: zum Schicksalhaften), nein zur Unterwerfung, nein zur Ehrlosigkeit, nein zu dem, was die menschliche Person erniedrigt...“ Aber vertritt nicht auch Nicolas Sarkozy heute eine moderne Version desselben Nein?  Hob er doch etwa in seiner Antrittsrede als Präsident hervor, er mache sich zur Maxime seines Handelns „die Anforderung auf Veränderung, denn noch nie war die Bewegungslosigkeit (l’immobilisme) derart gefährlich für Frankreich wie in dieser Welt voller Veränderung“. Um hinzufügen, gefordert sei „der  Bruch mit den Verhaltensweisen der Vergangenheit, den Denkgewohnheiten und dem intellektuellen Konformismus,  denn noch nie sind die zu lösenden Probleme so neuartig gewesen“. Genau in diesem Sinne hatte er im Wahlkampf auch „die Verweigerung der Fatalität“ als Handlungsmaxime auf seine eigenen Fahnen geschrieben. Verkörpert er also nicht in gewissem Sinne die moderne Résistance gegen „den Konservativismus und die Bewegungslosigkeit“, die er in seiner Antrittsrede ebenfalls anprangerte? Es kommt eben ganz darauf an, wie man das Anliegen der Résistance von damals nachträglich interpretiert.     

Aus politischen, historischen und moralischen Gründen schien es dennoch zunächst schwer, gegen die Anordnung zu Sarkozy  wettern, den Abschiedsbrief von Guy Môquet in den Oberschulen zu unterrichten. Die KP-Vorsitzende und Ex-Präsidentschaftskandidatin Buffet „begrübte“ denn auch zunächst, Mitte Mai, diesen Beschluss und kommentierte ihn mit den Worten, es sei „wichtig, dass diese Botschaft den künftigen Generationen überliefert wird“. Der Vorsitzende der gröbten Lehrergewerkschaf FSU, Gérard Aschieri (auch er gewiss kein politischer Freund Nicolas Sarkozys) kommentierte seinerseits: „Das ist nicht kritikwürdig, auch wenn es noch keine Bildungspolitik ausmacht.“ Um hinzuzufügen: „Die (politischen) Werte sind nicht nur eine Frage der Proklamation“, also anders ausgedrückt: der Lippenbekenntnisse. 

Als der Termin am 22. Oktober 2007 herannahte, nahmen die Proteste und Widerstände dann jedoch massiv zu. Unter anderem die mit Abstand stärkste Gewerkschaft der Oberschullehrer, der SNES-FSU (die FSU ist der wichtigste Dachverband von Gewerkschaften im Bildungswesen), rief zum „Boykott“ der Anordnung von Präsident Sarkozy auf. Ähnlich verhielt sich die linksradikale Lehrergewerkschaft SUD Eduaction. Je näher der Termin heranrückte, desto mehr stand die Dimension der „Vereinnahmung“ von Geschichte, die dabei ihres Inhalts entleert und für das Übermitteln einer patriotischen Emotion missbraucht werde, im Vordergrund. Hinzu kamen weitere Elemente, welche die Lehrerschaft vergrätzten. Nicht nur, dass im laufenden Jahr 12.000 Stellen im öffentlichen Schulwesen – durch Nichtersetzung altersbedingter Abgänge – abgebaut werden sollen, und in den kommenden Jahren noch mehr. Ferner nahmen in jüngster Zeit die Affären um polizeiliche Repressalien gegen Lehrkräfte, die sich gegen die Abschiebung schulpflichtiger Kinder oder Jugendlicher und ihrer Familien ohne gültige Aufenthaltstitel (sans papiers) engagieren, massiv zu. Just am 22. Oktober fing in Aix-en-Provence der Prozess gegen den Junglehrer Florimond Guimard an, der sich einer Abschiebung am Flughafen von Marseille-Marignane widersetzt hatte. Es sei „unanständig, die Widerständler von damals zu vereinnahmen, während man die Widerständler von heute verfolgt“ hieb es deshalb vielfach, ohne eine Gleichsetzung zwischen der Zeit der Nazibesatzung als solcher und heute vorzunehmen. 

Die französische KP organisierte nunmehr eine eigene Kundgebung am Sonntag, den 21. Oktober vor der Festung von Châteaubriant – wo die Geiseln festgehalten und erschossen worden waren -, zu der 5.000 Teilnehmer kamen. Die Partei erklärte, Nicolas Sarkozy sei schlecht platziert, um die Ideale des jungen Guy Môquet zu feiern. Gleichzeitig vervielfachte sie die Publikationen, um über das Engagement Guy Môquets und seine Hintergründe aufzuklären: Sonderausgabe der parteinahen Tageszeitung ‚L’Humanité’ vom 3. Oktober über Guy Môquet, Titelstory des Wochenmagazins ‚Humanité Hebdo’ vom 18. Oktober, zwölfseitige Sonderbeilage am 22. Oktober selbst... 

An jenem Montag selbst dann trat eine höchst uneinheitliche Situation ein. Zwar stellte das Bildungsministerium triumphierend fest, „in über 95 Prozent“ der Oberschulen landesweit sei der Aufforderung Nicolas Sarkozys Folge geleistet worden. Allerdings weigerten sich vielerorts zahlreiche Lehrkräfte, an der Initiative teilzunehmen, und verteilten oft eine schriftliche Erklärung dazu an ihre Schüler. Oft konnte die Unterrichtsstunde vorwiegend dank von auben eingeladener Persönlichkeiten „gerettet“ werden. Mancherorts wurde die Initiative zu einem ganzen Projekttag zum Thema Résistance, mit Besuch bei einer Gedenkstätte oder Einladung von Zeitzeugen in den Unterricht, umgewandelt. Dabei wurden zweifelsohne weitaus mehr Inhalte transportiert, als die ursprüngliche Anordnung des Präsidenten an und für sich impliziert hätte.  

Besonders angespannt verliefen die verschiedenen Besuche von Regierungsmitgliedern in Oberschulen in ganz Frankreich, vor diesem Hintergrund. Präsident Nicolas Sarkozy wollte ursprünglich den berühmt gewordenen Brief höchstpersönlich im Pariser Lycée Carnot verlesen, also jener Oberschule, die Guy Môquet selbst besucht hatte. Am Montag früh war bereits zu einem „Empfangskomitee“ von Demonstranten aufgerufen worden. Sarkozy kniff jedoch und sagte „aufgrund eines dichten internationalen Terminkalenders des Elysée-Palasts“ in letzter Minute ab. Seine ehrgeizige Justizministerin Rachida Dati wurde in Villejuif, einer an Paris angrenzenden Vorstadt, vom Lehrpersonal ausgepfiffen. Bildungsminister Xavier Darcos ging in seine eigene frühere Schule, im westfranzösischen Périgueux, wo ihm jedoch laut Agentur- und Presseberichten durch Lehrer, kommunistische Aktive und „skeptische Schüler“ ein ausgesprochen „kühler Empfang“ bereitet worden ist. Andere Minister waren ebenfalls auf Achse, bis hin zum Landwirtschaftsminister Michel Marnier, der an einer Oberschule in einer lothrinigischen Agrarregion las. Premierminister François Fillon wiederum verlas den Brief an seinem Amtssitz vor eingeladenen Schülern aus drei Pariser Oberschulen. Der Anschein schien gerettet.

FUSSNOTE

[1] Nicht zu verwechseln mit Guy MoLLet, der aus anderen Gründen ebenfalls eine prominente Figur der französischen Geschichte des 20. Jahrhunderts bildet. Dieses Schwein war Premierminister aus den Reihen der französischen Sozialdemokratie (der damaligen SFIO), als 1956 der Kolonialkrieg in Algerien ausgeweitet wurde. Gut Mollet ist u.a. politisch verantwortlich für die Entsendung dder Wehrpflichtigenarmee (1956) und der Fremdenlegion (1957) ins damalige „französische Algerien“, für die systematische Anwendung der Folter ab 1957, für die Hinrichtung algerischer BefreiungskämpferInnen. – Der junge Kommunist Guy Môquet, den es um keinen Preis mit diesem sozialdemokratischen Drecksack zu verwechseln gilt, war seinerseits der Sohn eines kommunistischen Abgeordneten des 17. Pariser Bezirks, der im Parlament sab, bevor die Partei im September 1939 (infolge des Hitler-Stalin-Pakts), noch durch die Republik, verboten wurde. Die Familie Guy Môquets gehörte zu den frühesten Widerstandsaktivisten, zu einer Zeit, als die „offizielle“ KP sich noch ausgesprochen zögerlich und abwartend verhielt, da ihre Führung vom Hitler-Stalin-Pakt „gefangen“ war (bis zum nazideutschen Angriff auf die UdSSR im Juni 1941, oder präziser, bis kurz davor), während es an der Basis heftigst rumorte. Zur selben Zeit hielt sich der gröbte Teil des französischen Bürgertums noch äuberst bedeckt gegenüber jeglicher Widerstandsaktivität gegen die Besatzungsmacht, und das ist z.T. noch höflich ausgedrückt. Guy Môquet kämpfte – noch bevor die französische KP als solche geschlossen in den Widerstand eintrat – nicht mit der Waffe in der Tat, sondern durch politische Untergrundarbeit, Flugblattverteilen, durch den Versuch, die Parteibasis organisierend beisammen zu halten usw. Er wurde in der Nähe der Gare de l’Est (am Pariser Ostbahnhof) verhaftet. Heute trägt eine Métro-Station auf der Linie 13 der Pariser Untergrundbahn ‚Métropolitain’ seinen Namen.

 

Editorische Anmerkungen

Dieser Artikel wurde uns vom Autor zur Veröffentlichung am 13.11.07  gegeben. Eine gekürzte Fassung dieses Artikels erschien vorige Woche in ‚Analyse & Kritik’. Eine Glosse zum Thema vom Verfasser soll in der nächsten Ausgabe der KONKRET erscheinen.