Sozialdemokratie und Faschismus

von Josef Schleifstein

11/08

trend
onlinezeitung

Zum geschichtlichen Hintergrund der "Sozialfaschismus"-These gehört die Stellung der sozialdemokratischen Parteien zu faschistischen Regimes und Bewegungen in den verschiedenen Ländern. Diese Haltung bildete einen nicht unwichtigen Teil der Erfahrungen der revolutionären Strömung der Arbeiterbewegung, der Kommunistischen Parteien, mit der politischen Praxis der rechten sozialdemokratischen Führungen. Am Beginn dieser Erfahrungen stand die Tatsache, dass sich während des ersten Weltkrieges in fast allen sozialdemokratischen Parteien der kriegführenden Länder chauvinistische, den Imperialismus ihrer herrschenden Klassen feiernde und unterstützende Strömungen herausgebildet hatten.  

 Mussolini selbst war 1914 als Renegat des pazifistischen Sozialismus ein fanatischer Anhänger des Kriegseintritts Italiens geworden und hatte als Chauvinist die Losung "Krieg oder Republik" ausgegeben. In einem mit Ententegeld gegründeten Blatt, dem "Popolo d'Italia", verkündete er die Zukunft und Größe Italiens mit dem Krieg; den Klassenkampf der Arbeiterbewegung lehnte er nunmehr wie die den Krieg bejahenden sozialdemokratischen Führungen in anderen Ländern ab, weil er "die Nation spalte und schwäche". Auch der spätere militärische Diktator Polens, Pilsudski, war aus dem rechten, nationalistischen Flügel der polnischen Sozialdemokratie hervorgegangen. Die Ideologie des sozialimperialistischen Flügels der sozialdemokratischen Parteien während des ersten Weltkrieges - etwa Lensch und Cunow in Deutschland, Hervé in Frankreich, Blatchford in England - weist eine frappierende Ähnlichkeit mit der späteren Ideologie des Faschismus in den verschiedenen Ländern auf.  

 Hinzu kamen praktische Erfahrungen mit der Haltung sozialdemokratischer Parteien zu faschistischen oder weißgardistischen konterrevolutionären Regierungen, so in Ungarn, Bulgarien und Polen. Unter Führung des Admirals Horthy wurde in Ungarn nach Niederschlagung der Räterepublik im August 1919 eine offene Militärdiktatur errichtet. Mit diesem konterrevolutionären Regime schloss die rechte Führung der ungarischen Sozialdemokratischen Partei im Dezember 1921 einen Geheimvertrag ab, in dem sie sich dem Premierminister Graf Bethlen gegenüber verpflichtete, "aktive Propaganda für Ungarn" bei ihren ausländischen sozialdemokratischen Freunden zu treiben, mit dem ungarischen Außenministerium zusammenzuarbeiten und in allererster Linie einen "magyarischen Standpunkt" einzunehmen. Zugleich gelobte sie die "Konsolidierung" des Regimes zu unterstützen, politische Streiks zu verhindern und die Kampagne für die Republik einzustellen. Sie verpflichtete sich ferner, auf die Organisierung und Werbung unter den Landarbeitern, den Eisenbahnern und Staatsangestellten zu verzichten. Wörtlich hieß es: "Die Delegierten der ungarischen Sozialdemokratischen Partei erklären, dass sie den vom Premierminister vorgetragenen Wünschen sowohl hinsichtlich der Außen- wie der Innenpolitik zustimmen, und dass sie versichern, diese Wünsche ihrerseits zu erfüllen. Sie ernennen einen Vertreter, der die Verbindung zum Außenministerium aufrechterhalten wird."(46)  Die konterrevolutionäre Regierung garantierte unter diesen Bedingungen die Legalität der Sozialdemokratischen Partei, in einer Periode, in der der weiße Terror gegen die revolutionäre Arbeiterschaft wütete. Als der Inhalt des Geheimabkommens drei Jahre später bekannt wurde und die Zweite Internationale gezwungen war, eine Untersuchungskommission unter Leitung Karl Kautskys einzusetzen, wurde der ungarischen Sozialdemokratie bescheinigt, sie hätte "in gutem Glauben" gehandelt und ihre Versicherung wurde akzeptiert, dass der Vertrag nicht fortgesetzt werde.  

 Bulgarien bietet ein noch schlimmeres Beispiel. Dort war 1923 nach einem Wahlsieg der fortschrittlichen Bauernpartei unter Führung Stambuliskys (437.000 Stimmen) und der Kommunistischen Partei (219.000 Stimmen) - während der Bürgerblock 219.000 und die Sozialdemokratische Partei 40.000 Stimmen erhalten hatten - die Stambulisky-Regierung gebildet worden, die sich eine Agrarreform, die Aburteilung der früheren Kriegsminister und andere bei der Reaktion unbeliebte Maßnahmen zum Ziel gesetzt hatte. Daraufhin führten die reaktionären Parteien im Juni 1923 einen militärischen Staatsstreich durch, der von Armeeoffizieren organisiert war, stürzten gewaltsam die Bauernregierung und ermordeten den Premierminister Stambulisky. Ein weißes Terrorregime unter Leitung Zankoffs wurde eingesetzt, das selbst nach dem Zeugnis des Vorsitzenden der II. Internationale Emile Vandervelde binnen achtzehn Monaten 16.000 bulgarische Arbeiter und Bauern mordete. In der Zankoff-Regierung war die Sozialdemokratische Partei, die offiziell der II. Internationale angeschlossen war, durch ihren Minister Kasassoff vertreten, neben den Repräsentanten der faschistischen Offiziersliga und der bürgerlichen Parteien. (47)  

 Schließlich kam der polnische Militärdiktator Marschall Pilsudski vom rechten nationalistischen Flügel der polnischen Sozialisten (PPS), die eine offizielle Sektion der II. Internationale bildeten. Als Pilsudski im Mai 1926 durch einen Staatsstreich an die Macht kam, waren zunächst Illusionen über einen möglicherweise bäuerlich-kleinbürgerlichen Charakter dieses Umsturzes in weiten Teilen der Arbeiterklasse vorherrschend, und so konnte der Eintritt eines führenden Vertreters der polnischen Sozialdemokraten, Moraczewski, in das Kabinett Pilsudkis als entschuldbarer Irrtum angesehen werden. Aber selbst als nach kurzer Zeit klar war, dass Pilsudski ein diktatorisches, halbfaschistisches Regime aufzurichten im Begriff war, blieb Moraczewski in der Regierung. (48)  

 In Italien traten 1926 die sozialdemokratischen Führer der Gewerkschaften (der Allgemeinen Konföderation der Arbeit) in die Dienste Mussolinis und lösten ihre Organisationen auf, ein Vorbild, dem deutsche sozialdemokratische Gewerkschaftsführer im Mai 1933 nachzueifern suchten. Auch in Ländern mit einer starken und alten bürgerlich-parlamentarischen Tradition, wie Großbritannien, kam der spätere Faschistenführer Mosley vom rechten Flügel der Labour Party. Er war 1927 in die Exekutive der Partei gewählt und 1929 zum Minister in der Labour-Regierung Ramsey Mac Donalds ernannt worden; noch 1930 gehörte er dem Exekutivkomitee der Labour Party an. Als er im Frühjahr 1931 mit der Bildung der "New Party" den ersten Schritt zur Formierung einer faschistischen Bewegung tat, schlossen sich ihm sechs Parlamentsabgeordnete der Labour Party an. (49)  Das sind nur einige der historischen Tatsachen, die eine bedeutende Rolle bei der Einschätzung des Verhältnisses von Sozialdemokratie und Faschismus durch die kommunistische Bewegung spielten. Über die deutsche Entwicklung wird gesondert die Rede sein.  

 Die sozialdemokratischen Parteien und die II. Internationale gelangten zu keiner klaren, den Klassencharakter des Faschismus und seine Gefahr für die gesamte Arbeiterbewegung erfassenden Definition des Faschismus. Es gab in ihren Reihen eine Unzahl verschiedener Definitionen, die denFaschismus bagatellisierten, ihn zu einer "Revolution" des Kleinbürgertums erklärten oder auf die diktatorischen Gelüste einzelner "Führer" reduzierten, unüberwindbare Gegensätze faschistischer Bewegungen und Regimes zur Bourgeoisie behaupteten, den fundamentalen Charakter des Faschismus als Werkzeug der Monopolbourgeoisie leugneten. Zugleich wurde schon seit der Errichtung der faschistischen Diktatur in Italien 1922 der Versuch deutlich, den Faschismus nicht etwa als Gegenoffensive des Kapitals gegen die Arbeiterklasse zur Aufrechterhaltung seiner ökonomischen und politischen Herrschaft, sondern als bloße "Reaktion" auf den Bolschewismus, auf revolutionäre Aktionen der Arbeiterbewegung zu deuten. So sahen Hilferding, Crispien und andere sozialdemokratische Führer als Ursache des faschistischen Sieges in Italien nicht die von den reformistischen Partei- und Gewerkschaftsführern verhinderte gemeinsame Abwehrfront der Arbeiterschaft, sondern eine "über ihre Kraft" vorgestoßene Arbeiterklasse, die ihre Rechte und Errungenschaften zu gering geachtet habe, ein Proletariat, das nicht gewusst habe, welches Gut die Freiheit ist. (50)  Der Faschismus als soziale Erscheinung wurde nicht verbunden mit dem Monopolkapital und seinem Drang nach reaktionären Herrschaftsformen, nach der Beseitigung der Demokratie (eine Tendenz, die der Hilferding des "Finanzkapital" 1910 bekanntlich selbst hervorgehoben hatte), sondern mit der Rückständigkeit der Entwicklung, dem Überwiegen der Agrarbevölkerung, dem niedrigen Kulturniveau, der Psychologie eines Mittelmeervolkes. Kautsky stellte die These auf, die Bedingungen des Aufkommens des Faschismus seien auf "ein besonderes Land und auf einen bestimmten Zeitpunkt beschränkt" und würden sich "so leicht nicht wiederholen"; in einem industriellen Land, schrieb Kautsky über die faschistische Bewegung, die er als Bewegung von Deklassierten kennzeichnete, "ist eine so große Zahl von Lumpen in den besten Mannesjahren für kapitalistische Zwecke nicht aufzutreiben". Der Vorsitzende der II. Internationale Emile Vandervelde erklärte auf ihrem 3. Kongress 1928: "Überall, wo die Pferdekraft ist, da ist die Demokratie, überall, wo das lebendige Pferd ist, dominiert Faschismus und Absolutismus." (51)  

 Man verstieg sich in der theoretischen Urheimat des antimarxistischen Revisionismus, den "Sozialistischen Monatsheften", zu wahren Lobgesängen auf den Mussolini-Faschismus, erklärte Mussolini zum Sozialisten, wenn auch nicht Marxscher, so doch "Blanquistischer oder Sorelscher Färbung", rühmte ihn als Vollstrecker der von den "Sozialistischen Monatsheften" seit langem propagierten Idee einer "Kammer der Arbeit" und folgerte: "Er hat gehandelt und hat manches geschaffen, während der zerfahrend, unklar dogmatische Sozialismus nur zerstörend gewirkt hat." Sogar der faschistische Terror wurde noch entschuldigt, denn es bleibe "ein gewaltiger Unterschied, ob Gewalt zu guten oder schlechten Zwecken angewandt wird". (52)  Einer der späteren publizistischen Vorkämpfer der Anpassung der Gewerkschaften an die faschistische Diktatur der Nazis, Walter Pahl, nannte den Faschismus nicht nur antiliberal, sondern auch antikapitalistisch, und erklärte, er sei seinem innersten Wesen "der kapitalistischen  Großindustrie entgegengesetzt". (53)

 Rechtssozialdemokratische Publizisten verstiegen sich bis zu offen rassistischen Argumenten, so wenn Hermann Müller-Brandenburg in der "Neuen Zeit" schrieb, der Kampf gegen das Judentum erhalte unnötigerweise dadurch Nahrung, "dass über die Reichsgrenzen im Osten seit Jahr und Tag Massen von Ostjuden einströmten, deren wir uns erwehren sollten"; die Deutschen hätten nicht die Möglichkeit, sich selbst notdürftig zu ernähren "und haben keinen Anlass, anderen Staaten die Volksteile abzunehmen, die sie abzustoßen versuchen". (54) Stark verbreitet war die Überschätzung des Einflusses der kleinbürgerlichen  Massenbasis der Nazipartei auf deren Politik, die man als Sturm "gegen die hochkapitalistischen Elemente und Erscheinungsformen des Kapitalismus", als eine Rückkehr zu vorkapitalistischen oder doch Vorkriegsverhältnissen deutete, als zugleich "antikapitalistisch und antiproletarisch", als "mißgeleitete Rebellion" der Mittelschichten. Selbst zum linken Flügel tendierende Sozialdemokraten wie Alexander Schifrin, sahen im Faschismus weniger ein Werkzeug des monopolistischen Kapitals als vielmehr "feudal-mittelständische Reaktion" und "Stoßtrupp des Großgrundbesitzes". (55)  

 Sehr wichtig für das Entstehen und die Anwendung der These vom "Sozialfaschismus" in den kommunistischen Parteien waren neben der praktischen geschichtlichen Erfahrung mit der sozialdemokratischen Regierungspolitik und ihrer Reaktion, die Konterrevolution und den Faschismus nicht nur tolerierenden, sondern oft genug fördernden Haltung (z. B. die Bewaffnung der Freikorps, der militärischen Keimzelle des Faschismus, durch Noske) auch die theoretische und publizistische Gleichsetzung von Faschismus und Bolschewismus, von faschistischer und kommunistischer "Diktatur", die bereits Mitte der zwanziger Jahre in der gesamten sozialdemokratischen Presse besonders in Deutschland zur täglichen Übung geworden war. Einer der Führer der österreichischen  Sozialdemokratie, Julius Deutsch, nannte den Faschismus einen "Bolschewismus der Tat"; Arthur Crispien erklärte in seiner Eröffnungsansprache auf dem Berliner Parteitag der SPD 1924: "Der Bolschewismus endet im Faschismus. Das sehen wir in Ungarn, in Italien und auch in Russland, wo im Grunde nichts anderes als der Faschismus wütet." (56)  Im März 1929 begründete der "Vorwärts" die sozialdemokratische  Ablehnung, an dem unter dem Patronat des französischen Schriftstellers und Antimilitaristen Henri Barbusse einberufenen Internationalen Antifaschistischen Kongress teilzunehmen, u. a. mit dem Satz: "Der Kampf gegen den Faschismus kann nicht in einer Front mit den Vätern des Faschismus geführt werden." In dem gleichen Artikel wurden die Kommunisten ideologisch als "die besten Stützen" des Faschismus bezeichnet. (57)  Otto Wels sagte in seiner Eröffnungsansprache auf dem SPD-Parteitag 1931 in Leipzig: "Bolschewismus und Faschismus sind Brüder." (58)  

 Hinzu kam eine geradezu selbstmörderische Unterschätzung der faschistischen Gefahr, die bis in die letzten Jahre der Weimarer Republik hineinreichte. Momentane Wahlerfolge, die kapitalistische Stabilisierung in den Jahren nach 1924, vorübergehende Stimmeneinbußen der Nazis und der Deutschnationalen genügten, um von einer endgültigen Niederlage des Faschismus zu sprechen. Nicht einmal die Erfahrung des Kapp-Putsches, der Morde an Rathenau und Erzberger, der Förderung faschistischer Umtriebe durch die Bayrische Landesregierung und die Reichswehr, der Hitler-Ludendorff-Putsch von 1923 vermochten es, die sozialdemokratischen Führer von ihrem leichtfertigen Optimismus abzubringen. Als nach dem Mord an Rathenau der katholische Kanzler Joseph Wirth ausrief: Der Feind steht rechts!, konnte selbst diese Warnung die sozialdemokratischen Minister und Führer nicht zu einem energischen Vorgehen gegen die faschistische, nationalistische und militärische Reaktion veranlassen. Der frühere Sozialdemokrat und spätere bürgerliche Republikaner Konrad Hänisch, ein Vertrauter Eberts, schrieb nach einer längeren Unterhaltung mit ihm 1923, man müsse von der tiefen Tragik sprechen, die "Ebert, den Erwählten der Revolution, nun auch zum Präsidenten der immer stärker heraufziehenden Gegenrevolution hatte werden lassen." (59)  

 Charakteristisch für die kaum glaubliche Unterschätzung faschistischer Gefahren und Tendenzen ist z. B. die Stellungnahme des sozialdemokratischen Parteivorsitzenden Hermann Müller zum Ergebnis der Reichstagswahlen vom Dezember 1924: "Der Kampf um die Diktatur ist in Deutschland ausgekämpft. Die künftige Entwicklung der deutschen Republik wird sich auf dem Boden des demokratischen Parlamentarismus vollziehen. Die Völkischen, die behaupteten, eine Patentlösung für die Gesundung Deutschlands zu haben, haben eine Niederlage erlitten." (60)  Selbst als Jahre später die Nazipartei bei den 1929 durchgeführten Landtags- und Kommunalwahlen in einigen Ländern starke Stimmengewinne verzeichnen konnte, sonnte sich der "Vorwärts" im Oktober 1929 in der selbstherrlichen Gewissheit, die SPD sei schon "mit ganz anderen Gegnern fertig geworden"; diese rechtsradikalen Bewegungen glichen Rinnsalen, die zu normalen Zeiten träge dahin schleichen, aber sich bei schlechtem Wetter zu reißenden Großbächen verwandeln, die allerhand Trümmer und Unrat mit sich fortschwemmen: "Dauernden Schaden haben sie niemals anzurichten vermocht." (61)  In einem  anderen Kommentar hieß es: "Durch das Gespenst des Faschismus darf man sich nicht einschüchtern lassen. Es sind in Deutschland Kräfte genug vorhanden, die Demokratie durchzusetzen." (62)  Es blieb bei diesen Bekundungen der Selbstzufriedenheit. Sogar als die Gefahr bereits tödlich war, weigerte man sich noch immer, diese Kräfte ernsthaft zu mobilisieren und in den Kampf zu führen. Über diese Haltung in den letzten Jahren der Weimarer Republik wird gesondert zu sprechen sein.  

 Diese und ähnliche Einschätzungen und Deutungen hingen vor allem damit zusammen, dass die in der deutschen Sozialdemokratie dominierenden Faschismusauffassungen den fundamentalen Zusammenhang zwischen Faschismus und Monopolkapital, zwischen Faschismus und Imperialismus negierten. Die deutsche faschistische Bewegung in Gestalt der Nazipartei wurde nur von der Seite ihrer in den städtischen und agrarischen Mittelschichten wurzelnden Massenbasis gesehen, ihre soziale und antikapitalistische Demagogie wurde für bare Münze genommen. Dagegen wurden die damals ständig an Bedeutung gewinnenden Beziehungen zu einflussreichen großkapitalistischen Kreisen, ihre Finanzierung durch diese Kreise, die Tatsache, dass die Nazipartei nach dem großen Wahlerfolg vom September 1930 als chauvinistische und gegen die gesamte Arbeiterbewegung mobil machende Rechtspartei für die inneren wie äußeren Ziele und Interessen des monopolistischen Kapitals sprunghaft an Attraktivität und Gewicht gewonnen hatte, geleugnet oder bagatellisiert. 

 Ebenso wurde der Umstand unterschätzt, dass die Nazipartei, infolge ihres Wahlerfolgs, zum offiziellen und umworbenen Verbündeten der bis dahin wichtigsten politischen Repräsentantin der deutschen Schwerindustrie und des junkerlichen Großgrundbesitzes, der Deutschnationalen Volkspartei, geworden war. Dieses Bündnis war im Oktober 1931 in Bad Harzburg durch Bildung der "Harzburger Front" formalisiert worden.  Um dieselbe Zeit hatte Reichspräsident von Hindenburg den Nazichef Hitler erstmals in offizieller Audienz empfangen. Gleichfalls Ende 1931/Anfang 1932 war das wachsende Interesse und die zunehmende Sympathie führender  monopolkapitalistischer Kreise für die Nazis vor aller Öffentlichkeit demonstriert worden.  

 Am 9. Dezember 1931 war Hitler mit den Ruhrindustriellen Thyssen, Vögler und Stinnes zusammengetroffen. Thyssen war der Nazipartei beigetreten, Vögler war Mitglied des Keppler-Kreises (späterer Freundeskreis Reichsführer SS Himmler), der wichtigsten Verbindungsstelle zwischen der Naziführung und dem Großkapital geworden. Am 27. Januar 1932 schließlich hatte Thyssen jene Zusammenkunft mit Hitler im Düsseldorfer Industriellenclub arrangiert, an der die einflussreichsten und mächtigsten Männer des deutschen Industrie- und Bankkapitals teilnahmen. Dort hatte Hitler sich dem Kapital als der einzige Retter vor dem "asiatischen Bolschewismus" angepriesen und die "Ausrottung des Marxismus bis zur letzten Wurzel" versprochen. Dafür war er von den Konzernherren mit enthusiastischem Beifall gefeiert worden, was sich bald in hohen finanziellen Zuwendungen niederschlug.  

 Auch diese an Deutlichkeit nicht mehr zu überbietenden Zeichen der Entwicklung veränderten das herrschende Faschismusbild in der sozialdemokratischen Führung kaum. Der Leipziger Parteitag der SPD 1931, auf dem das Thema des Faschismus zu einem besonderen Tagesordnungspunkt gemacht worden war, brachte im Hinblick auf die Kernfrage der faschistischen Gefahr keine wesentlichen Erkenntnisfortschritte: dass nämlich die Nazipartei infolge ihrer gewaltig gewachsenen Massenbasis für die reaktionären und chauvinistischen Kräfte des Monopolkapitals nicht nur salonfähig, sondern regierungsfähig geworden war, und dass nunmehr die stärksten und einflussreichsten monopolkapitalistischen Kreise für ihre gegen die Arbeiterbewegung im Innern und auf imperialistische Großmachtziele nach außen gerichteten Bestrebungen auf die Naziführung und die Nazipartei setzten und die faschistische Diktatur aktiv vorbereiteten.  

 Zwar sprach Breitscheid auf dem Leipziger SPD-Parteitag davon, die Nazis suchten vorsichtig "den Anschluss an die kapitalistische Klasse", aber er leugnete ausdrücklich, dass eine nazistische Verbrüderung mit den Kapitalisten "unmittelbar bevorstehe". Einer der führenden sozialdemokratischen Publizisten des rechten Flügels, Ernst Heilmann, schrieb noch im Herbst 1932, er könne sich eine Zusammenarbeit von Nazis und Spätkapitalismus überhaupt nicht vorstellen. (63)  Wie Fritz Tarnow auf dem Leipziger Parteitag, so sahen die meisten sozialdemokratischen Führer im Nazifaschismus eine, wenn auch missgeleitete, Form der sozialen Rebellion der bürgerlichen Zwischenschichten. 

 Ein sehr wichtiges Merkmal der offiziellen sozialdemokratischen Faschismusauffassung war auch die verhängnisvolle Unterschätzung der Beziehungen zwischen Faschismus und Staatsapparat selbst noch in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Dies war um so seltsamer und unvollständiger, als das Verhältnis großer Teile der staatlichen Exekutive und des Justizapparats zur Republik seit ihren Anfängen als äußerst zwiespältig und illoyal bekannt war. Dies galt sowohl für die Reichswehr wie für die hohe Verwaltungsbürokratie, die Diplomatie, die Justiz und bedeutende Teile der Polizei (mit teilweiser Ausnahme Preußens und Sachsens). Als bei den Wahlen vom Herbst 1930 die Wähler der bürgerlichen Rechts- und Mitteparteien in hellen Scharen zur Nazipartei überliefen, bedeutete dies, dass die Faschisten jetzt auch auf die Unterstützung eines wichtigen Teils des Staatsapparates und der Beamtenschaft zählen konnten. Die sozialdemokratische Führung war so sehr von illusionären, legalistischen Vorstellungen geblendet, dass sie auch in dieser letzten Phase der Weimarer Republik annahm, der Reichspräsident Hindenburg und die auf die Verfassung vereidigten Beamten des Staatsapparates und der Justiz würden im Ernstfalle die Republik vor dem Ansturm des Faschismus schützen.  

 Es fanden sich in der Sozialdemokratie auch Gruppen, die diese gefährliche Unterschätzung der faschistischen Bedrohung nicht teilten, die erkannten, dass die ständige Unterwerfung unter die kapitalistischen Interessen in der Koalition mit den bürgerlichen Parteien oder durch die spätere Tolerierung der Brüningschen Notverordnungspolitik die Arbeiterklasse und die Demokratie schwächen und der Faschisierung den Weg öffnen musste. In den Jahren 1929/1930 bildete sich eine - allerdings kleine - Linke heraus, die den Faschismus in seinen Klassenwurzeln richtiger einschätzte und daher auch einsah, dass die Arbeiterklasse ihn nur im energischen Kampf überwinden konnte. Diese Richtung, die sich um die Zeitschrift "Klassenkampf" gruppierte und später die SAP gründete, gehörten u. a. Max Seydewitz, Kurt Rosenfeld, Engelbert Graf an. Max Seydewitz wandte sich Anfang 1939 gegen die Koalitionspolitik der SPD in der Hermann-Müller-Regierung und erklärte, dass diese Politik "zum Schaden der Sozialdemokratie und der Arbeiterklasse ausschlägt und die faschistischen  Tendenzen in außerordentlicher Weise stärkt". Er forderte den Austritt der Sozialdemokratie aus der Koalition, weil nur das "der Sozialdemokratie die reale Macht und Stärke gibt, einen wirksamen Damm gegen die faschistische Gefahr aufzurichten und die proletarischen Forderungen zu verwirklichen". (64)  

 Nach dem Ausscheiden der SPD-Minister aus der Regierung versuchten die Linken, die SPD für eine entschiedene Haltung gegen den Faschismus zu gewinnen. So kritisierten sie auf dem Leipziger Parteitag der SPD 1931 die offizielle Analyse des Faschismus und erklärten in einer Resolution: "Der deutsche Nationalsozialismus ist bestimmt durch den Monopolkapitalismus in einem Lande mit feudalkapitalistischer Tradition, in  dem der Faschismus Kampfwaffe des herrschenden  Monopolkapitalismus gegen die Arbeiterklasse ist."  Zugleich verlangten sie, dass die Sozialdemokratische Partei ihre ganze Kraft einsetze "für die Beseitigung der ökonomischen Ursachen des Faschismus." (65)  In ihrem Organ, dem "Klassenkampf", wandte sich der linke österreichische Sozialdemokrat Max Adler gegen die Illusionen über den vom Großkapital beherrschten bürgerlich-parlamentarischen Staat und schrieb: "Der Reformismus sieht nicht ein oder will es nicht zugeben, dass die politische Demokratie bisher gerade darin bestand, die Diktatur der besitzenden Klassen auf demokratischem Wege auszuüben, und dass der Faschismus heute einen solchen Anhang gewinnt, weil die antiproletarischen Klassen die Sicherheit verlieren, ihre Diktatur auch 'demokratisch' zu behaupten." (66)  

 Aber die Linken innerhalb der SPD waren keine einheitliche Gruppierung. Sie konnten sich in ihrer Praxis auch nicht von zahlreichen antikommunistischen Vorbehalten befreien. Ihre Rolle in der SPD sahen sie als Retter der Einheit der Partei vor dem Abschwenken sich radikalisierender und enttäuschter Anhänger und Wähler zu den Kommunisten. Max Adler schrieb später in einem Aufsatz über "Die historische Funktion der linken Opposition": "... und wenn sich immer größere Massen in der deutschen Sozialdemokratie infolge der herrschenden Parteipolitik abgestoßen fühlten, so war es durchaus das Verdienst der linken Richtung, wenn nicht alle schon längst die Partei verlassen hatten. Je stärker die Linksrichtung innerhalb der Sozialdemokratie ist, um so mehr erhält sie gerade die revolutionär Lebendigen und vor allem die Jugend bei der Fahne  der Partei." (67)   

 Fussnoten

46  R. Palme Dutt, Fascism and Social Revolution, S. 172, A History of Hungary ed. by Ervin Palményi, Budapest 1973, S. 467 f.

47  Ebenda, S. 173.

48  Ebenda.

49  Ebenda, S. 267.

50  Die Ausführungen in diesem Abschnitt stützen sich weitgehend auf die Habilitationsschrift von Helmut Arndt an der Karl-Marx-Universität Leipzig - Oktober 1970: "Zum Faschismusbild der deutschen Sozialdemokratie (1922-1939) - Eine ideengeschichtliche Abhandlung." Auch viele nachfolgende Zitate sind dieser Arbeit entnommen. Vgl. auch: Protokoll des Kieler Parteitages der SPD 1927, S. 178, 238.

51  Karl Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung, Bd. 2, S. 478, Berlin 1927; 3. Kongress der SAI, Berichte und Verhandlungen 2. Bd. (Abt. V-IX), Zürich 1928, S. VII/22.

52  Wally Zappler, Faschismus und Sozialismus in: Sozialistische Monatshefte, 29. Jg., Bd. 60, 1923/Heft 9, S. 599.

53  Walter Pahl, Der italienische Fascismus und der internationale Sozialismus, in: Sozialistische Monatshefte, 34. Jg., 66. Bd., 1928/Heft 6, S. 490 ff.

54  H. Müller-Brandenburg, Die deutsch-völkische Bewegung, Die Neue Zeit, 42. Jg., Heft 18, 1923, S. 438.

55  Die Gesellschaft, VIII. Jg. 1931/Heft 5, S. 407.

56  Protokoll des Berliner Parteitages der SPD 1924, S. 49.

57  Vorwärts vom 29.3.1929.

58  Protokoll des Leipziger Parteitages der SPD 1931, S. 19.

59  K. Heanisch, Friedrich Ebert, zit. in: H. Arndt, a. a. O., S. 73.

60  Vorwärts vom 8.12.1924.

61  Ebenda vom 27.10.1929.

62  Die Gesellschaft, VI. Jg., 1929/Heft 4, S. 313.

63  Protokoll des Leipziger Parteitages der SPD 1931, S. 97, 99.

64  Der Klassenkampf, 4. Jg., 1930/Heft 1, S. 5; ebenda, Heft 3, S. 72.

65  Der Klassenkampf, Sonderheft 1931, Das Ergebnis des Leipziger Parteitages, S. 29.

66  Der Kampf, Jg. 1932/Heft 2, S. 75.

67  Ebenda.

 

Editorische Anmerkungen

Bei dem Text handelt es sich um einen Quellenauszug aus:

Die "Sozialfaschismus" - These.
Zu ihrem geschichtlichen Hintergrund.
von Josef Schleifstein
Verlag Marxistische Blätter, Frankfurt am Main 1980.
(Seite 39-52)

Den Auszug besorgte Reinhold Schramm.