Zum
geschichtlichen Hintergrund der "Sozialfaschismus"-These gehört
die Stellung der sozialdemokratischen Parteien zu faschistischen
Regimes und Bewegungen in den verschiedenen Ländern. Diese
Haltung bildete einen nicht unwichtigen Teil der Erfahrungen der
revolutionären Strömung der Arbeiterbewegung, der
Kommunistischen Parteien, mit der politischen Praxis der rechten
sozialdemokratischen Führungen. Am Beginn dieser Erfahrungen
stand die Tatsache, dass sich während des ersten Weltkrieges in
fast allen sozialdemokratischen Parteien der kriegführenden
Länder chauvinistische, den Imperialismus ihrer herrschenden
Klassen feiernde und unterstützende Strömungen herausgebildet
hatten.
Mussolini
selbst war 1914 als Renegat des pazifistischen Sozialismus ein
fanatischer Anhänger des Kriegseintritts Italiens geworden und
hatte als Chauvinist die Losung "Krieg oder Republik"
ausgegeben. In einem mit Ententegeld gegründeten Blatt, dem
"Popolo d'Italia", verkündete er die Zukunft und Größe Italiens
mit dem Krieg; den Klassenkampf der Arbeiterbewegung lehnte er
nunmehr wie die den Krieg bejahenden sozialdemokratischen
Führungen in anderen Ländern ab, weil er "die Nation spalte und
schwäche". Auch der spätere militärische Diktator Polens,
Pilsudski, war aus dem rechten, nationalistischen Flügel der
polnischen Sozialdemokratie hervorgegangen. Die Ideologie des
sozialimperialistischen Flügels der sozialdemokratischen
Parteien während des ersten Weltkrieges - etwa Lensch und Cunow
in Deutschland, Hervé in Frankreich, Blatchford in England -
weist eine frappierende Ähnlichkeit mit der späteren Ideologie
des Faschismus in den verschiedenen Ländern auf.
Hinzu kamen
praktische Erfahrungen mit der Haltung sozialdemokratischer
Parteien zu faschistischen oder weißgardistischen
konterrevolutionären Regierungen, so in Ungarn, Bulgarien und
Polen. Unter Führung des Admirals Horthy wurde in Ungarn nach
Niederschlagung der Räterepublik im August 1919 eine offene
Militärdiktatur errichtet. Mit diesem konterrevolutionären
Regime schloss die rechte Führung der ungarischen
Sozialdemokratischen Partei im Dezember 1921 einen Geheimvertrag
ab, in dem sie sich dem Premierminister Graf Bethlen gegenüber
verpflichtete, "aktive Propaganda für Ungarn" bei ihren
ausländischen sozialdemokratischen Freunden zu treiben, mit dem
ungarischen Außenministerium zusammenzuarbeiten und in
allererster Linie einen "magyarischen Standpunkt" einzunehmen.
Zugleich gelobte sie die "Konsolidierung" des Regimes zu
unterstützen, politische Streiks zu verhindern und die Kampagne
für die Republik einzustellen. Sie verpflichtete sich ferner,
auf die Organisierung und Werbung unter den Landarbeitern, den
Eisenbahnern und Staatsangestellten zu verzichten. Wörtlich hieß
es: "Die Delegierten der ungarischen Sozialdemokratischen Partei
erklären, dass sie den vom Premierminister vorgetragenen
Wünschen sowohl hinsichtlich der Außen- wie der Innenpolitik
zustimmen, und dass sie versichern, diese Wünsche ihrerseits zu
erfüllen. Sie ernennen einen Vertreter, der die Verbindung zum
Außenministerium aufrechterhalten wird."(46) Die
konterrevolutionäre Regierung garantierte unter diesen
Bedingungen die Legalität der Sozialdemokratischen Partei, in
einer Periode, in der der weiße Terror gegen die revolutionäre
Arbeiterschaft wütete. Als der Inhalt des Geheimabkommens drei
Jahre später bekannt wurde und die Zweite Internationale
gezwungen war, eine Untersuchungskommission unter Leitung Karl
Kautskys einzusetzen, wurde der ungarischen Sozialdemokratie
bescheinigt, sie hätte "in gutem Glauben" gehandelt und ihre
Versicherung wurde akzeptiert, dass der Vertrag nicht
fortgesetzt werde.
Bulgarien
bietet ein noch schlimmeres Beispiel. Dort war 1923 nach einem
Wahlsieg der fortschrittlichen Bauernpartei unter Führung
Stambuliskys (437.000 Stimmen) und der Kommunistischen Partei
(219.000 Stimmen) - während der Bürgerblock 219.000 und die
Sozialdemokratische Partei 40.000 Stimmen erhalten hatten - die
Stambulisky-Regierung gebildet worden, die sich eine
Agrarreform, die Aburteilung der früheren Kriegsminister und
andere bei der Reaktion unbeliebte Maßnahmen zum Ziel gesetzt
hatte. Daraufhin führten die reaktionären Parteien im Juni 1923
einen militärischen Staatsstreich durch, der von Armeeoffizieren
organisiert war, stürzten gewaltsam die Bauernregierung und
ermordeten den Premierminister Stambulisky. Ein weißes
Terrorregime unter Leitung Zankoffs wurde eingesetzt, das selbst
nach dem Zeugnis des Vorsitzenden der II. Internationale Emile
Vandervelde binnen achtzehn Monaten 16.000 bulgarische Arbeiter
und Bauern mordete. In der Zankoff-Regierung war die
Sozialdemokratische Partei, die offiziell der II. Internationale
angeschlossen war, durch ihren Minister Kasassoff vertreten,
neben den Repräsentanten der faschistischen Offiziersliga und
der bürgerlichen Parteien. (47)
Schließlich
kam der polnische Militärdiktator Marschall Pilsudski vom
rechten nationalistischen Flügel der polnischen Sozialisten (PPS),
die eine offizielle Sektion der II. Internationale bildeten. Als
Pilsudski im Mai 1926 durch einen Staatsstreich an die Macht
kam, waren zunächst Illusionen über einen möglicherweise
bäuerlich-kleinbürgerlichen Charakter dieses Umsturzes in weiten
Teilen der Arbeiterklasse vorherrschend, und so konnte der
Eintritt eines führenden Vertreters der polnischen
Sozialdemokraten, Moraczewski, in das Kabinett Pilsudkis als
entschuldbarer Irrtum angesehen werden. Aber selbst als nach
kurzer Zeit klar war, dass Pilsudski ein diktatorisches,
halbfaschistisches Regime aufzurichten im Begriff war, blieb
Moraczewski in der Regierung. (48)
In Italien
traten 1926 die sozialdemokratischen Führer der Gewerkschaften
(der Allgemeinen Konföderation der Arbeit) in die Dienste
Mussolinis und lösten ihre Organisationen auf, ein Vorbild, dem
deutsche sozialdemokratische Gewerkschaftsführer im Mai 1933
nachzueifern suchten. Auch in Ländern mit einer starken und
alten bürgerlich-parlamentarischen Tradition, wie
Großbritannien, kam der spätere Faschistenführer Mosley vom
rechten Flügel der Labour Party. Er war 1927 in die Exekutive
der Partei gewählt und 1929 zum Minister in der Labour-Regierung
Ramsey Mac Donalds ernannt worden; noch 1930 gehörte er dem
Exekutivkomitee der Labour Party an. Als er im Frühjahr 1931 mit
der Bildung der "New Party" den ersten Schritt zur Formierung
einer faschistischen Bewegung tat, schlossen sich ihm sechs
Parlamentsabgeordnete der Labour Party an. (49) Das sind nur
einige der historischen Tatsachen, die eine bedeutende Rolle bei
der Einschätzung des Verhältnisses von Sozialdemokratie und
Faschismus durch die kommunistische Bewegung spielten. Über die
deutsche Entwicklung wird gesondert die Rede sein.
Die
sozialdemokratischen Parteien und die II. Internationale
gelangten zu keiner klaren, den Klassencharakter des Faschismus
und seine Gefahr für die gesamte Arbeiterbewegung erfassenden
Definition des Faschismus. Es gab in ihren Reihen eine Unzahl
verschiedener Definitionen, die denFaschismus bagatellisierten,
ihn zu einer "Revolution" des Kleinbürgertums erklärten oder auf
die diktatorischen Gelüste einzelner "Führer" reduzierten,
unüberwindbare Gegensätze faschistischer Bewegungen und Regimes
zur Bourgeoisie behaupteten, den fundamentalen Charakter des
Faschismus als Werkzeug der Monopolbourgeoisie leugneten.
Zugleich wurde schon seit der Errichtung der faschistischen
Diktatur in Italien 1922 der Versuch deutlich, den Faschismus
nicht etwa als Gegenoffensive des Kapitals gegen die
Arbeiterklasse zur Aufrechterhaltung seiner ökonomischen und
politischen Herrschaft, sondern als bloße "Reaktion" auf den
Bolschewismus, auf revolutionäre Aktionen der Arbeiterbewegung
zu deuten. So sahen Hilferding, Crispien und andere
sozialdemokratische Führer als Ursache des faschistischen Sieges
in Italien nicht die von den reformistischen Partei- und
Gewerkschaftsführern verhinderte gemeinsame Abwehrfront der
Arbeiterschaft, sondern eine "über ihre Kraft" vorgestoßene
Arbeiterklasse, die ihre Rechte und Errungenschaften zu gering
geachtet habe, ein Proletariat, das nicht gewusst habe, welches
Gut die Freiheit ist. (50) Der Faschismus als soziale
Erscheinung wurde nicht verbunden mit dem Monopolkapital und
seinem Drang nach reaktionären Herrschaftsformen, nach der
Beseitigung der Demokratie (eine Tendenz, die der Hilferding des
"Finanzkapital" 1910 bekanntlich selbst hervorgehoben hatte),
sondern mit der Rückständigkeit der Entwicklung, dem Überwiegen
der Agrarbevölkerung, dem niedrigen Kulturniveau, der
Psychologie eines Mittelmeervolkes. Kautsky stellte die These
auf, die Bedingungen des Aufkommens des Faschismus seien auf
"ein besonderes Land und auf einen bestimmten Zeitpunkt
beschränkt" und würden sich "so leicht nicht wiederholen"; in
einem industriellen Land, schrieb Kautsky über die faschistische
Bewegung, die er als Bewegung von Deklassierten kennzeichnete,
"ist eine so große Zahl von Lumpen in den besten Mannesjahren
für kapitalistische Zwecke nicht aufzutreiben". Der Vorsitzende
der II. Internationale Emile Vandervelde erklärte auf ihrem 3.
Kongress 1928: "Überall, wo die Pferdekraft ist, da ist die
Demokratie, überall, wo das lebendige Pferd ist, dominiert
Faschismus und Absolutismus." (51)
Man
verstieg sich in der theoretischen Urheimat des
antimarxistischen Revisionismus, den "Sozialistischen
Monatsheften", zu wahren Lobgesängen auf den
Mussolini-Faschismus, erklärte Mussolini zum Sozialisten, wenn
auch nicht Marxscher, so doch "Blanquistischer oder Sorelscher
Färbung", rühmte ihn als Vollstrecker der von den
"Sozialistischen Monatsheften" seit langem propagierten Idee
einer "Kammer der Arbeit" und folgerte: "Er hat gehandelt und
hat manches geschaffen, während der zerfahrend, unklar
dogmatische Sozialismus nur zerstörend gewirkt hat." Sogar der
faschistische Terror wurde noch entschuldigt, denn es bleibe
"ein gewaltiger Unterschied, ob Gewalt zu guten oder schlechten
Zwecken angewandt wird". (52) Einer der späteren
publizistischen Vorkämpfer der Anpassung der Gewerkschaften an
die faschistische Diktatur der Nazis, Walter Pahl, nannte den
Faschismus nicht nur antiliberal, sondern auch
antikapitalistisch, und erklärte, er sei seinem innersten Wesen
"der kapitalistischen Großindustrie entgegengesetzt". (53)
Rechtssozialdemokratische Publizisten verstiegen sich bis zu
offen rassistischen Argumenten, so wenn Hermann
Müller-Brandenburg in der "Neuen Zeit" schrieb, der Kampf gegen
das Judentum erhalte unnötigerweise dadurch Nahrung, "dass über
die Reichsgrenzen im Osten seit Jahr und Tag Massen von Ostjuden
einströmten, deren wir uns erwehren sollten"; die Deutschen
hätten nicht die Möglichkeit, sich selbst notdürftig zu ernähren
"und haben keinen Anlass, anderen Staaten die Volksteile
abzunehmen, die sie abzustoßen versuchen". (54) Stark verbreitet
war die Überschätzung des Einflusses der kleinbürgerlichen
Massenbasis der Nazipartei auf deren Politik, die man als Sturm
"gegen die hochkapitalistischen Elemente und Erscheinungsformen
des Kapitalismus", als eine Rückkehr zu vorkapitalistischen oder
doch Vorkriegsverhältnissen deutete, als zugleich
"antikapitalistisch und antiproletarisch", als "mißgeleitete
Rebellion" der Mittelschichten. Selbst zum linken Flügel
tendierende Sozialdemokraten wie Alexander Schifrin, sahen im
Faschismus weniger ein Werkzeug des monopolistischen Kapitals
als vielmehr "feudal-mittelständische Reaktion" und "Stoßtrupp
des Großgrundbesitzes". (55)
Sehr
wichtig für das Entstehen und die Anwendung der These vom
"Sozialfaschismus" in den kommunistischen Parteien waren neben
der praktischen geschichtlichen Erfahrung mit der
sozialdemokratischen Regierungspolitik und ihrer Reaktion, die
Konterrevolution und den Faschismus nicht nur tolerierenden,
sondern oft genug fördernden Haltung (z. B. die Bewaffnung der
Freikorps, der militärischen Keimzelle des Faschismus, durch
Noske) auch die theoretische und publizistische Gleichsetzung
von Faschismus und Bolschewismus, von faschistischer und
kommunistischer "Diktatur", die bereits Mitte der zwanziger
Jahre in der gesamten sozialdemokratischen Presse besonders in
Deutschland zur täglichen Übung geworden war. Einer der Führer
der österreichischen Sozialdemokratie, Julius Deutsch, nannte
den Faschismus einen "Bolschewismus der Tat"; Arthur Crispien
erklärte in seiner Eröffnungsansprache auf dem Berliner
Parteitag der SPD 1924: "Der Bolschewismus endet im Faschismus.
Das sehen wir in Ungarn, in Italien und auch in Russland, wo im
Grunde nichts anderes als der Faschismus wütet." (56) Im März
1929 begründete der "Vorwärts" die sozialdemokratische
Ablehnung, an dem unter dem Patronat des französischen
Schriftstellers und Antimilitaristen Henri Barbusse einberufenen
Internationalen Antifaschistischen Kongress teilzunehmen, u. a.
mit dem Satz: "Der Kampf gegen den Faschismus kann nicht in
einer Front mit den Vätern des Faschismus geführt werden." In
dem gleichen Artikel wurden die Kommunisten ideologisch als "die
besten Stützen" des Faschismus bezeichnet. (57) Otto Wels sagte
in seiner Eröffnungsansprache auf dem SPD-Parteitag 1931 in
Leipzig: "Bolschewismus und Faschismus sind Brüder." (58)
Hinzu kam
eine geradezu selbstmörderische Unterschätzung der
faschistischen Gefahr, die bis in die letzten Jahre der Weimarer
Republik hineinreichte. Momentane Wahlerfolge, die
kapitalistische Stabilisierung in den Jahren nach 1924,
vorübergehende Stimmeneinbußen der Nazis und der
Deutschnationalen genügten, um von einer endgültigen Niederlage
des Faschismus zu sprechen. Nicht einmal die Erfahrung des
Kapp-Putsches, der Morde an Rathenau und Erzberger, der
Förderung faschistischer Umtriebe durch die Bayrische
Landesregierung und die Reichswehr, der Hitler-Ludendorff-Putsch
von 1923 vermochten es, die sozialdemokratischen Führer von
ihrem leichtfertigen Optimismus abzubringen. Als nach dem Mord
an Rathenau der katholische Kanzler Joseph Wirth ausrief: Der
Feind steht rechts!, konnte selbst diese Warnung die
sozialdemokratischen Minister und Führer nicht zu einem
energischen Vorgehen gegen die faschistische, nationalistische
und militärische Reaktion veranlassen. Der frühere
Sozialdemokrat und spätere bürgerliche Republikaner Konrad
Hänisch, ein Vertrauter Eberts, schrieb nach einer längeren
Unterhaltung mit ihm 1923, man müsse von der tiefen Tragik
sprechen, die "Ebert, den Erwählten der Revolution, nun auch zum
Präsidenten der immer stärker heraufziehenden Gegenrevolution
hatte werden lassen." (59)
Charakteristisch für die kaum glaubliche Unterschätzung
faschistischer Gefahren und Tendenzen ist z. B. die
Stellungnahme des sozialdemokratischen Parteivorsitzenden
Hermann Müller zum Ergebnis der Reichstagswahlen vom Dezember
1924: "Der Kampf um die Diktatur ist in Deutschland ausgekämpft.
Die künftige Entwicklung der deutschen Republik wird sich auf
dem Boden des demokratischen Parlamentarismus vollziehen. Die
Völkischen, die behaupteten, eine Patentlösung für die Gesundung
Deutschlands zu haben, haben eine Niederlage erlitten." (60)
Selbst als Jahre später die Nazipartei bei den 1929
durchgeführten Landtags- und Kommunalwahlen in einigen Ländern
starke Stimmengewinne verzeichnen konnte, sonnte sich der
"Vorwärts" im Oktober 1929 in der selbstherrlichen Gewissheit,
die SPD sei schon "mit ganz anderen Gegnern fertig geworden";
diese rechtsradikalen Bewegungen glichen Rinnsalen, die zu
normalen Zeiten träge dahin schleichen, aber sich bei schlechtem
Wetter zu reißenden Großbächen verwandeln, die allerhand Trümmer
und Unrat mit sich fortschwemmen: "Dauernden Schaden haben sie
niemals anzurichten vermocht." (61) In einem anderen Kommentar
hieß es: "Durch das Gespenst des Faschismus darf man sich nicht
einschüchtern lassen. Es sind in Deutschland Kräfte genug
vorhanden, die Demokratie durchzusetzen." (62) Es blieb bei
diesen Bekundungen der Selbstzufriedenheit. Sogar als die Gefahr
bereits tödlich war, weigerte man sich noch immer, diese Kräfte
ernsthaft zu mobilisieren und in den Kampf zu führen. Über diese
Haltung in den letzten Jahren der Weimarer Republik wird
gesondert zu sprechen sein.
Diese und
ähnliche Einschätzungen und Deutungen hingen vor allem damit
zusammen, dass die in der deutschen Sozialdemokratie
dominierenden Faschismusauffassungen den fundamentalen
Zusammenhang zwischen Faschismus und Monopolkapital, zwischen
Faschismus und Imperialismus negierten. Die deutsche
faschistische Bewegung in Gestalt der Nazipartei wurde nur von
der Seite ihrer in den städtischen und agrarischen
Mittelschichten wurzelnden Massenbasis gesehen, ihre soziale und
antikapitalistische Demagogie wurde für bare Münze genommen.
Dagegen wurden die damals ständig an Bedeutung gewinnenden
Beziehungen zu einflussreichen großkapitalistischen Kreisen,
ihre Finanzierung durch diese Kreise, die Tatsache, dass die
Nazipartei nach dem großen Wahlerfolg vom September 1930 als
chauvinistische und gegen die gesamte Arbeiterbewegung mobil
machende Rechtspartei für die inneren wie äußeren Ziele und
Interessen des monopolistischen Kapitals sprunghaft an
Attraktivität und Gewicht gewonnen hatte, geleugnet oder
bagatellisiert.
Ebenso
wurde der Umstand unterschätzt, dass die Nazipartei, infolge
ihres Wahlerfolgs, zum offiziellen und umworbenen Verbündeten
der bis dahin wichtigsten politischen Repräsentantin der
deutschen Schwerindustrie und des junkerlichen
Großgrundbesitzes, der Deutschnationalen Volkspartei, geworden
war. Dieses Bündnis war im Oktober 1931 in Bad Harzburg durch
Bildung der "Harzburger Front" formalisiert worden. Um dieselbe
Zeit hatte Reichspräsident von Hindenburg den Nazichef Hitler
erstmals in offizieller Audienz empfangen. Gleichfalls Ende
1931/Anfang 1932 war das wachsende Interesse und die zunehmende
Sympathie führender monopolkapitalistischer Kreise für die
Nazis vor aller Öffentlichkeit demonstriert worden.
Am 9.
Dezember 1931 war Hitler mit den Ruhrindustriellen Thyssen,
Vögler und Stinnes zusammengetroffen. Thyssen war der Nazipartei
beigetreten, Vögler war Mitglied des Keppler-Kreises (späterer
Freundeskreis Reichsführer SS Himmler), der wichtigsten
Verbindungsstelle zwischen der Naziführung und dem Großkapital
geworden. Am 27. Januar 1932 schließlich hatte Thyssen jene
Zusammenkunft mit Hitler im Düsseldorfer Industriellenclub
arrangiert, an der die einflussreichsten und mächtigsten Männer
des deutschen Industrie- und Bankkapitals teilnahmen. Dort hatte
Hitler sich dem Kapital als der einzige Retter vor dem
"asiatischen Bolschewismus" angepriesen und die "Ausrottung des
Marxismus bis zur letzten Wurzel" versprochen. Dafür war er von
den Konzernherren mit enthusiastischem Beifall gefeiert worden,
was sich bald in hohen finanziellen Zuwendungen niederschlug.
Auch diese
an Deutlichkeit nicht mehr zu überbietenden Zeichen der
Entwicklung veränderten das herrschende Faschismusbild in der
sozialdemokratischen Führung kaum. Der Leipziger Parteitag der
SPD 1931, auf dem das Thema des Faschismus zu einem besonderen
Tagesordnungspunkt gemacht worden war, brachte im Hinblick auf
die Kernfrage der faschistischen Gefahr keine wesentlichen
Erkenntnisfortschritte: dass nämlich die Nazipartei infolge
ihrer gewaltig gewachsenen Massenbasis für die reaktionären und
chauvinistischen Kräfte des Monopolkapitals nicht nur
salonfähig, sondern regierungsfähig geworden war, und dass
nunmehr die stärksten und einflussreichsten
monopolkapitalistischen Kreise für ihre gegen die
Arbeiterbewegung im Innern und auf imperialistische
Großmachtziele nach außen gerichteten Bestrebungen auf die
Naziführung und die Nazipartei setzten und die faschistische
Diktatur aktiv vorbereiteten.
Zwar sprach
Breitscheid auf dem Leipziger SPD-Parteitag davon, die Nazis
suchten vorsichtig "den Anschluss an die kapitalistische
Klasse", aber er leugnete ausdrücklich, dass eine nazistische
Verbrüderung mit den Kapitalisten "unmittelbar bevorstehe".
Einer der führenden sozialdemokratischen Publizisten des rechten
Flügels, Ernst Heilmann, schrieb noch im Herbst 1932, er könne
sich eine Zusammenarbeit von Nazis und Spätkapitalismus
überhaupt nicht vorstellen. (63) Wie Fritz Tarnow auf dem
Leipziger Parteitag, so sahen die meisten sozialdemokratischen
Führer im Nazifaschismus eine, wenn auch missgeleitete, Form der
sozialen Rebellion der bürgerlichen Zwischenschichten.
Ein sehr
wichtiges Merkmal der offiziellen sozialdemokratischen
Faschismusauffassung war auch die verhängnisvolle Unterschätzung
der Beziehungen zwischen Faschismus und Staatsapparat selbst
noch in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Dies war um so
seltsamer und unvollständiger, als das Verhältnis großer Teile
der staatlichen Exekutive und des Justizapparats zur Republik
seit ihren Anfängen als äußerst zwiespältig und illoyal bekannt
war. Dies galt sowohl für die Reichswehr wie für die hohe
Verwaltungsbürokratie, die Diplomatie, die Justiz und bedeutende
Teile der Polizei (mit teilweiser Ausnahme Preußens und
Sachsens). Als bei den Wahlen vom Herbst 1930 die Wähler der
bürgerlichen Rechts- und Mitteparteien in hellen Scharen zur
Nazipartei überliefen, bedeutete dies, dass die Faschisten jetzt
auch auf die Unterstützung eines wichtigen Teils des
Staatsapparates und der Beamtenschaft zählen konnten. Die
sozialdemokratische Führung war so sehr von illusionären,
legalistischen Vorstellungen geblendet, dass sie auch in dieser
letzten Phase der Weimarer Republik annahm, der Reichspräsident
Hindenburg und die auf die Verfassung vereidigten Beamten des
Staatsapparates und der Justiz würden im Ernstfalle die Republik
vor dem Ansturm des Faschismus schützen.
Es fanden
sich in der Sozialdemokratie auch Gruppen, die diese gefährliche
Unterschätzung der faschistischen Bedrohung nicht teilten, die
erkannten, dass die ständige Unterwerfung unter die
kapitalistischen Interessen in der Koalition mit den
bürgerlichen Parteien oder durch die spätere Tolerierung der
Brüningschen Notverordnungspolitik die Arbeiterklasse und die
Demokratie schwächen und der Faschisierung den Weg öffnen
musste. In den Jahren 1929/1930 bildete sich eine - allerdings
kleine - Linke heraus, die den Faschismus in seinen
Klassenwurzeln richtiger einschätzte und daher auch einsah, dass
die Arbeiterklasse ihn nur im energischen Kampf überwinden
konnte. Diese Richtung, die sich um die Zeitschrift
"Klassenkampf" gruppierte und später die SAP gründete, gehörten
u. a. Max Seydewitz, Kurt Rosenfeld, Engelbert Graf an. Max
Seydewitz wandte sich Anfang 1939 gegen die Koalitionspolitik
der SPD in der Hermann-Müller-Regierung und erklärte, dass diese
Politik "zum Schaden der Sozialdemokratie und der Arbeiterklasse
ausschlägt und die faschistischen Tendenzen in
außerordentlicher Weise stärkt". Er forderte den Austritt der
Sozialdemokratie aus der Koalition, weil nur das "der
Sozialdemokratie die reale Macht und Stärke gibt, einen
wirksamen Damm gegen die faschistische Gefahr aufzurichten und
die proletarischen Forderungen zu verwirklichen". (64)
Nach dem
Ausscheiden der SPD-Minister aus der Regierung versuchten die
Linken, die SPD für eine entschiedene Haltung gegen den
Faschismus zu gewinnen. So kritisierten sie auf dem Leipziger
Parteitag der SPD 1931 die offizielle Analyse des Faschismus und
erklärten in einer Resolution: "Der deutsche Nationalsozialismus
ist bestimmt durch den Monopolkapitalismus in einem Lande mit
feudalkapitalistischer Tradition, in dem der Faschismus
Kampfwaffe des herrschenden Monopolkapitalismus gegen die
Arbeiterklasse ist." Zugleich verlangten sie, dass die
Sozialdemokratische Partei ihre ganze Kraft einsetze "für die
Beseitigung der ökonomischen Ursachen des Faschismus." (65) In
ihrem Organ, dem "Klassenkampf", wandte sich der linke
österreichische Sozialdemokrat Max Adler gegen die Illusionen
über den vom Großkapital beherrschten
bürgerlich-parlamentarischen Staat und schrieb: "Der Reformismus
sieht nicht ein oder will es nicht zugeben, dass die politische
Demokratie bisher gerade darin bestand, die Diktatur der
besitzenden Klassen auf demokratischem Wege auszuüben, und dass
der Faschismus heute einen solchen Anhang gewinnt, weil die
antiproletarischen Klassen die Sicherheit verlieren, ihre
Diktatur auch 'demokratisch' zu behaupten." (66)
Aber die
Linken innerhalb der SPD waren keine einheitliche Gruppierung.
Sie konnten sich in ihrer Praxis auch nicht von zahlreichen
antikommunistischen Vorbehalten befreien. Ihre Rolle in der SPD
sahen sie als Retter der Einheit der Partei vor dem Abschwenken
sich radikalisierender und enttäuschter Anhänger und Wähler zu
den Kommunisten. Max Adler schrieb später in einem Aufsatz über
"Die historische Funktion der linken Opposition": "... und wenn
sich immer größere Massen in der deutschen Sozialdemokratie
infolge der herrschenden Parteipolitik abgestoßen fühlten, so
war es durchaus das Verdienst der linken Richtung, wenn nicht
alle schon längst die Partei verlassen hatten. Je stärker die
Linksrichtung innerhalb der Sozialdemokratie ist, um so mehr
erhält sie gerade die revolutionär Lebendigen und vor allem die
Jugend bei der Fahne der Partei." (67)
Fussnoten
46 R. Palme
Dutt, Fascism and Social Revolution, S. 172, A History of
Hungary ed. by Ervin Palményi, Budapest 1973, S. 467 f.
47 Ebenda,
S. 173.
48 Ebenda.
49 Ebenda,
S. 267.
50 Die
Ausführungen in diesem Abschnitt stützen sich weitgehend auf die
Habilitationsschrift von Helmut Arndt an der
Karl-Marx-Universität Leipzig - Oktober 1970: "Zum
Faschismusbild der deutschen Sozialdemokratie (1922-1939) - Eine
ideengeschichtliche Abhandlung." Auch viele nachfolgende Zitate
sind dieser Arbeit entnommen. Vgl. auch: Protokoll des Kieler
Parteitages der SPD 1927, S. 178, 238.
51 Karl
Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung, Bd. 2, S.
478, Berlin 1927; 3. Kongress der SAI, Berichte und
Verhandlungen 2. Bd. (Abt. V-IX), Zürich 1928, S. VII/22.
52 Wally
Zappler, Faschismus und Sozialismus in: Sozialistische
Monatshefte, 29. Jg., Bd. 60, 1923/Heft 9, S. 599.
53 Walter
Pahl, Der italienische Fascismus und der internationale
Sozialismus, in: Sozialistische Monatshefte, 34. Jg., 66. Bd.,
1928/Heft 6, S. 490 ff.
54 H.
Müller-Brandenburg, Die deutsch-völkische Bewegung, Die Neue
Zeit, 42. Jg., Heft 18, 1923, S. 438.
55 Die
Gesellschaft, VIII. Jg. 1931/Heft 5, S. 407.
56
Protokoll des Berliner Parteitages der SPD 1924, S. 49.
57 Vorwärts
vom 29.3.1929.
58
Protokoll des Leipziger Parteitages der SPD 1931, S. 19.
59 K.
Heanisch, Friedrich Ebert, zit. in: H. Arndt, a. a. O., S. 73.
60 Vorwärts
vom 8.12.1924.
61 Ebenda
vom 27.10.1929.
62 Die
Gesellschaft, VI. Jg., 1929/Heft 4, S. 313.
63
Protokoll des Leipziger Parteitages der SPD 1931, S. 97, 99.
64 Der
Klassenkampf, 4. Jg., 1930/Heft 1, S. 5; ebenda, Heft 3, S. 72.
65 Der
Klassenkampf, Sonderheft 1931, Das Ergebnis des Leipziger
Parteitages, S. 29.
66 Der
Kampf, Jg. 1932/Heft 2, S. 75.
67 Ebenda.
Editorische
Anmerkungen
Bei dem Text handelt es sich um einen Quellenauszug aus:
Die "Sozialfaschismus" - These.
Zu ihrem geschichtlichen Hintergrund.
von
Josef Schleifstein
Verlag Marxistische Blätter, Frankfurt am Main 1980.
(Seite 39-52)
Den Auszug
besorgte Reinhold Schramm.
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