1) Die
Rolle der Räte in der Revolution
Nach dem Matrosenaufstand in Kiel,
am 3. November 1918, hatten sich überall in den größeren
Städten, am 9. November auch in Berlin, vielfach sogar auf dem
Lande, nach dem Vorbild in Sowjetrußland Arbeiter- und
Soldatenräte gebildet.
Da nicht nur die Arbeiterklasse,
sondern auch breite Schichten der durch den Krieg schwer
heimgesuchten Kleinbürger, stellenweise auch
Bauern, vor allem aber Soldaten zur Bildung von Räten
schritten, brachte damit die überwältigende Mehrheit des
deutschen Volkes zum Ausdruck, daß sie die alten Macht- und
Rechtsverhältnisse des zusammenbrechenden Staates nicht mehr
anerkannte, ihre Machtorgane nicht mehr respektierte. Da der
Bildung von Räten und auch ihren ersten Maßnahmen nirgends ein
beachtlicher Widerstand entgegengesetzt wurde, erwies sich, daß
tatsächlich in den Novembertagen die Macht in den Händen der
Räte lag. Die entscheidende Frage war jetzt, ob es gelingen
würde, die Räte zu wirklich arbeitsfähigen, revolutionären
Machtorganen des Volkes auszubauen, die imstande waren, die von
der Geschichte gestellten Aufgaben durchzuführen.Die
Entscheidung darüber hing davon ab, welche Menschen in diese
Räte gewählt wurden und wie sie von den Führern der
Arbeiterparteien und der Gewerkschaf ten beraten, geleitet und
gelenkt wurden. Da die Mehrheitssozialisten den Massen überall
ihre routinierten und rednerisch geschulten Funktionäre als
Kandidaten für die Räte empfahlen, wurden in der Mehrzahl
reformistische, opportunistische und revisionistisch
eingestellte Vertreter in die Räte gewählt, also Leute, die sich
nicht für den Ausbau, sondern, wie sich bald herausstellte, für
die baldige Beseitigung der Räte einsetzten. In zahllosen Fällen
gelangten Leute ohne jedes Verständnis und Interesse für
politische Fragen lediglich deshalb in die Räte, weil sie am
lautesten über die Schieber und Kriegsgewinnler oder über
mißliebige Vorgesetzte gewettert hatten. Das galt in noch
höherem Maße für die Soldatenräte, vor allem für die Berlins.
Die Millionen Soldaten waren nur zu einem geringen Bruchteil
ziel-und klassenbewußte Proletarier; die Masse stand noch
vollständig im Banne der bürgerlichen Ideologie und zu einem
erheblichen Teile unter dem Einfluß des alten, jedem
proletarischen Empfinden abgeneigten Offizierkorps.(Vgl.
Richard Müller, „Vom Kaiserreich zur Republik", Bd. II, S. 41
ff.)
So waren in den aus der Revolution geborenen Organen nicht
die Vorkämpfer der Revolution, sondern die Feinde der
Revolution, die Freunde der Reform in der Überzahl. Trotz dieser
buntgewürfelten Zusammensetzung der Räte
wäre es, wenn eine Partei vorhanden gewesen wäre, die
durch Stärkung der revolutionären proletarischen Elemente über
die Kraft verfügt hätte, möglich gewesen, ihre Macht zu festigen
und richtig zu gebrauchen.
Vom 16. bis 21. Dezember 1918 fand in Berlin der
Reichsrätekongreß statt. Die Führung der Sozialdemokratischen
Partei bemühte sich nach Kräften darum, die Mehrheit auf dem
Kongreß zu erhalten und die Wahl der Führer des Spartakusbundes
Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg als Delegierte zum
Rätekongreß zu Fall zu bringen. Sie nützte dafür den
Staatsapparat und die Gewerkschaften sowie ihren Einfluß auf die
Massen aus. Dabei kam den sozialdemokratischen Führern die
Schwäche des Spartakusbundes gut zustatten. Auf dem Rätekongreß
waren als Delegierte vertreten:
288 Sozialdemokraten,
87 Unabhängige Sozialdemokraten,
47 Demokraten,
27 Soldaten, die keiner Fraktion angehörten,
11 Angehörige der Gruppe der Vereinigten Arbeiter- und
Soldaten und
25 Parteilose.
Als bekanntere Vertreter des Spartakusbundes gehörten Fritz
Heckert und Eugen Levin dem Rätekongreß an. Der Vorschlag, Rosa
Luxemburg und Karl Liebknecht mit beratender Stimme zum Kongreß
einzuladen, wurde abgelehnt.
Während der ersten Sitzung des Kongresses organisierte der
Spartakusbund eine große Demonstration, an der sich mehr als 250
000 Personen beteiligten. Eine Delegation der Demonstranten
verkündete von der Tribüne des Kongresses folgende Forderungen:
1. Erklärung Deutschlands zur einheitlichen sozialistischen
Republik;
2. alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten;
3. unverzügliche Entwaffnung der Konterrevolution und
Bewaffnung der Arbeiterklasse.
Entgegen diesen Forderungen des Spartakusbundes entschloß
sich der Kongreß zur Liquidierung der Räte. Es wurde der
Beschluß gefaßt, die vollziehende und
gesetzgebende Macht der Regierung der
Volksbeauftragten zu übergeben. Der Beschluß über die
beschleunigte Einberufung der Nationalversammlung wurde mit
großer Mehrheit angenommen. Der Kongreß wählte einen Zentralrat,
dem nur rechte Sozialdemokraten angehörten. Praktisch kam die
Beschlußfassung des Rätekongresses einem Todesstoß für das
Rätesystem gleich und bedeutete die Wegbereitung für den
bürgerlichen Parlamentarismus und damit für die
Konterrevolution.
Der Spartakusbund hatte bereits am 1. Oktober 1918 in
durchaus richtiger Einschätzung der Lage folgende Forderungen
erhoben: Säuberung des gesamten Beamtenapparates, Enteignung des
gesamten Bankkapitals, der Bergwerke und Hütten und des
Großgrundbesitzes, Abschaffung der Einzelstaaten und Dynastien.
Als unter dem Druck des Generalstreiks in Berlin die Republik
ausgerufen wurde, forderte der Spartakusbund in seinem Programm
vom 10. November 1918 unter anderem: Bewaffnung des Volkes,
Übernahme sämtlicher militärischer und ziviler Behörden und
Kommandostellen durch Vertrauensmänner des Arbeiter- und
Soldatenrates, Übernahme der Regierung durch den Berliner
Arbeiter- und Soldatenrat bis zur Errichtung eines
Reichsarbeiter- und Soldatenrates.
Für die Verwirklichung dieser Forderungen kam es aber darauf
an, nicht nur ausreichende agitatorische, sondern in erster
Linie organisatorische Kraft aufzubringen. Der Spartakusbund
hatte bisher durch die leidenschaftlich betriebene Agitation und
Propaganda nur begeisterte Hörer und Leser, Demonstranten und
Streikende in den Massen mobilisiert. Er kannte die meisten
seiner Anhänger aber nicht im einzelnen, wußte nichts über ihre
besonderen Vorzüge und Fähigkeiten, Fehler und Schwächen. Die
hätten nur erkannt und entwickelt werden können in langer,
beharrlicher, hingebender Organisationsarbeit. Gerade die jedoch
hatte der Spartakusbund unterschätzt und vernachlässigt. Die
großen Aufgaben aber riefen Jetzt nach Menschen, die in den
Räten auf den verschiedensten Gebieten an ihrer Durchführung
arbeiten sollten. Von der organisatorischen Verbindung mit
diesen Menschen, ihrer planmäßigen Leitung und Lenkung, ihrer
Zusammenfassung und Einspannung auf die
jeweils notwendigen Teila ufgaben,
von der Festigung und Vertiefung ihrer revolutionären Gesinnung
und Erkenntnis, von der Stärkung ihrer revolutionären
Kampfbereitschaft hing es jetzt ab, ob der Spartakusbund die
erfolgreiche Führung der Revolution werde übernehmen können. Für
den Spartakusbund war es schwer, ja unmöglich, jetzt in der
stürmisch erregten Zeit das nachzuholen, was er in Jahren
versäumt hatte. Auf Grund seiner zahlenmäßigen Schwäche, der
fehlenden organisatorischen Verbindung mit den Massen und der
Verständnislosigkeit gegenüber den Bauern war er deshalb nicht
in der Lage, entscheidenden Einfluß auf die Zusammensetzung und
die Arbeit der Arbeiter- und Soldatenräte
zu gewinnen.
Die Mehrheitssozialisten legten alles darauf an, die Räte an
der Ausübung ihrer Tätigkeit zu hindern, ihre Befugnisse
einzuschränken, sie zu bloßen Kontrollorganen zu degradieren und
ihre Bedeutung sowie ihr Ansehen in den Augen des Volkes
herabzusetzen und sie so schnell wie möglich zu beseitigen.
Soweit sie sich der Räte bedienten, geschah es nur zu dem Zweck,
den Einfluß der Spartakusanhänger auszuschalten und den der USPD
einzudämmen.
Die Unabhängigen zeigten eine unterschiedliche Haltung
gegenüber den Räten. Nicht wenige setzten sich mit den
Spartakusanhängern dafür ein, daß die Machtbefugnisse der Räte
erweitert und ihnen die Durchführung der entscheidenden
revolutionären Aufgaben übertragen werden sollten. Andererseits
hielten viele, darunter die einflußreichsten, zu Kautsky, der
schon in der kurz vor der Revolution erschienenen Schrift „Die
Diktatur des Proletariats" das russische Rätesystem abgelehnt
hatte und die Räte jetzt nur als Übergangserscheinungen gelten
lassen wollte, die möglichst schnell nach Einberufung einer
Nationalversammlung beseitigt werden sollten.
So ergab sich folgender Widerspruch: Der Spartakusbund, der
am klarsten die Aufgaben erkannte, erwies sich als unfähig, sie
durchzuführen, da ihm dazu alle organisatorischen
Voraussetzungen, die ideologische Klarheit und die breite
Resonanz in den Massen fehlten. Die Führer der SPD und
Gewerkschaften und auch manche Führer der USPD dagegen, denen
die machtvollen Organisationsapparate zur Verfügung standen, die
von den Massen geradezu zur Erfüllung der
revolutionären Aulgaben gedrängt wurden, hatten keinen Blick
für die Notwendigkeiten oder beurteilten sie falsch und scheuten
die Revolution, ja, sie hatten die Millionen der
gewerkschaftlich organisierten Arbeiter bereits im November 1918
durch die Bildung einer Arbeitsgemeinschaft mit dem
Unternehmertum für das „friedliche Wirtschaftsabkommen" gebunden
und gefesselt.
Es war unausbleiblich, daß die Räte, die unter dem
Einfluß solcher Gewerkschaften und Parteien gebildet, von
solchen Parteiführern beraten wurden, dazu von politisch meist
sehr unklaren und unreifen Elementen durchsetzt waren, ihre
revolutionären Aufgaben nicht begriffen, daß sie sich nicht
aufraffen konnten, die alten kaiserlichen Beamten aus der
Verwaltung zu vertreiben, die Schulen, die Justiz von den
reaktionären Elementen zu säubern, die Junker und Offiziere
ihrer Macht zu entkleiden und die Kriegsverbrecher zu bestrafen.
Sie verloren sich in kleinliche, lächerliche Plackereien und
Streitigkeiten und trugen oft mehr zur Hemmung und
Diskreditierung der Revolution als zu deren Weiterführung bei.
Die Lektüre der Verhandlungsprotokolle vermittelt uns ein
erstaunliches Maß von Unentschlossenheit und Unkenntnis der
entscheidenden Probleme der Revolution. In der Frage der
Sozialisierung vertrat Max Cohen, einer der führenden
Wirtschaftsexperten der SPD, in Gemeinschaft mit Rudolf
Hilferding, der damals der USPD angehörte, den Standpunkt:
„Wenn die Produktion stockt, wie bei uns, wenn weder
Rohstoffe noch Betriebe vorhanden sind, ja, was soll man denn
da eigentlich sozialisieren? Da ist das plötzliche
Sozialisieren der helle Wahnsinn, da gibt es gar nichts zu
sozialisieren!... Wenn wir ... volle Läger, wenn wir
Lebensmittel hätten, gäbe es... niemand, der nicht bereit
wäre, einige Experimente zu machen."
(Allgemeiner
Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands rom 16.
bis 21. Dezember 1918 im Abgeordnetenhause zu Berlin.
Stenographische Berichte, S. 109.)
Als schließlich die Frage der Friedensregelung und der
Sozialisierung auf der Tagesordnung standen, beantragte die SPD,
beide Punkte von der Tagesordnung abzusetzen, und Karl
Severing erklärte dazu:
„Ich habe deshalb an
den Genosten Geyer, den Vorsitzenden
der Fraktion der USP, die Anfrage gerichtet, ob seine Fraktion
damit einverstanden sei, die beiden genannten Punkte von der
Tagesordnung abzusetzen. Genösse Geyer erklärte nicht nur
seine Zustimmung, sondern fügte noch hinzu, daß nach seiner
Kenntnis der Dinge auch der Berichterstatter zur
Sozialisierung", das war Hiiferding, „nicht gram darüber sein
würde, wenn er auf sein Referat verzichten müßte."
(Ebenda, S. 173.)
Damit erlitt die Sozialisierung
in der Räteversammlung ein Begräbnis erster Klasse, und man kann
wohl sagen, daß Ernst Däumig
von der USPD recht hatte,
als er das Räteparlament mit den Worten kennzeichnete:
„Kein Revolutionsparlament der Geschichte hat einen so
nüchternen, hausbackenen, ja, ich sage philiströsen Geist
aufzuweisen, wie dieses erste Revolutionsparlament, das hier
zusammengetreten ist... Auf den Staatsgebäuden flattern noch
die Farben des alten Systems. . . und darüber ein armseliges
rotes Wimpelchen."
(Ebenda, S. 113/114.)
Aber selbst das rote Wimpelchen verschwand bald und" aus der
Räteversammlung wurde eine armselige Redeversammlung.
Gewiß hat es nicht an Beispielen gefehlt, wo zielklare,
klassenbewußte Arbeiter die Räte zu entschlossenem
revolutionärem Handeln fortrissen. So wurden zum Beispiel in
Bremen alle militaristischen Lehrer aus den Schulen, alle
reaktionären Elemente aus der Polizei entfernt und eine „Rote
Garde" gebildet. Auch in Braunschweig wurden eine „Rote Garde"
gebildet, die herzoglichen Güter als Eigentum des Volkes erklärt
und die Gerichte von Reaktionären gesäubert.
Das 1. Räteparlament der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte
am 10. November im Zirkus Busch war noch von revolutionärem
Geist erfüllt, obgleich die Mehrheitssozialisten alles darauf
angelegt hatten, mit Hilfe der unpolitischen oder politisch sehr
unklaren Soldatenvertreter den Einfluß der revolutionären
Obleute, der Organisatoren der großen Streiks im Kriege,
zurückzudrängen. Einstimmig wurde eine Proklamation angenommen,
in der die Arbeiter- und Soldatenräte als Träger der politischen
Macht erklärt, die Notwendigkeit und Möglichkeit einer raschen
und konsequenten Vergesellschaftung der Produktionsmittel
festgestellt und die Bewunderung für die sowjetrussischen
Revolutionäre, die auf dem Wege der Revolution vorangeschritten
sind, zum Ausdruck gebracht wurden.
Auf dieser Versammlung der Berliner Arbeiter- und
Soldatenräte wurde aber auch bereits deutlich, daß die führenden
Sozialdemokraten die Absicht hatten, sich bei ihrer Politik
nicht auf die Räte, sondern auf andere, nichtproletarische
Kräfte zu stützen, daß sie sich ihren Einfluß auf die Räte nur
deshalb sichern wollten, um sie daran zu hindern, eine
revolutionäre Tätigkeit zu entfalten.
Deshalb setzten sie mit Hilfe der zu wüsten Lärmkundgebungen
aufgeputschten Soldatenvertreter durch, daß die revolutionären
Obleute, die ehemaligen Organisatoren der großen revolutionären
Streiks, nach anfänglicher Weigerung sich damit abfanden, daß in
den Aktionsausschuß der Räte, den sogenannten Vollzugsrat, auch
Mehrheitssozialisten gewählt wurden, also Männer, die noch bis
kurz vor Ausbruch der Revolution jede Streikbewegung heftig
bekämpft hatten. Dieser widerspruchsvollen Zusammensetzung des
Vollzugsrates entsprach denn auch seine widerspruchsvolle,
unklare und schwankende Haltung gegenüber der Kernfrage der
Revolution, nämlich der Frage, ob die Arbeiterklasse die ihr
zugefallene Macht festhalten und mit ihrer Hilfe die Revolution
weiterführen, oder ob sie diese Macht in die Hände einer
vorschnell einberufenen Nationalversammlung legen sollte, die,
aus allen Schichten des Volkes gewählt, darüber zu entscheiden
hätte, ob und wie weit der Weg der Revolution oder der der
bürgerlichen Reformen beschritten werden sollte. In einer
Entschließung vom 16. November 1918 sprach sich der Vollzugsrat
gegen eine konstituierende Nationalversammlung aus, forderte
aber gleichzeitig, daß der yon dem einzuberufenden Kongreß der
Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands
auszuarbeitende Verfassungsentwurf einer konstituierenden
Nationalversammlung zur Beschlußfassung vorgelegt werden sollte.
Die Übertragung der wichtigsten Entscheidungen auf die
beschleunigt einzuberufende Nationalversammlung bedeutete
zugleich, daß bis dahin alle entscheidenden Maßnahmen
zurückzustellen wären, und daß die Räte sich auf kontrollierende
Tätigkeit beschränken sollten.
2. Die Möglichkeiten einer Wetterführung der Revolution
mit Hilfe der Räte
Im ganzen gesehen zeigte jedoch auch dieses erste größere und
bedeutsame Räteparlament in Berlin, daß in den Massen starke
revolutionäre Energien vorhanden waren, daß die Rätedelegierten
von revolutionärer Begeisterung erfüllt waren und diese trotz
planmäßiger Irreführung und Verleitung zu schweren taktischen
Fehlern und zur Preisgabe ihrer Machtbefugnisse bekundeten. Die
Möglichkeit einer Erstarkung und Aktivierung der Räte war auch
dadurch gegeben, daß die bisher herrschenden Klassen in den
ersten Novembertagen zu keinem ernsthaften Widerstande
entschlossen und fähig waren. Die bürgerlichen Parteien suditen
unter Änderung ihrer Namen und unter geschickter Anpassung ihrer
programmatischen Forderungen an die veränderten
Machtverhältnisse sich als Volksparteien auszugeben und die
Uneinigkeit der Arbeiterparteien für ihre revolutionsfeindlichen
Ziele auszunützen. Sie wußten, daß sie selber in der gegebenen
Situation nicht stark genug waren, daß ihre Autorität und
Resonanz im Volke nicht ausreichten, um die Revolution
aufzuhalten, sie erhofften darum alles von dem Zwiespalt in der
Arbeiterklasse, insbesondere von den ihnen wohlbekannten
opportunistischen und reformistischen Tendenzen in den
ausschlaggebenden Schichten der SPD und der Gewerkschaften. Sie
begriffen, daß nur diese selber der Revolution den Todesstoß
vcr-«etzen könnten. Darum nahmen sie den Räten gegenüber eine
zwar kritische, ablehnende Haltung ein, fügten sich aber ihren
Anordnungen und beschränkten sich auf theoretische und
polemische Angriffe.
Auch von den Mächten der Entente drohte zunächst keine ernste
Gefahr für die Entwicklung der Räte. Die Besorgnis, daß die
revolutionäre Bewegung die eigenen Völker erfassen könnte, hielt
sie zurück, ihre Armeen tiefer in das deutsche Land
hineinzusenden und sich in die innerpolitischen Angelegenheiten
einzumischen. Der Streit um die koloniale Beute, um die
Vorherrschaft in den neuen Erdölgebieten, die Berücksichtigung
der Machtverschiebungen innerhalb des Imperialismus, die
Erstarkung der Dominien, der USA und Japans drängten das
Interesse an der innerpolitischen Entwicklung Deutschlands
vorläufig in den Hintergrund. Die
Weigerung des englischen Admirals Beatty am 19. November 1918,
mit Vertretern der Arbeiter- und Soldatenräte zu verhandeln,
stellte einen Ausnahmefall dar, bei dem es sich um eine rein
persönliche Entscheidung handelte, die sich nicht auf
innenpolitische Fragen bezog, sondern die Auslieferung von
deutschen Kriegsschiffen betraf.
Die faktische Anerkennung der provisorischen Regierung der
sogenannten Volksbeauftragten, die am 10. November gebildet und
von der Räteversammlung im Zirkus Busch bestätigt worden war,
durch die Siegermächte, das Unterlassen jeden Einspruchs gegen
deren Tätigkeit und Beauftragte, bedeutete zugleich auch die
Anerkennung der Räte, mindestens aber ihre vorläufige Duldung.
Andererseits unterliegt es keinem Zweifel, daß die von diesen
Volksbeauftragten am 12. November 1918 mit Gesetzeskraft
verkündeten sozialen und demokratischen Verbesserungen nur
deshalb möglich waren, weil überall in den Betrieben und
Kasernen und in der Verwaltung die errichteten Räte die
Durchführung überwachten und gegen Verstöße vorgingen.
Was die deutsche Revolution 1918 überhaupt dem Volke an
sozialen und demokratischen Errungenschaften bescherte, ist
ausnahmslos im November 1918 durch die ersten Maßnahmen der
provisorischen Regierung, des Rates der Volksbeauftragten, in
jenen Tagen entstanden, in denen die Räte als die einzigen
Träger der Macht und als Organe des Willens der Werktätigen noch
aktions- und ausbaufähig waren und die reaktionären Mächte, die
Ordnungstruppen und ihre Offiziere, der Regierung noch keinen
Rückhalt boten und auch noch nicht die geringsten
Wirkungsmöglichkeiten besaßen, wenngleich die Führer der
Mehrheitssozialisten um ihre Hilfe bereits nachgesucht hatten.
Diese Errungenschaften waren immerhin von Bedeutung und
bestanden unter anderem in der Beseitigung der Monarchie, in der
Aufhebung der Gcsindeordnung, der Ausnahmegesetze gegen die
Landarbeiter, der Beschränkung der Vereins- und
Versammlungsfreiheit, der Zensur, in der Einführung des
Achtstundentages ab 1. Januar 1919, in der Unterstützung der
Erwerbslosen, in der Einführung des Frauenstimmrechtes
und des Verhältniswahlsystems sowie in der Einführung von
Betriebsvertretungen.
In diesen Maßnahmen drückte sich das Bestreben aus, die
bürgerlichen Freiheiten und sozialen Forderungen, die schon 1848
hätten erkämpft werden müssen, jetzt zu verwirklichen. In
Erfüllung dieses Strebens hätte durch Enteignung des
Großgrundbesitzes, Demokratisierung der Verwaltung, der Schule,
der Armee die damals unvollendete bürgerlich-demokratische
Revolution zu Ende geführt werden müssen. Dies war zwar durchaus
möglich, die Räte waren dazu aber nicht mehr fähig.
Die ersten Wahlen nach dem 9. November in
Mecklenburg-Strelitz, in Anhalt und in Braunschweig brachten
überwältigende Siege der sozialistischen Parteien.
Diese Erfolge hatten die sozialistischen Parteien nur
erringen können, weil sie in den Massen die Überzeugung geweckt
hatten, daß sie die Revolution weiterführen würden. Nur dadurch
waren damals die Massen zu gewinnen. Deshalb gaben sich auch die
Gegner der Revolution durch hochtrabende Phrasen einen
revolutionären Anstrich. Selbst die Zentrumspartei ließ
verlauten, daß sie mit der Durchführung einer Bodenreform
einverstanden sei.
Es bedurfte nur einer revolutionären proletarischen
Kampfpartei, die nach dem Vorbild der Bolschewiki das Banner der
Revolution ergriffen und die durchaus kampfentschlossenen Massen
mitgerissen hätte.
Im Gegensatz zu den meisten der damals führenden
sozialdemokratischen Funktionäre, die die Möglichkeit eines
Sieges der Revolution bestritten, hat Noske diese
Möglichkeit zugegeben.
Er schreibt in seinen jetzt nach seinem Tode veröffentlichten
Erinnerungen:
„Von Kiel aus wäre, wenn ich die rote Sturmfahne ergriffen
und vorangetragen hätte, eine Flut über Deutschland
hinweggebraust, deren Ausmaß man sich heute kaum ausdenken
kann."
(Gustav
Noske, „Erlebtes aus Aufstieg und Niedergang einer
Demokratie", Offenbach/Main 1947, S.
71.)
Läßt man diese maßlose Selbstüberschätzung Noskes außer
Betracht, so bringt diese Äußerung doch die Möglichkeiten klar
zum Ausdruck, die damals in Deutschland für eine
revolutionär-sozialistische Partei gegeben waren.
Noske brüstet sich in seinen Erinnerungen jedoch:
„Statt dessen schuf ich das Instrument, mit dem der
Bolschewismus niedergeschlagen
wurde."
(
Ebenda, S. 72.)
3. Die Niederringung der Räte
Noske konnte diese konterrevolutionäre Rolle nur übernehmen,
weil die führenden Mehrheitssozialisten von vornherein
entschlossen waren, mit allen Mitteln zu verhindern, daß die
Revolution über den" Sturz der Monarchie hinaus weitergeführt
wurde. Nicht der Weg der Revolution, sondern der der Reformen
sollte besdiritten werden. Die Zusammenarbeit auch mit den
reaktionären Kräften wäre notwendig. Die Staatsmacht könnte
diese als Stützen nicht entbehren. Die Räte dagegen böten keine
tragfähigen Grundlagen, sie wären zu beseitigen. So kam es, wie
aus dem Zeugnis des Generals Groener im Dolchstoßprozeß
hervorgeht, zu einem förmlichen Bündnis zwischen dem alten
Generalstab und den führenden Mehrheitssozialisten.
Groener erklärte:
„Wir haben uns verbündet zum Kampf gegen den Bolschewismus
. . . Ich habe ihm (Hindenburg) vorgeschlagen, die Oberste
Heeresleitung möge sich mit der Mehrheitssozialdemokratie
verbünden, da es zur Zeit keine Partei gebe, die Einfluß genug
hätte, im Volke, besonders bei den Massen, um eine
Regierungsgewalt mit der O.H.L. wieder herzustellen... Das
erste war, daß wir uns jeweils abends zwischen 11 und
1 Uhr telefonisch vom Hauptquartier mit
der Reichskanzlei (mit Ebert, Scheidemann) auf einem Geheimdraht
verständigten. Zunächst handelte es sich darum, in Berlin den
Arbeiter- und Soldatenräten die Gewalt zu entreißen. Zu diesem
Zwecke wurde ein Unternehmen geplant, zehn Divisionen sollten
in Berlin einmarschieren... Die Unabhängigen forderten, daß
die Truppen ohne Munition einrücken. Ebert hat zugestimmt, daß
sie mit scharfer Munition einrücken. Wir haben ein
Programm ausgearbeitet, das nach dem Einmarsch eine Säuberung
Berlins von den Spartakisten vorsah. Das war auch mit Ebert
besprochen, dem ich ganz besonders dankbar bin wegen seiner
absoluten Vaterlandsliebe .. . Ich habe ihn auch überall
verteidigt, wo er angegriffen wurde."
(Groener
im Dolchstoßprozeß, Oktober 1925, inFröhlich-Schreiner, „Die
deutsche Sozialdemokratie", S. 49.)
Dieses Zeugnis ist zugleich eine Bestätigung der
unbestreitbaren Tatsache, daß nicht die geringste Veranlassung
vorlag, die Truppen deshalb nach Berlin zu rufen, um, wie man
später erklärte, den allgemeinen Unruhen und blutigen
Straßenkämpfen ein Ende zu bereiten. In Wirklichkeit war die
Revolution überraschend schnell und fast ohne Blutvergießen
verlaufen. Die Zeit der Ausschreitungen, Terrorakte und
bewaffneten Demonstrationen brach vielmehr erst an, als die
Truppen eingerückt waren. Weil der Opportunismus die
Mehrheitssozialdemokratie beherrschte, weil sie seit dem
Erfurter Programm von 1891, also 30 Jahre, eine falsche Politik
getrieben hatte, erfüllte sich in tragischer und erschütternder
Weise das seherische Wort von Marx und Engels, daß
diese 1879 in ihrem Zirkularbrief über Eduard Bernstein
schrieben:
„Wenn Berlin wieder einmal so ungebildet sein sollte, einen
18. März zu machen, so müssen die Sozialdemokraten, statt als
,barrikadensüchtige Lumpe' am Kampf teilzunehmen, vielmehr den
,Weg der Gesetzlichkeit beschreiten', abwiegeln, die
Barrikaden wegräumen und nötigenfalls mit dem herrlichen
Kriegsheer gegen die einseitigen, rohen, ungebildeten Massen
marschieren."
(Karl
Marx und Friedrich Engels, „Ausgewählte Schriften" in zwei
Bänden, Bei. II, S. 452.)
Wahrscheinlich haben Marx und Engels es selbst nicht für
möglich gehalten, daß Sozialisten wenige Jahrzehnte später alles
tun würden, um diese Voraussage zur geschichtlichen Tatsache
werden zu lassen. Gestützt auf das Bündnis mit der Generalität
und mit reaktionär eingestellten Truppen eröffneten die Führer
der Mehrheitssozialisten vorn ersten Tage an den schärfsten
Kampf gegen die Räte und damit gegen die Revolution. Sie
begründeten die Notwendigkeit dieses Kampfes mit der unwahren
Behauptung aller Konterrevolutionäre,
die „Ruhe und Ordnung" sei gefährdet und müsse wiederhergestellt
werden. Die Losung sei darum: schnelle Beendigung der
Revolution, schnellste Einberufung der Konstituante. In einer
Flut von Reden, Presseartikeln und Flugblättern hämmerte man dem
Volke ein:
„Wer die Konstituante verhindert oder hinauszögert, bringe
das Volk um Frieden, Freiheit und Brot, verhindere die
Sozialisierung, entfessele den Bürgerkrieg, gefährde die
Einheit und provoziere den Einmarsch der Entente-Truppen."
(Richard
Müller, „Vom Kaiserreich zur Republik", Bd. II, S. 87 f.)
Mit Anwendung aller demagogischen Mittel, mit Lügen und
Verdächtigungen wurden die Räte in der sozialdemokratischen und
bürgerlichen Presse sowie in massenhaft verbreiteten, aus
öffentlichen Mitteln bezahlten Flugblättern in den Augen des
Volkes herabgesetzt. So scheute sich der „Vorwärts" nicht, die
von der Not geplagten Massen am 2. Dezember 1918 mit folgender
Schwindelmeldung irrezuführen und aufzupeitschen:
„Wie die P.P.N. von vertrauenswürdiger Seite hören, haben
die Arbeiter- und Soldatenräte in den ersten 14 Tagen ihres
Bestandes einen Finanzbedarf von 800 Millionen gehabt."
(Ebenda,
S. 123.)
Die beabsichtigte Wirkung war, daß in der bürgerlichen Presse
eine wüste Hetze gegen die Soldatenräte, die angeblich
schlemmten und praßten und sich persönlich bereicherten,
entfacht wurde. Das Skandalöse lag darin, daß der „Vorwärts"
verschwieg, daß der erwähnte „Finanzbedarf" gar nicht die
persönlichen Ausgaben der Räte, sondern die Kosten der
Demobilisation, Marschgelder für zu entlassende Truppen,
Lohnerhöhung für Truppen, vor allem auch die Ausgaben für den
„Grenzschutz" betrafen. Dieser wurde damals gerade von den
Volksbeauftragten zugelassen und unterstützt, um das Übergreifen
der revolutionären Bewegung aus Sowjetrußland auf Deutschland
abzuwehren.
Doch beschränkte man sich nicht auf solche und ähnliche
Falschmeldungen. Zielbewußt wurden die Wirkungsmöglichkeiten der
Räte eingeengt. Bereits am 12. November wurde die Oberste
Heeresleitung durch die Volksbeauftragten, einschließlich der
Unabhängigen, auf gefordert, anzuordnen,
daß das Vorgesetztenverhältnis des Offiziers bestehen bliebe.
Ausdrücklich verlangte man in diesem Erlaß von den Soldaten
„willige Unterordnung" und „unbedingten Gehorsam" gegenüber den
Offizieren, also gegenüber den gefährlichsten Vertretern der
Reaktion. Nicht einmal eine Säuberung oder Überprüfung des
reaktionärsten Offizierkorps der Welt wurde in Erwägung gezogen.
Am 13. November beschloß der Vollzugsrat, die Bildung einer
revolutionären Kampforganisation, einer sogenannten „Roten
Garde", vorläufig zurückzustellen.
Am 19. November wurden die Räte zu bloßen Kontrollorganen
erklärt, am 23. November verfügte der aus SPD und USPD
zusammengesetzte Vollzugsrat:
„Diese Arbeiter- und Soldatenräte ... haben sich aber im
allgemeinen jeden direkten Eingriffes in die Verwaltung zu
enthalten."
(Ebenda, S. 255.)
In zunehmendem Maße wurden schließlich Truppen nach Berlin
gezogen und die revolutionäre Arbeiterschaft durch die
Provokationen derselben aufs höchste gereizt, bis es dann am 6.
Dezember zu der Verhaftung des Vollzugsrates durch die Truppen
und zur Sprengung eines unbewaffneten Demonstrationszuges des
Spartakusbundes durch Maschinengewehrfeuer kam. Damit wurde von
den Gegnern der Revolution der Anstoß zu den nun folgenden,
immer wieder aufs neue provozierten blutigen Kämpfen um die
Revolution — nicht nur in Berlin — gegeben. Konterrevolutionäre
Anschläge und Putsche fanden am gleichen Tage und anschließend
nach offenbar einheitlichem Plan in verschiedenen Städten statt.
Von entscheidender Bedeutung für die Zukunft der Räte wurde
es, daß auf der 1. Vollversammlung der Arbeiter- und
Soldatenräte Deutschlands vom 16. bis 21. Dezember 1918 in
Berlin die reformistisch und opportunistisch eingestellte
Mehrheit der Räte auf Antrag Lüdemanns, nach dem zweiten
Weltkrieg Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, die
Einberufung einer verfassunggebenden Nationalversammlung zum 19.
Januar 1919 beschloß.
Die Räte hatten damit faktisch ihr eigenes Todesurteil
ausgesprochen, hatten den Weg zur revolutionären Lösung der von
der Geschichte gestellten Aufgaben endgültig verbaut. Die
demokratische Neuordnung der Machtverhältnisse in der
Landwirtschaft und in der Industrie im Interesse der Bauern und
der übrigen Werktätigen, die Säuberung der Armee, der Polizei,
Verwaltung, Justiz und Schule von allen reaktionären Gewalten
hätten nur von den entschlossenen revolutionären Elementen
innerhalb der Werktätigen unter Führung der marxistisch
geschulten Arbeiterpartei durchgeführt werden können. Die Lösung
dieser Aufgaben von der Nationalversammlung zu erwarten,
bedeutete die völlige Ignorierung der entscheidenden Tatsache,
daß die Wahlen zu dieser Versammlung jetzt unter dem
ungebrochenen Einfluß der reaktionären Mächte erfolgen mußten,
die nicht vernichtet, sondern durch die antirevolutionäre
Haltung der Sozialdemokratie neu gestärkt worden waren. Es
bedeutete, daß man die ideologische und politische Unklarheit,
die nicht beseitigte finanzielle und soziale Abhängigkeit
breiter Bevölkerungskreise von der Reaktion unterschätzte, daß
man sich dem Wahn hingab, eine etwa durch Stimmzettel besiegte
Reaktion, die sich im Besitz aller finanziellen und
militärischen Machtmittel befand, würde diese Niederlage
hinnehmen, ohne sich durch rücksichtslosen Einsatz aller Waffen
dagegen zu wehren.
Die Einberufung der Nationalversammlung vor der Entmachtung
der kaiserlichen Generale und Geheimräte, der Junker und
Monopolkapitalisten bedeutete Verzicht auf den Vollzug der
bürgerlich-demokratischen Revolution, bedeutete Zerstörung der
Grundlagen, auf denen eine Weiterführung zur sozialistischen
Revolution hätte erfolgen können. Die Revolution war damit zum
Stillstand gekommen, noch ehe sie sich voll entfaltet und
entscheidende Erfolge errungen hatte.
Die unmittelbaren Auswirkungen waren die Festigung des
praktischen Bündnisses zwischen der Sozialdemokratie und den
reaktionären Kräften und die Vertiefung und Verschärfung der
Spaltung der Arbeiterklasse. Die Verdrängung der Unabhängigen
aus der Regierung, die blutigen Kämpfe im Dezember und im
Januar, der Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zeigen,
daß man in der Wahl der Mittel
zur Niederdrückung der revolutionären Arbeiter immer
skrupelloser wird, daß man vor viehischem feigem Meuchelmord
nicht zurückschreckt, beweisen, daß nicht Ruhe und Ordnung,
sondern Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft das Ziel ist.
Und von den dann folgenden Märzkämpfen muß selbst Hermann
Müller, der spätere sozialdemokratische Reichskanzler,
gestehen:
„So hat der Berliner Märzputsch mehr Menschenblut gekostet
als alle vorausgegangenen Unruhen."
(Hermann
Müller, „Die November-Revolution", Berlin 1928, S. 285.)
Auch die anderen Prophezeiungen und Erwartungen der
Mehrheitssozialisten erfüllten sich nicht. In die
Nationalversammlung wurden 211 Vertreter der bürgerlichen und
nur 182 Vertreter der sozialistischen Parteien gewählt. Die
Sozialisierung marschierte nicht, sie gelangte nicht einmal in
Startstellung. Die Sozialisierungskommission fand am 9. April
1919 durch freiwilligen Rücktritt ein frühes Grab. Die Entente
beantwortete die Milderungsgesuche mit dem imperialistischen
Gewaltfrieden von Versailles. Die Reaktion aber erhob frecher
denn je ihr Haupt und wappnete sich für den Vernichtungskampf
gegen die deutsche Arbeiterbewegung.
So vermochte die deutsche Arbeiterklasse die ihr durch die
Novemberrevolution und die dieser folgenden politischen
Ereignisse gestellten Aufgaben nicht zu lösen, weil ihr die
stahlharte bolschewistische Führung, die
revolutionär-sozialistische, im Geiste des Marxismus-Leninismus
erzogene Partei fehlten, weil sie insbesondere keine
marxistisch-leninistische Orientierung über den Staat und seine
politisch-gesellschaftliche Funktion besaß.
Am 4. August wurden unter dem verhängnisvollen Einfluß der
sozialverräterischen Führung die Klasseninteressen des
Proletariats und die wahren Interessen des deutschen Volkes dem
„Burgfrieden" geopfert, und Deutschland versank in ein Meer von
Blut und Tränen.
Am 9. November 1918 triumphierten „Ruhe und Ordnung" über die
Klasseninteressen des Proletariats und seinen revolutionären
Auftrag. Das Ergebnis war die Nationalversammlung von Weimar.
Am 19. Januar 1919 vertraute die Mehrheit der deutschen
Arbeiter klasse — den Parolen der
opportunistischen Führung folgend — dem Stimmzettel der
formalen, bürgerlichen Demokratie, geriet in den Wirbel der
Koalitionspolitik und endete im Blutmeer des Faschismus. Drei
historische Fehlentscheidungen, die sich verhängnisvoll
auswirkten.
Editorische
Anmerkungen
Der Text ist das
VII. KAPITEL aus:
OTTO GROTEWOHL
DREISSIG
JAHRE SPÄTER
DIE NOVEMBERREVOLUTION UND
DIE LEHREN DER GESCHICHTE DER DEUTSCHEN ARBEITERBEWEGUNG
DIETZ VERLAG BERLIN 1951
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