Der Kampf um die Durchführung
der Revolution


von 
Otto Grotewohl

11/08

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1) Die Rolle der Räte in der Revolution

Nach dem Matrosenaufstand in Kiel, am 3. November 1918, hatten sich überall in den größeren Städten, am 9. November auch in Berlin, vielfach sogar auf dem Lande, nach dem Vorbild in Sowjetrußland Arbeiter- und Soldatenräte gebildet.

Da nicht nur die Arbeiterklasse, sondern auch breite Schichten der durch den Krieg schwer heimgesuchten Kleinbürger, stellenweise auch Bauern, vor allem aber Soldaten zur Bildung von Räten schritten, brachte damit die überwältigende Mehrheit des deutschen Volkes zum Ausdruck, daß sie die alten Macht- und Rechtsverhältnisse des zusammenbrechenden Staates nicht mehr anerkannte, ihre Machtorgane nicht mehr respektierte. Da der Bildung von Räten und auch ihren ersten Maßnahmen nirgends ein beachtlicher Widerstand entgegengesetzt wurde, erwies sich, daß tatsächlich in den Novembertagen die Macht in den Händen der Räte lag. Die entscheidende Frage war jetzt, ob es gelingen würde, die Räte zu wirklich arbeitsfähigen, revolutionären Machtorganen des Volkes auszubauen, die imstande waren, die von der Geschichte gestellten Aufgaben durchzuführen.

Die Entscheidung darüber hing davon ab, welche Menschen in diese Räte gewählt wurden und wie sie von den Führern der Arbeiterparteien und der Gewerkschaf ten beraten, geleitet und gelenkt wurden. Da die Mehrheitssozialisten den Massen überall ihre routinierten und rednerisch geschulten Funktionäre als Kandidaten für die Räte empfahlen, wurden in der Mehrzahl reformistische, opportunistische und revisionistisch eingestellte Vertreter in die Räte gewählt, also Leute, die sich nicht für den Ausbau, sondern, wie sich bald herausstellte, für die baldige Beseitigung der Räte einsetzten. In zahllosen Fällen gelangten Leute ohne jedes Verständnis und Interesse für politische Fragen lediglich deshalb in die Räte, weil sie am lautesten über die Schieber und Kriegsgewinnler oder über mißliebige Vorgesetzte gewettert hatten. Das galt in noch höherem Maße für die Soldatenräte, vor allem für die Berlins.

Die Millionen Soldaten waren nur zu einem geringen Bruchteil ziel-und klassenbewußte Proletarier; die Masse stand noch vollständig im Banne der bürgerlichen Ideologie und zu einem erheblichen Teile unter dem Einfluß des alten, jedem proletarischen Empfinden abgeneigten Offizierkorps.(Vgl. Richard Müller, „Vom Kaiserreich zur Republik", Bd. II, S. 41 ff.)

So waren in den aus der Revolution geborenen Organen nicht die Vorkämpfer der Revolution, sondern die Feinde der Revolution, die Freunde der Reform in der Überzahl. Trotz dieser buntgewürfelten Zusammensetzung der Räte wäre es,  wenn eine Partei vorhanden gewesen wäre, die durch Stärkung der revolutionären proletarischen Elemente über die Kraft verfügt hätte, möglich gewesen, ihre Macht zu festigen und richtig zu gebrauchen.

Vom 16. bis 21. Dezember 1918 fand in Berlin der Reichsrätekongreß statt. Die Führung der Sozialdemokratischen Partei bemühte sich nach Kräften darum, die Mehrheit auf dem Kongreß zu erhalten und die Wahl der Führer des Spartakusbundes Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg als Delegierte zum Rätekongreß zu Fall zu bringen. Sie nützte dafür den Staatsapparat und die Gewerkschaften sowie ihren Einfluß auf die Massen aus. Dabei kam den sozialdemokratischen Führern die Schwäche des Spartakusbundes gut zustatten. Auf dem Rätekongreß waren als Delegierte vertreten:

288 Sozialdemokraten,
87 Unabhängige Sozialdemokraten,
47 Demokraten,
27 Soldaten, die keiner Fraktion angehörten,
11 Angehörige der Gruppe der Vereinigten Arbeiter- und Soldaten und
25 Parteilose.

Als bekanntere Vertreter des Spartakusbundes gehörten Fritz Heckert und Eugen Levin dem Rätekongreß an. Der Vorschlag, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht mit beratender Stimme zum Kongreß einzuladen, wurde abgelehnt.

Während der ersten Sitzung des Kongresses organisierte der Spartakusbund eine große Demonstration, an der sich mehr als 250 000 Personen beteiligten. Eine Delegation der Demonstranten verkündete von der Tribüne des Kongresses folgende Forderungen:

1. Erklärung Deutschlands zur einheitlichen sozialistischen Republik;
2. alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten;
3. unverzügliche Entwaffnung der Konterrevolution und Bewaffnung der Arbeiterklasse.

Entgegen diesen Forderungen des Spartakusbundes entschloß sich der Kongreß zur Liquidierung der Räte. Es wurde der Beschluß gefaßt, die vollziehende und gesetzgebende Macht der Regierung der Volksbeauftragten zu übergeben. Der Beschluß über die beschleunigte Einberufung der Nationalversammlung wurde mit großer Mehrheit angenommen. Der Kongreß wählte einen Zentralrat, dem nur rechte Sozialdemokraten angehörten. Praktisch kam die Beschlußfassung des Rätekongresses einem Todesstoß für das Rätesystem gleich und bedeutete die Wegbereitung für den bürgerlichen Parlamentarismus und damit für die Konterrevolution.

Der Spartakusbund hatte bereits am 1. Oktober 1918 in durchaus richtiger Einschätzung der Lage folgende Forderungen erhoben: Säuberung des gesamten Beamtenapparates, Enteignung des gesamten Bankkapitals, der Bergwerke und Hütten und des Großgrundbesitzes, Abschaffung der Einzelstaaten und Dynastien.

Als unter dem Druck des Generalstreiks in Berlin die Republik ausgerufen wurde, forderte der Spartakusbund in seinem Programm vom 10. November 1918 unter anderem: Bewaffnung des Volkes, Übernahme sämtlicher militärischer und ziviler Behörden und Kommandostellen durch Vertrauensmänner des Arbeiter- und Soldatenrates, Übernahme der Regierung durch den Berliner Arbeiter- und Soldatenrat bis zur Errichtung eines Reichsarbeiter- und Soldatenrates.

Für die Verwirklichung dieser Forderungen kam es aber darauf an, nicht nur ausreichende agitatorische, sondern in erster Linie organisatorische Kraft aufzubringen. Der Spartakusbund hatte bisher durch die leidenschaftlich betriebene Agitation und Propaganda nur begeisterte Hörer und Leser, Demonstranten und Streikende in den Massen mobilisiert. Er kannte die meisten seiner Anhänger aber nicht im einzelnen, wußte nichts über ihre besonderen Vorzüge und Fähigkeiten, Fehler und Schwächen. Die hätten nur erkannt und entwickelt werden können in langer, beharrlicher, hingebender Organisationsarbeit. Gerade die jedoch hatte der Spartakusbund unterschätzt und vernachlässigt. Die großen Aufgaben aber riefen Jetzt nach Menschen, die in den Räten auf den verschiedensten Gebieten an ihrer Durchführung arbeiten sollten. Von der organisatorischen Verbindung mit diesen Menschen, ihrer planmäßigen Leitung und Lenkung, ihrer Zusammenfassung und Einspannung auf die jeweils notwendigen Teilaufgaben, von der Festigung und Vertiefung ihrer revolutionären Gesinnung und Erkenntnis, von der Stärkung ihrer revolutionären Kampfbereitschaft hing es jetzt ab, ob der Spartakusbund die erfolgreiche Führung der Revolution werde übernehmen können. Für den Spartakusbund war es schwer, ja unmöglich, jetzt in der stürmisch erregten Zeit das nachzuholen, was er in Jahren versäumt hatte. Auf Grund seiner zahlenmäßigen Schwäche, der fehlenden organisatorischen Verbindung mit den Massen und der Verständnislosigkeit gegenüber den Bauern war er deshalb nicht in der Lage, entscheidenden Einfluß auf die Zusammensetzung und die Arbeit der Arbeiter- und Soldatenräte zu gewinnen.

Die Mehrheitssozialisten legten alles darauf an, die Räte an der Ausübung ihrer Tätigkeit zu hindern, ihre Befugnisse einzuschränken, sie zu bloßen Kontrollorganen zu degradieren und ihre Bedeutung sowie ihr Ansehen in den Augen des Volkes herabzusetzen und sie so schnell wie möglich zu beseitigen. Soweit sie sich der Räte bedienten, geschah es nur zu dem Zweck, den Einfluß der Spartakusanhänger auszuschalten und den der USPD einzudämmen.

Die Unabhängigen zeigten eine unterschiedliche Haltung gegenüber den Räten. Nicht wenige setzten sich mit den Spartakusanhängern dafür ein, daß die Machtbefugnisse der Räte erweitert und ihnen die Durchführung der entscheidenden revolutionären Aufgaben übertragen werden sollten. Andererseits hielten viele, darunter die einflußreichsten, zu Kautsky, der schon in der kurz vor der Revolution erschienenen Schrift „Die Diktatur des Proletariats" das russische Rätesystem abgelehnt hatte und die Räte jetzt nur als Übergangserscheinungen gelten lassen wollte, die möglichst schnell nach Einberufung einer Nationalversammlung beseitigt werden sollten.

So ergab sich folgender Widerspruch: Der Spartakusbund, der am klarsten die Aufgaben erkannte, erwies sich als unfähig, sie durchzuführen, da ihm dazu alle organisatorischen Voraussetzungen, die ideologische Klarheit und die breite Resonanz in den Massen fehlten. Die Führer der SPD und Gewerkschaften und auch manche Führer der USPD dagegen, denen die machtvollen Organisationsapparate zur Verfügung standen, die von den Massen geradezu zur Erfüllung der

revolutionären Aulgaben gedrängt wurden, hatten keinen Blick für die Notwendigkeiten oder beurteilten sie falsch und scheuten die Revolution, ja, sie hatten die Millionen der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter bereits im November 1918 durch die Bildung einer Arbeitsgemeinschaft mit dem Unternehmertum für das „friedliche Wirtschaftsabkommen" gebunden und gefesselt.

Es war unausbleiblich, daß die Räte, die unter dem Einfluß solcher Gewerkschaften und Parteien gebildet, von solchen Parteiführern beraten wurden, dazu von politisch meist sehr unklaren und unreifen Elementen durchsetzt waren, ihre revolutionären Aufgaben nicht begriffen, daß sie sich nicht aufraffen konnten, die alten kaiserlichen Beamten aus der Verwaltung zu vertreiben, die Schulen, die Justiz von den reaktionären Elementen zu säubern, die Junker und Offiziere ihrer Macht zu entkleiden und die Kriegsverbrecher zu bestrafen. Sie verloren sich in kleinliche, lächerliche Plackereien und Streitigkeiten und trugen oft mehr zur Hemmung und Diskreditierung der Revolution als zu deren Weiterführung bei.

Die Lektüre der Verhandlungsprotokolle vermittelt uns ein erstaunliches Maß von Unentschlossenheit und Unkenntnis der entscheidenden Probleme der Revolution. In der Frage der Sozialisierung vertrat Max Cohen, einer der führenden Wirtschaftsexperten der SPD, in Gemeinschaft mit Rudolf Hilferding, der damals der USPD angehörte, den Standpunkt:

„Wenn die Produktion stockt, wie bei uns, wenn weder Rohstoffe noch Betriebe vorhanden sind, ja, was soll man denn da eigentlich sozialisieren? Da ist das plötzliche Sozialisieren der helle Wahnsinn, da gibt es gar nichts zu sozialisieren!... Wenn wir ... volle Läger, wenn wir Lebensmittel hätten, gäbe es... niemand, der nicht bereit wäre, einige Experimente zu machen."
(Allgemeiner Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands rom 16. bis 21. Dezember 1918 im Abgeordnetenhause zu Berlin. Stenographische Berichte, S. 109.)

Als schließlich die Frage der Friedensregelung und der Sozialisierung auf der Tagesordnung standen, beantragte die SPD, beide Punkte von der Tagesordnung abzusetzen, und Karl Severing erklärte dazu:

„Ich habe deshalb an den Genosten Geyer, den Vorsitzenden der Fraktion der USP, die Anfrage gerichtet, ob seine Fraktion damit einverstanden sei, die beiden genannten Punkte von der Tagesordnung abzusetzen. Genösse Geyer erklärte nicht nur seine Zustimmung, sondern fügte noch hinzu, daß nach seiner Kenntnis der Dinge auch der Berichterstatter zur Sozialisierung", das war Hiiferding, „nicht gram darüber sein würde, wenn er auf sein Referat verzichten müßte." (Ebenda, S. 173.)

Damit erlitt die Sozialisierung in der Räteversammlung ein Begräbnis erster Klasse, und man kann wohl sagen, daß Ernst Däumig von der USPD recht hatte, als er das Räteparlament mit den Worten kennzeichnete:

„Kein Revolutionsparlament der Geschichte hat einen so nüchternen, hausbackenen, ja, ich sage philiströsen Geist aufzuweisen, wie dieses erste Revolutionsparlament, das hier zusammengetreten ist... Auf den Staatsgebäuden flattern noch die Farben des alten Systems. . . und darüber ein armseliges rotes Wimpelchen." (Ebenda, S. 113/114.)

Aber selbst das rote Wimpelchen verschwand bald und" aus der Räteversammlung wurde eine armselige Redeversammlung.

Gewiß hat es nicht an Beispielen gefehlt, wo zielklare, klassenbewußte Arbeiter die Räte zu entschlossenem revolutionärem Handeln fortrissen. So wurden zum Beispiel in Bremen alle militaristischen Lehrer aus den Schulen, alle reaktionären Elemente aus der Polizei entfernt und eine „Rote Garde" gebildet. Auch in Braunschweig wurden eine „Rote Garde" gebildet, die herzoglichen Güter als Eigentum des Volkes erklärt und die Gerichte von Reaktionären gesäubert.

Das 1. Räteparlament der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte am 10. November im Zirkus Busch war noch von revolutionärem Geist erfüllt, obgleich die Mehrheitssozialisten alles darauf angelegt hatten, mit Hilfe der unpolitischen oder politisch sehr unklaren Soldatenvertreter den Einfluß der revolutionären Obleute, der Organisatoren der großen Streiks im Kriege, zurückzudrängen. Einstimmig wurde eine Proklamation angenommen, in der die Arbeiter- und Soldatenräte als Träger der politischen Macht erklärt, die Notwendigkeit und Möglichkeit einer raschen und konsequenten Vergesellschaftung der Produktionsmittel festgestellt und die Bewunderung für die sowjetrussischen Revolutionäre, die auf dem Wege der Revolution vorangeschritten sind, zum Ausdruck gebracht wurden.

Auf dieser Versammlung der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte wurde aber auch bereits deutlich, daß die führenden Sozialdemokraten die Absicht hatten, sich bei ihrer Politik nicht auf die Räte, sondern auf andere, nichtproletarische Kräfte zu stützen, daß sie sich ihren Einfluß auf die Räte nur deshalb sichern wollten, um sie daran zu hindern, eine revolutionäre Tätigkeit zu entfalten.

Deshalb setzten sie mit Hilfe der zu wüsten Lärmkundgebungen aufgeputschten Soldatenvertreter durch, daß die revolutionären Obleute, die ehemaligen Organisatoren der großen revolutionären Streiks, nach anfänglicher Weigerung sich damit abfanden, daß in den Aktionsausschuß der Räte, den sogenannten Vollzugsrat, auch Mehrheitssozialisten gewählt wurden, also Männer, die noch bis kurz vor Ausbruch der Revolution jede Streikbewegung heftig bekämpft hatten. Dieser widerspruchsvollen Zusammensetzung des Vollzugsrates entsprach denn auch seine widerspruchsvolle, unklare und schwankende Haltung gegenüber der Kernfrage der Revolution, nämlich der Frage, ob die Arbeiterklasse die ihr zugefallene Macht festhalten und mit ihrer Hilfe die Revolution weiterführen, oder ob sie diese Macht in die Hände einer vorschnell einberufenen Nationalversammlung legen sollte, die, aus allen Schichten des Volkes gewählt, darüber zu entscheiden hätte, ob und wie weit der Weg der Revolution oder der der bürgerlichen Reformen beschritten werden sollte. In einer Entschließung vom 16. November 1918 sprach sich der Vollzugsrat gegen eine konstituierende Nationalversammlung aus, forderte aber gleichzeitig, daß der yon dem einzuberufenden Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands auszuarbeitende Verfassungsentwurf einer konstituierenden Nationalversammlung zur Beschlußfassung vorgelegt werden sollte.

Die Übertragung der wichtigsten Entscheidungen auf die beschleunigt einzuberufende Nationalversammlung bedeutete zugleich, daß bis dahin alle entscheidenden Maßnahmen zurückzustellen wären, und daß die Räte sich auf kontrollierende Tätigkeit beschränken sollten.

2. Die Möglichkeiten einer Wetterführung der Revolution mit Hilfe der Räte

Im ganzen gesehen zeigte jedoch auch dieses erste größere und bedeutsame Räteparlament in Berlin, daß in den Massen starke revolutionäre Energien vorhanden waren, daß die Rätedelegierten von revolutionärer Begeisterung erfüllt waren und diese trotz planmäßiger Irreführung und Verleitung zu schweren taktischen Fehlern und zur Preisgabe ihrer Machtbefugnisse bekundeten. Die Möglichkeit einer Erstarkung und Aktivierung der Räte war auch dadurch gegeben, daß die bisher herrschenden Klassen in den ersten Novembertagen zu keinem ernsthaften Widerstande entschlossen und fähig waren. Die bürgerlichen Parteien suditen unter Änderung ihrer Namen und unter geschickter Anpassung ihrer programmatischen Forderungen an die veränderten Machtverhältnisse sich als Volksparteien auszugeben und die Uneinigkeit der Arbeiterparteien für ihre revolutionsfeindlichen Ziele auszunützen. Sie wußten, daß sie selber in der gegebenen Situation nicht stark genug waren, daß ihre Autorität und Resonanz im Volke nicht ausreichten, um die Revolution aufzuhalten, sie erhofften darum alles von dem Zwiespalt in der Arbeiterklasse, insbesondere von den ihnen wohlbekannten opportunistischen und reformistischen Tendenzen in den ausschlaggebenden Schichten der SPD und der Gewerkschaften. Sie begriffen, daß nur diese selber der Revolution den Todesstoß vcr-«etzen könnten. Darum nahmen sie den Räten gegenüber eine zwar kritische, ablehnende Haltung ein, fügten sich aber ihren Anordnungen und beschränkten sich auf theoretische und polemische Angriffe.

Auch von den Mächten der Entente drohte zunächst keine ernste Gefahr für die Entwicklung der Räte. Die Besorgnis, daß die revolutionäre Bewegung die eigenen Völker erfassen könnte, hielt sie zurück, ihre Armeen tiefer in das deutsche Land hineinzusenden und sich in die innerpolitischen Angelegenheiten einzumischen. Der Streit um die koloniale Beute, um die Vorherrschaft in den neuen Erdölgebieten, die Berücksichtigung der Machtverschiebungen innerhalb des Imperialismus, die Erstarkung der Dominien, der USA und Japans drängten das Interesse an der innerpolitischen Entwicklung Deutschlands vorläufig in den Hintergrund. Die Weigerung des englischen Admirals Beatty am 19. November 1918, mit Vertretern der Arbeiter- und Soldatenräte zu verhandeln, stellte einen Ausnahmefall dar, bei dem es sich um eine rein persönliche Entscheidung handelte, die sich nicht auf innenpolitische Fragen bezog, sondern die Auslieferung von deutschen Kriegsschiffen betraf.

Die faktische Anerkennung der provisorischen Regierung der sogenannten Volksbeauftragten, die am 10. November gebildet und von der Räteversammlung im Zirkus Busch bestätigt worden war, durch die Siegermächte, das Unterlassen jeden Einspruchs gegen deren Tätigkeit und Beauftragte, bedeutete zugleich auch die Anerkennung der Räte, mindestens aber ihre vorläufige Duldung.

Andererseits unterliegt es keinem Zweifel, daß die von diesen Volksbeauftragten am 12. November 1918 mit Gesetzeskraft verkündeten sozialen und demokratischen Verbesserungen nur deshalb möglich waren, weil überall in den Betrieben und Kasernen und in der Verwaltung die errichteten Räte die Durchführung überwachten und gegen Verstöße vorgingen.

Was die deutsche Revolution 1918 überhaupt dem Volke an sozialen und demokratischen Errungenschaften bescherte, ist ausnahmslos im November 1918 durch die ersten Maßnahmen der provisorischen Regierung, des Rates der Volksbeauftragten, in jenen Tagen entstanden, in denen die Räte als die einzigen Träger der Macht und als Organe des Willens der Werktätigen noch aktions- und ausbaufähig waren und die reaktionären Mächte, die Ordnungstruppen und ihre Offiziere, der Regierung noch keinen Rückhalt boten und auch noch nicht die geringsten Wirkungsmöglichkeiten besaßen, wenngleich die Führer der Mehrheitssozialisten um ihre Hilfe bereits nachgesucht hatten.

Diese Errungenschaften waren immerhin von Bedeutung und bestanden unter anderem in der Beseitigung der Monarchie, in der Aufhebung der Gcsindeordnung, der Ausnahmegesetze gegen die Landarbeiter, der Beschränkung der Vereins- und Versammlungsfreiheit, der Zensur, in der Einführung des Achtstundentages ab 1. Januar 1919, in der Unterstützung der Erwerbslosen, in der Einführung des Frauenstimmrechtes und des Verhältniswahlsystems sowie in der Einführung von Betriebsvertretungen.

In diesen Maßnahmen drückte sich das Bestreben aus, die bürgerlichen Freiheiten und sozialen Forderungen, die schon 1848 hätten erkämpft werden müssen, jetzt zu verwirklichen. In Erfüllung dieses Strebens hätte durch Enteignung des Großgrundbesitzes, Demokratisierung der Verwaltung, der Schule, der Armee die damals unvollendete bürgerlich-demokratische Revolution zu Ende geführt werden müssen. Dies war zwar durchaus möglich, die Räte waren dazu aber nicht mehr fähig.

Die ersten Wahlen nach dem 9. November in Mecklenburg-Strelitz, in Anhalt und in Braunschweig brachten überwältigende Siege der sozialistischen Parteien.

Diese Erfolge hatten die sozialistischen Parteien nur erringen können, weil sie in den Massen die Überzeugung geweckt hatten, daß sie die Revolution weiterführen würden. Nur dadurch waren damals die Massen zu gewinnen. Deshalb gaben sich auch die Gegner der Revolution durch hochtrabende Phrasen einen revolutionären Anstrich. Selbst die Zentrumspartei ließ verlauten, daß sie mit der Durchführung einer Bodenreform einverstanden sei.

Es bedurfte nur einer revolutionären proletarischen Kampfpartei, die nach dem Vorbild der Bolschewiki das Banner der Revolution ergriffen und die durchaus kampfentschlossenen Massen mitgerissen hätte.

Im Gegensatz zu den meisten der damals führenden sozialdemokratischen Funktionäre, die die Möglichkeit eines Sieges der Revolution bestritten, hat Noske diese Möglichkeit zugegeben.

Er schreibt in seinen jetzt nach seinem Tode veröffentlichten Erinnerungen:

„Von Kiel aus wäre, wenn ich die rote Sturmfahne ergriffen und vorangetragen hätte, eine Flut über Deutschland hinweggebraust, deren Ausmaß man sich heute kaum ausdenken kann."
(Gustav Noske, „Erlebtes aus Aufstieg und Niedergang einer Demokratie", Offenbach/Main 1947, S. 71.)

Läßt man diese maßlose Selbstüberschätzung Noskes außer Betracht, so bringt diese Äußerung doch die Möglichkeiten klar zum Ausdruck, die damals in Deutschland für eine revolutionär-sozialistische Partei gegeben waren.

Noske brüstet sich in seinen Erinnerungen jedoch:

„Statt dessen schuf ich das Instrument, mit dem der Bolschewismus niedergeschlagen wurde." ( Ebenda, S. 72.)

3. Die Niederringung der Räte

Noske konnte diese konterrevolutionäre Rolle nur übernehmen, weil die führenden Mehrheitssozialisten von vornherein entschlossen waren, mit allen Mitteln zu verhindern, daß die Revolution über den" Sturz der Monarchie hinaus weitergeführt wurde. Nicht der Weg der Revolution, sondern der der Reformen sollte besdiritten werden. Die Zusammenarbeit auch mit den reaktionären Kräften wäre notwendig. Die Staatsmacht könnte diese als Stützen nicht entbehren. Die Räte dagegen böten keine tragfähigen Grundlagen, sie wären zu beseitigen. So kam es, wie aus dem Zeugnis des Generals Groener im Dolchstoßprozeß hervorgeht, zu einem förmlichen Bündnis zwischen dem alten Generalstab und den führenden Mehrheitssozialisten.

Groener erklärte:

„Wir haben uns verbündet zum Kampf gegen den Bolschewismus . . . Ich habe ihm (Hindenburg) vorgeschlagen, die Oberste Heeresleitung möge sich mit der Mehrheitssozialdemokratie verbünden, da es zur Zeit keine Partei gebe, die Einfluß genug hätte, im Volke, besonders bei den Massen, um eine Regierungsgewalt mit der O.H.L. wieder herzustellen... Das erste war, daß wir uns jeweils abends zwischen 11 und 1 Uhr telefonisch vom Hauptquartier mit der Reichskanzlei (mit Ebert, Scheidemann) auf einem Geheimdraht verständigten. Zunächst handelte es sich darum, in Berlin den Arbeiter- und Soldatenräten die Gewalt zu entreißen. Zu diesem Zwecke wurde ein Unternehmen geplant, zehn Divisionen sollten in Berlin einmarschieren... Die Unabhängigen forderten, daß die Truppen ohne Munition einrücken. Ebert hat zugestimmt, daß sie mit scharfer Munition einrücken. Wir haben ein Programm ausgearbeitet, das nach dem Einmarsch eine Säuberung Berlins von den Spartakisten vorsah. Das war auch mit Ebert besprochen, dem ich ganz besonders dankbar bin wegen seiner absoluten Vaterlandsliebe .. . Ich habe ihn auch überall verteidigt, wo er angegriffen wurde."
(Groener im Dolchstoßprozeß, Oktober 1925, inFröhlich-Schreiner, „Die deutsche Sozialdemokratie", S. 49.)

Dieses Zeugnis ist zugleich eine Bestätigung der unbestreitbaren Tatsache, daß nicht die geringste Veranlassung vorlag, die Truppen deshalb nach Berlin zu rufen, um, wie man später erklärte, den allgemeinen Unruhen und blutigen Straßenkämpfen ein Ende zu bereiten. In Wirklichkeit war die Revolution überraschend schnell und fast ohne Blutvergießen verlaufen. Die Zeit der Ausschreitungen, Terrorakte und bewaffneten Demonstrationen brach vielmehr erst an, als die Truppen eingerückt waren. Weil der Opportunismus die Mehrheitssozialdemokratie beherrschte, weil sie seit dem Erfurter Programm von 1891, also 30 Jahre, eine falsche Politik getrieben hatte, erfüllte sich in tragischer und erschütternder Weise das seherische Wort von Marx und Engels, daß diese 1879 in ihrem Zirkularbrief über Eduard Bernstein schrieben:

„Wenn Berlin wieder einmal so ungebildet sein sollte, einen 18. März zu machen, so müssen die Sozialdemokraten, statt als ,barrikadensüchtige Lumpe' am Kampf teilzunehmen, vielmehr den ,Weg der Gesetzlichkeit beschreiten', abwiegeln, die Barrikaden wegräumen und nötigenfalls mit dem herrlichen Kriegsheer gegen die einseitigen, rohen, ungebildeten Massen marschieren."
(Karl Marx und Friedrich Engels, „Ausgewählte Schriften" in zwei Bänden, Bei. II, S. 452.)

Wahrscheinlich haben Marx und Engels es selbst nicht für möglich gehalten, daß Sozialisten wenige Jahrzehnte später alles tun würden, um diese Voraussage zur geschichtlichen Tatsache werden zu lassen. Gestützt auf das Bündnis mit der Generalität und mit reaktionär eingestellten Truppen eröffneten die Führer der Mehrheitssozialisten vorn ersten Tage an den schärfsten Kampf gegen die Räte und damit gegen die Revolution. Sie begründeten die Notwendigkeit dieses Kampfes mit der unwahren Behauptung aller Konterrevolutionäre, die „Ruhe und Ordnung" sei gefährdet und müsse wiederhergestellt werden. Die Losung sei darum: schnelle Beendigung der Revolution, schnellste Einberufung der Konstituante. In einer Flut von Reden, Presseartikeln und Flugblättern hämmerte man dem Volke ein:

„Wer die Konstituante verhindert oder hinauszögert, bringe das Volk um Frieden, Freiheit und Brot, verhindere die Sozialisierung, entfessele den Bürgerkrieg, gefährde die Einheit und provoziere den Einmarsch der Entente-Truppen." (Richard Müller, „Vom Kaiserreich zur Republik", Bd. II, S. 87 f.)

Mit Anwendung aller demagogischen Mittel, mit Lügen und Verdächtigungen wurden die Räte in der sozialdemokratischen und bürgerlichen Presse sowie in massenhaft verbreiteten, aus öffentlichen Mitteln bezahlten Flugblättern in den Augen des Volkes herabgesetzt. So scheute sich der „Vorwärts" nicht, die von der Not geplagten Massen am 2. Dezember 1918 mit folgender Schwindelmeldung irrezuführen und aufzupeitschen:

„Wie die P.P.N. von vertrauenswürdiger Seite hören, haben die Arbeiter- und Soldatenräte in den ersten 14 Tagen ihres Bestandes einen Finanzbedarf von 800 Millionen gehabt." (Ebenda, S. 123.)

Die beabsichtigte Wirkung war, daß in der bürgerlichen Presse eine wüste Hetze gegen die Soldatenräte, die angeblich schlemmten und praßten und sich persönlich bereicherten, entfacht wurde. Das Skandalöse lag darin, daß der „Vorwärts" verschwieg, daß der erwähnte „Finanzbedarf" gar nicht die persönlichen Ausgaben der Räte, sondern die Kosten der Demobilisation, Marschgelder für zu entlassende Truppen, Lohnerhöhung für Truppen, vor allem auch die Ausgaben für den „Grenzschutz" betrafen. Dieser wurde damals gerade von den Volksbeauftragten zugelassen und unterstützt, um das Übergreifen der revolutionären Bewegung aus Sowjetrußland auf Deutschland abzuwehren.

Doch beschränkte man sich nicht auf solche und ähnliche Falschmeldungen. Zielbewußt wurden die Wirkungsmöglichkeiten der Räte eingeengt. Bereits am 12. November wurde die Oberste Heeresleitung durch die Volksbeauftragten, einschließlich der Unabhängigen, auf gefordert, anzuordnen, daß das Vorgesetztenverhältnis des Offiziers bestehen bliebe. Ausdrücklich verlangte man in diesem Erlaß von den Soldaten „willige Unterordnung" und „unbedingten Gehorsam" gegenüber den Offizieren, also gegenüber den gefährlichsten Vertretern der Reaktion. Nicht einmal eine Säuberung oder Überprüfung des reaktionärsten Offizierkorps der Welt wurde in Erwägung gezogen. Am 13. November beschloß der Vollzugsrat, die Bildung einer revolutionären Kampforganisation, einer sogenannten „Roten Garde", vorläufig zurückzustellen.

Am 19. November wurden die Räte zu bloßen Kontrollorganen erklärt, am 23. November verfügte der aus SPD und USPD zusammengesetzte Vollzugsrat:

„Diese Arbeiter- und Soldatenräte ... haben sich aber im allgemeinen jeden direkten Eingriffes in die Verwaltung zu enthalten." (Ebenda, S. 255.)

In zunehmendem Maße wurden schließlich Truppen nach Berlin gezogen und die revolutionäre Arbeiterschaft durch die Provokationen derselben aufs höchste gereizt, bis es dann am 6. Dezember zu der Verhaftung des Vollzugsrates durch die Truppen und zur Sprengung eines unbewaffneten Demonstrationszuges des Spartakusbundes durch Maschinengewehrfeuer kam. Damit wurde von den Gegnern der Revolution der Anstoß zu den nun folgenden, immer wieder aufs neue provozierten blutigen Kämpfen um die Revolution — nicht nur in Berlin — gegeben. Konterrevolutionäre Anschläge und Putsche fanden am gleichen Tage und anschließend nach offenbar einheitlichem Plan in verschiedenen Städten statt.

Von entscheidender Bedeutung für die Zukunft der Räte wurde es, daß auf der 1. Vollversammlung der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands vom 16. bis 21. Dezember 1918 in Berlin die reformistisch und opportunistisch eingestellte Mehrheit der Räte auf Antrag Lüdemanns, nach dem zweiten Weltkrieg Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, die Einberufung einer verfassunggebenden Nationalversammlung zum 19. Januar 1919 beschloß.

Die Räte hatten damit faktisch ihr eigenes Todesurteil ausgesprochen, hatten den Weg zur revolutionären Lösung der von der Geschichte gestellten Aufgaben endgültig verbaut. Die demokratische Neuordnung der Machtverhältnisse in der Landwirtschaft und in der Industrie im Interesse der Bauern und der übrigen Werktätigen, die Säuberung der Armee, der Polizei, Verwaltung, Justiz und Schule von allen reaktionären Gewalten hätten nur von den entschlossenen revolutionären Elementen innerhalb der Werktätigen unter Führung der marxistisch geschulten Arbeiterpartei durchgeführt werden können. Die Lösung dieser Aufgaben von der Nationalversammlung zu erwarten, bedeutete die völlige Ignorierung der entscheidenden Tatsache, daß die Wahlen zu dieser Versammlung jetzt unter dem ungebrochenen Einfluß der reaktionären Mächte erfolgen mußten, die nicht vernichtet, sondern durch die antirevolutionäre Haltung der Sozialdemokratie neu gestärkt worden waren. Es bedeutete, daß man die ideologische und politische Unklarheit, die nicht beseitigte finanzielle und soziale Abhängigkeit breiter Bevölkerungskreise von der Reaktion unterschätzte, daß man sich dem Wahn hingab, eine etwa durch Stimmzettel besiegte Reaktion, die sich im Besitz aller finanziellen und militärischen Machtmittel befand, würde diese Niederlage hinnehmen, ohne sich durch rücksichtslosen Einsatz aller Waffen dagegen zu wehren.

Die Einberufung der Nationalversammlung vor der Entmachtung der kaiserlichen Generale und Geheimräte, der Junker und Monopolkapitalisten bedeutete Verzicht auf den Vollzug der bürgerlich-demokratischen Revolution, bedeutete Zerstörung der Grundlagen, auf denen eine Weiterführung zur sozialistischen Revolution hätte erfolgen können. Die Revolution war damit zum Stillstand gekommen, noch ehe sie sich voll entfaltet und entscheidende Erfolge errungen hatte.

Die unmittelbaren Auswirkungen waren die Festigung des praktischen Bündnisses zwischen der Sozialdemokratie und den reaktionären Kräften und die Vertiefung und Verschärfung der Spaltung der Arbeiterklasse. Die Verdrängung der Unabhängigen aus der Regierung, die blutigen Kämpfe im Dezember und im Januar, der Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zeigen, daß man in der Wahl der Mittel

zur Niederdrückung der revolutionären Arbeiter immer skrupelloser wird, daß man vor viehischem feigem Meuchelmord nicht zurückschreckt, beweisen, daß nicht Ruhe und Ordnung, sondern Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft das Ziel ist. Und von den dann folgenden Märzkämpfen muß selbst Hermann Müller, der spätere sozialdemokratische Reichskanzler, gestehen:

„So hat der Berliner Märzputsch mehr Menschenblut gekostet als alle vorausgegangenen Unruhen."
(
Hermann Müller, „Die November-Revolution", Berlin 1928, S. 285.)

Auch die anderen Prophezeiungen und Erwartungen der Mehrheitssozialisten erfüllten sich nicht. In die Nationalversammlung wurden 211 Vertreter der bürgerlichen und nur 182 Vertreter der sozialistischen Parteien gewählt. Die Sozialisierung marschierte nicht, sie gelangte nicht einmal in Startstellung. Die Sozialisierungskommission fand am 9. April 1919 durch freiwilligen Rücktritt ein frühes Grab. Die Entente beantwortete die Milderungsgesuche mit dem imperialistischen Gewaltfrieden von Versailles. Die Reaktion aber erhob frecher denn je ihr Haupt und wappnete sich für den Vernichtungskampf gegen die deutsche Arbeiterbewegung.

So vermochte die deutsche Arbeiterklasse die ihr durch die Novemberrevolution und die dieser folgenden politischen Ereignisse gestellten Aufgaben nicht zu lösen, weil ihr die stahlharte bolschewistische Führung, die revolutionär-sozialistische, im Geiste des Marxismus-Leninismus erzogene Partei fehlten, weil sie insbesondere keine marxistisch-leninistische Orientierung über den Staat und seine politisch-gesellschaftliche Funktion besaß.

Am 4. August wurden unter dem verhängnisvollen Einfluß der sozialverräterischen Führung die Klasseninteressen des Proletariats und die wahren Interessen des deutschen Volkes dem „Burgfrieden" geopfert, und Deutschland versank in ein Meer von Blut und Tränen.

Am 9. November 1918 triumphierten „Ruhe und Ordnung" über die Klasseninteressen des Proletariats und seinen revolutionären Auftrag. Das Ergebnis war die Nationalversammlung von Weimar.

Am 19. Januar 1919 vertraute die Mehrheit der deutschen Arbeiter klasse — den Parolen der opportunistischen Führung folgend — dem Stimmzettel der formalen, bürgerlichen Demokratie, geriet in den Wirbel der Koalitionspolitik und endete im Blutmeer des Faschismus. Drei historische Fehlentscheidungen, die sich verhängnisvoll auswirkten.

Editorische Anmerkungen

Der Text ist das VII. KAPITEL aus:

OTTO GROTEWOHL
DREISSIG JAHRE SPÄTER
DIE NOVEMBERREVOLUTION UND DIE LEHREN DER GESCHICHTE DER DEUTSCHEN ARBEITERBEWEGUNG

DIETZ VERLAG BERLIN 1951