Die Frage nach dem Wesen der Erkenntnis ist eng verbunden mit
der Grundfrage der Philosophie und daher Gegenstand des
Kampfes von Materialismus und Idealismus. Nach
materialistischer Auffassung ist alle Erkenntnis, unabhängig
von ihrem jeweiligen Gegenstand und ihren besonderen Formen und
Methoden, ihrem allgemeinen Wesen nach eine annähernd getreue
Abbildung oder ideelle Widerspiegelung der objektiven Realität
im Bewußtsein der Menschen. Das erkennende Subjekt erzeugt im
Erkenntnisprozeß vermittels der analytisch-synthetischen
Nerventätigkeit ideelle Abbilder der Objekte in
anschaulich-sinnlicher Form (Empfindungen und ->• Wahrnehmungen)
und in abstrakt-logischer Form (Urteile und Begriffe). Der
Ablauf des Erkenntnisaktes wird wesentlich durch die
Gesetzmäßigkeiten der bedingt-reflektorischen Nerventätigkeit
bestimmt, der Erkenntnisinhalt jedoch durch die Eigenschaften
des Erkenntnisobjekts. Zwischen den abgebildeten Objekten und
ihren Abbildern im Bewußtsein besteht eine Ähnlichkeit im Sinne
einer Isomorphierelation (-> Isomorphie).
Im Gegensatz zur materialistischen Auffassung der Erkenntnis
haben die verschiedenen Richtungen der idealistischen
Philosophie Erkenntnisbegriffe geschaffen, die zwar einzelne
Momente des Erkenntnisprozesses erfassen, diese aber
verabsolutieren und daher das Wesen der Erkenntnis verfehlen.
Nach platon besteht die Erkenntnis darin, daß die immaterielle
und ewige Seele die ewigen und unveränderlichen Ideen schaue,
genauer, daß sie sich der Ideen wieder erinnere, die sie früher
schaute. Erkenntnis ist ein geistiger Akt, nämlich
Wiedererinnerung (Phaedon 20, 25, 27). Der Erkenntnisbegriff
platons wirkt bis in die gegenwärtige idealistische Philosophie
(BOLZANO, HUSSERL, WHITEHEAD).
Nach BERKELEY ist Erkennen nur ein
Ordnen von Bewußtseinsinhalten, eine Auffassung, wodurch
Ähnlichkeiten, Harmonien, Übereinstimmungen entdeckt werden
(Über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis C, V); nach
hume handelt es sich bei der Erkenntnis um ein Verknüpfen von
Vorstellungen (Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand
VII). Diese Auffassung wurde die wichtigste theoretische Quelle
des Erkenntnisbegriffs des Empiriokritizismus, nach dem
Erkennen darin besteht, die Empfindungen zu ordnen, die
Weltelemente, Vitalreihen, Gigno-mene oder einfach das Gegebene
genannt werden. Auch der Neupositivismus, wie er vor
allem von schlick entwickelt wurde, geht von hume aus. Erkennen
bedeutet, daß unseren Wahrnehmungen Zeichen zugeordnet und diese
geordnet werden (schlick, Allgemeine Erkenntnislehre I, 11).
Alle idealistischen Erkenntnisbegriffe laufen darauf hinaus, die
Erkenntnis von ihrem wirklichen Gegenstand, der objektiven
Realität, zu trennen. Die Erkenntnis entspringt nicht einem
mystischen Erkenntnistrieb, sondern hat ihre Grundlage und
entscheidende Triebkraft in der gesellschaftlichen Praxis. Die
Praxis und die praktischen Bedürfnisse der Menschen, vor allem
die der Produktion, bestimmen die Entwicklungsrichtung der
Erkenntnis, stellen ihr die entscheidenden Aufgaben, und die
Praxis liefert auch die materiellen Mittel (Instrumente,
wissenschaftliche Geräte), um diese Aufgaben lösen zu können.
Die Erkenntnis der Naturgegenstände mit ihren Eigenschaften und
der Naturgesetze ist die wichtigste Voraussetzung dafür, die
Naturkräfte in der Produktion den Menschen dienstbar machen zu
können. Die Erkenntnis der gesellschaftlichen
Entwicklungsgesetze ermöglicht es ihnen, den sozialen
Lebensprozeß bewußt und planmäßig zu lenken. Diesem Ziel dienen
letzten Endes, direkt oder vermittelt, alle Erkenntnisse. Sie
münden schließlich wieder in die Praxis ein, wobei sich erweist,
in welchem Grade sie mit der objektiven Realität übereinstimmen.
Die Praxis ist das letzte und entscheidende Kriterium der
Erkenntnis.
Die Erkenntnis der objektiven Realität durch die Menschheit
ist ein komplizierter, vielgestaltiger und langwieriger Prozeß,
in dessen Verlauf ständig Widersprüche entstehen und überwunden
werden, Umwege und Abwege möglich sind, der aber über alle
Schwierigkeiten hinweg zu einer immer umfassenderen und tieferen
Einsicht in das Wesen und die Gesetzmäßigkeiten der Natur und
Gesellschaft führt. «Erkenntnis ist die ewige, unendliche
Annäherung des Denkens an das Objekt. Die Widerspiegelung
der Natur im menschlichen Denken ist nicht ,tot', nicht
.abstrakt', nicht ohne Bewegung, nicht ohne Widerspräche,
sondern im ewigen Prozeß der Bewegung, der Entstehung und
Aufhebung von Widersprüchen aufzufassen» (LENIN
38, 185). Dabei verläuft der Weg der Erkenntnis, sowohl des
einzelnen Erkenntnisprozesses als auch der menschlichen
Gesamterkenntnis, von der Erscheinung zum Wesen, von der
Sammlung, Vergleichung und Klassifizierung der Tatsachen zur
Aufdeckung ihrer inneren, allgemeinen und notwendigen
Zusammenhänge, zur Feststellung ihrer Gesetze. Zugleich ist die
Erkenntnis ein dialektischer Prozeß des Aufsteigens vom
Konkreten zum Abstrakten und von diesem zu einer höheren Form
des Konkreten. Die Erkenntnis stößt in ihrer Entwicklung ständig
auf Grenzen, die jedoch historisch bedingt sind. Sie hängen vom
Entwicklungsstand der Produktivkräfte und
Produktionsverhältnisse der Gesellschaft, insbesondere von den
wissenschaftlichen Instrumenten und Geräten sowie vom bereits
erreichten Wissensstand ab und werden fortlaufend verändert. Das
ist ein unendlicher Prozeß, in dem sich die Souveränität der
menschlichen Erkenntnis verwirklicht und der Widerspruch
zwischen den jeweils beschränkten Möglichkeiten der Erkenntnis
und der unbeschränkten Erkenntnisfähigkeit ständig gelöst und
erneut gesetzt wird. «In diesem Sinn ist das menschliche Denken
ebensosehr souverän wie nicht souverän und seine
Erkenntnisfähigkeit ebensosehr unbeschränkt wie beschränkt.
Souverän und unbeschränkt der Anlage, dem Beruf, der
Möglichkeit, dem geschichtlichen Endziel nach; nicht souverän
und beschränkt der Einzelausführung und der jedesmaligen
Wirklichkeit nach» (MARX/ENGELS 20, 80f).
Die Erkenntnis kann keinen endgültigen Abschluß mit der
Fixierung einer allumfassenden absoluten Wahrheit finden. Sie
kann sich der absoluten Wahrheit nur asymptotisch durch immer
neue Erkenntnis relativer Wahrheiten annähern, ohne sie jemals
zu erreichen. Die absolute Wahrheit wird in den und durch die
relativen Wahrheiten erkannt.