Das Philosophische Wörterbuch  BAND 1

hrg. von Georg Klaus & Manfred Buhr

11/08

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Erkenntnis - Prozeß und Resultat der (sinnlichen oder rationalen) Widerspiegelung der objektiven Realität im menschlichen Bewußtsein.
 
Der Erkenntnisprozeß im umfassenden Sinne ist die sich historisch entwickelnde Erkenntnis der objektiven Realität durch die Menschheit, im engeren Sinne die einzelne Erkenntnis eines bestimmten Gegenstandes. Erkenntnis als Resultat des Erkenntnisprozesses im umfassenden Sinne ist die Gesamtheit des jeweils erreichten menschlichen Wissens, das seinen höchsten und systematisch geordneten Ausdruck in der Wissenschaft findet, im engeren Sinne das Wissen über einen bestimmten Kreis von Gegenständen. Der historischgesellschaftliche Erkenntnisprozeß der Menschheit vollzieht sich und die Erkenntnis wächst nach Umfang und Tiefe an, indem in unendlich vielen einzelnen Erkenntnisakten immer mehr Gegenstände und Zusammenhänge der objektiven Realität erkannt werden.

Die Frage nach dem Wesen der Erkenntnis ist eng verbunden mit der Grundfrage der Philosophie und daher Gegenstand des Kampfes von Materialismus und Idealismus. Nach materialistischer Auffassung ist alle Erkenntnis, unabhängig von ihrem jeweiligen Gegenstand und ihren besonderen Formen und Methoden, ihrem allgemeinen Wesen nach eine annähernd getreue Abbildung oder ideelle Widerspiegelung der objektiven Realität im Bewußtsein der Menschen. Das erkennende Subjekt erzeugt im Erkenntnisprozeß vermittels der analytisch-synthetischen Nerventätigkeit ideelle Abbilder der Objekte in anschaulich-sinnlicher Form (Empfindungen und ->• Wahrnehmungen) und in abstrakt-logischer Form (Urteile und Begriffe). Der Ablauf des Erkenntnisaktes wird wesentlich durch die Gesetzmäßigkeiten der bedingt-reflektorischen Nerventätigkeit bestimmt, der Erkenntnisinhalt jedoch durch die Eigenschaften des Erkenntnisobjekts. Zwischen den abgebildeten Objekten und ihren Abbildern im Bewußtsein besteht eine Ähnlichkeit im Sinne einer Isomorphierelation (-> Isomorphie).

Im Gegensatz zur materialistischen Auffassung der Erkenntnis haben die verschiedenen Richtungen der idealistischen Philosophie Erkenntnisbegriffe geschaffen, die zwar einzelne Momente des Erkenntnisprozesses erfassen, diese aber verabsolutieren und daher das Wesen der Erkenntnis verfehlen. Nach platon besteht die Erkenntnis darin, daß die immaterielle und ewige Seele die ewigen und unveränderlichen Ideen schaue, genauer, daß sie sich der Ideen wieder erinnere, die sie früher schaute. Erkenntnis ist ein geistiger Akt, nämlich Wiedererinnerung (Phaedon 20, 25, 27). Der Erkenntnisbegriff platons wirkt bis in die gegenwärtige idealistische Philosophie (BOLZANO, HUSSERL, WHITEHEAD).

Nach BERKELEY ist Erkennen nur ein Ordnen von Bewußtseinsinhalten, eine Auffassung, wodurch Ähnlichkeiten, Harmonien, Übereinstimmungen entdeckt werden (Über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis C, V); nach hume handelt es sich bei der Erkenntnis um ein Verknüpfen von Vorstellungen (Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand VII). Diese Auffassung wurde die wichtigste theoretische Quelle des Erkenntnisbegriffs des Empiriokritizismus, nach dem Erkennen darin besteht, die Empfindungen zu ordnen, die Weltelemente, Vitalreihen, Gigno-mene oder einfach das Gegebene genannt werden. Auch der Neupositivismus, wie er vor allem von schlick entwickelt wurde, geht von hume aus. Erkennen bedeutet, daß unseren Wahrnehmungen Zeichen zugeordnet und diese geordnet werden (schlick, Allgemeine Erkenntnislehre I, 11). Alle idealistischen Erkenntnisbegriffe laufen darauf hinaus, die Erkenntnis von ihrem wirklichen Gegenstand, der objektiven Realität, zu trennen. Die Erkenntnis entspringt nicht einem mystischen Erkenntnistrieb, sondern hat ihre Grundlage und entscheidende Triebkraft in der gesellschaftlichen Praxis. Die Praxis und die praktischen Bedürfnisse der Menschen, vor allem die der Produktion, bestimmen die Entwicklungsrichtung der Erkenntnis, stellen ihr die entscheidenden Aufgaben, und die Praxis liefert auch die materiellen Mittel (Instrumente, wissenschaftliche Geräte), um diese Aufgaben lösen zu können. Die Erkenntnis der Naturgegenstände mit ihren Eigenschaften und der Naturgesetze ist die wichtigste Voraussetzung dafür, die Naturkräfte in der Produktion den Menschen dienstbar machen zu können. Die Erkenntnis der gesellschaftlichen Entwicklungsgesetze ermöglicht es ihnen, den sozialen Lebensprozeß bewußt und planmäßig zu lenken. Diesem Ziel dienen letzten Endes, direkt oder vermittelt, alle Erkenntnisse. Sie münden schließlich wieder in die Praxis ein, wobei sich erweist, in welchem Grade sie mit der objektiven Realität übereinstimmen. Die Praxis ist das letzte und entscheidende Kriterium der Erkenntnis.

Die Erkenntnis der objektiven Realität durch die Menschheit ist ein komplizierter, vielgestaltiger und langwieriger Prozeß, in dessen Verlauf ständig Widersprüche entstehen und überwunden werden, Umwege und Abwege möglich sind, der aber über alle Schwierigkeiten hinweg zu einer immer umfassenderen und tieferen Einsicht in das Wesen und die Gesetzmäßigkeiten der Natur und Gesellschaft führt. «Erkenntnis ist die ewige, unendliche Annäherung des Denkens an das Objekt. Die Widerspiegelung der Natur im menschlichen Denken ist nicht ,tot', nicht .abstrakt', nicht ohne Bewegung, nicht ohne Widerspräche, sondern im ewigen Prozeß der Bewegung, der Entstehung und Aufhebung von Widersprüchen aufzufassen» (LENIN 38, 185). Dabei verläuft der Weg der Erkenntnis, sowohl des einzelnen Erkenntnisprozesses als auch der menschlichen Gesamterkenntnis, von der Erscheinung zum Wesen, von der Sammlung, Vergleichung und Klassifizierung der Tatsachen zur Aufdeckung ihrer inneren, allgemeinen und notwendigen Zusammenhänge, zur Feststellung ihrer Gesetze. Zugleich ist die Erkenntnis ein dialektischer Prozeß des Aufsteigens vom Konkreten zum Abstrakten und von diesem zu einer höheren Form des Konkreten. Die Erkenntnis stößt in ihrer Entwicklung ständig auf Grenzen, die jedoch historisch bedingt sind. Sie hängen vom Entwicklungsstand der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse der Gesellschaft, insbesondere von den wissenschaftlichen Instrumenten und Geräten sowie vom bereits erreichten Wissensstand ab und werden fortlaufend verändert. Das ist ein unendlicher Prozeß, in dem sich die Souveränität der menschlichen Erkenntnis verwirklicht und der Widerspruch zwischen den jeweils beschränkten Möglichkeiten der Erkenntnis und der unbeschränkten Erkenntnisfähigkeit ständig gelöst und erneut gesetzt wird. «In diesem Sinn ist das menschliche Denken ebensosehr souverän wie nicht souverän und seine Erkenntnisfähigkeit ebensosehr unbeschränkt wie beschränkt. Souverän und unbeschränkt der Anlage, dem Beruf, der Möglichkeit, dem geschichtlichen Endziel nach; nicht souverän und beschränkt der Einzelausführung und der jedesmaligen Wirklichkeit nach» (MARX/ENGELS 20, 80f). Die Erkenntnis kann keinen endgültigen Abschluß mit der Fixierung einer allumfassenden absoluten Wahrheit finden. Sie kann sich der absoluten Wahrheit nur asymptotisch durch immer neue Erkenntnis relativer Wahrheiten annähern, ohne sie jemals zu erreichen. Die absolute Wahrheit wird in den und durch die relativen Wahrheiten erkannt.

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde entnommen aus:

Buhr, Manfred, Klaus, Georg
Philosophisches Wörterbuch Band 1, Berlin 1970, S.315f

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