Wir haben
bisher gesehen, dass die wirtschaftliche und ideologische
Situation der Massen sich nicht decken müssen und sogar
beträchtlich auseinander fallen können. Die ökonomische Lage
setzt sich nicht unmittelbar und nicht direkt in politisches
Bewusstsein um. Wäre das der Fall, die soziale Revolution wäre
längst da. Entsprechend diesem Auseinanderfallen von sozialer
Lage und sozialer Bewusstheit muss die Untersuchung der
Gesellschaft eine doppelte sein: Ungeachtet der Tatsache, dass
sich die Struktur aus dem wirtschaftlichen Dasein ableitet, muss
die wirtschaftliche Situation mit anderer Methode erfasst werden
als die charakterliche Struktur: jene sozialökonomisch, diese
bio-psychologisch. Wir wollen das Gesagte an einem einfachen
Beispiel darstellen: Wenn Arbeiter, die infolge Lohndrucks
hungern, streiken, so ergibt sich ihr Handeln direkt aus ihrer
wirtschaftlichen Lage. Das gleiche gilt für den Hungernden, der
Nahrung stiehlt. Zur Erklärung des Diebstahls aus Hunger oder
des Streiks aus der Ausbeutung bedarf es keiner weiteren
psychologischen Erklärung. In diesem Falle entsprechen Ideologie
und Handeln dem wirtschaftlichem Druck. Ökonomische Lage und
Ideologie decken sich. Die reaktionäre Psychologie pflegt in
diesem Falle erklären zu wollen, aus welchen angeblich
irrationalen Motiven gestohlen oder gestreikt wird, was immer zu
reaktionären Erklärungen führt. Für die Sozialpsychologie steht
die Frage gerade umgekehrt: nicht, dass der Hungernde stiehlt
oder dass der Ausgebeutete streikt, ist zu erklären, sondern
weshalb die Mehrheit der Hungernden nicht stiehlt und die
Mehrheit der Ausgebeuteten nicht streikt. Die Sozialökonomie
erklärt einen gesellschaftlichen Tatbestand also restlos dann,
wenn das Handeln und Denken rational-zweckmäßig ist, d. h. der
Bedürfnisbefriedigung dient und die ökonomische Situation
unmittelbar wiedergibt und fortsetzt. Sie versagt, wenn das
Denken und Handeln der Menschen der ökonomischen Situation
widerspricht, also irrational ist. Der Vulgärmarxismus und
der Ökonomismus, die die Psychologie nicht anerkennen, stehen
einem solchen Widerspruch hilflos gegenüber. Je mechanistischer,
ökonomistischer der Soziologe orientiert ist, je weniger er die
Struktur des Menschen kennt, desto mehr verfällt er dem
oberflächlichen Psychologismus in der Praxis der
Massenpropaganda. Statt den psychologischen Widerspruch im
Massenindividuum zu erraten und zu beseitigen, betreibt er öden
Couéismus, oder er erklärt die nationalistische Bewegung aus
einer „Massenpsychose“(4). Die Fragestellung der
Massenpsychologie setzt also gerade dort an, wo die
unmittelbare sozialökonomische Erklärung versagt. Stellt
sich die Massenpsychologie dadurch in Gegensatz zur
Sozialökonomie? Nein. Denn das irrationale, also der
unmittelbaren sozialökonomischen Situation widersprechende
Denken und Handeln der Massen ist selbst die Folge einer
früheren, älteren sozialökonomischen Situation. Man
pflegt die Hemmung der sozialen Bewusstheit aus der so genannten
Tradition zu erklären. Es ist aber bisher nicht untersucht
worden, was das ist: „Tradition“, an welchen psychologischen
Tatbeständen sie sich abspielt. Der Ökonomismus hat bisher
übersehen, dass die wesentlichste Frage nicht die ist, dass und
wie soziales Verantwortungsbewusstsein beim Werktätigen
vorhanden ist (das ist selbstverständlich!), sondern was die
Entwicklung des Verantwortungsbewusstseins hemmt.
Die
Unkenntnis der charakterlichen Struktur der Menschenmassen
ergibt immer wieder unproduktive Fragestellungen. Die
Kommunisten erklären z. B. die Machtergreifung durch den
Faschismus aus der irreführenden Politik der Sozialdemokratie.
Diese Erklärung führte im Grunde in eine Sackgasse, denn es war
ja eben ein Wesenszug der Sozialdemokratie, Illusionen zu
verbreiten. Diese Erklärung ergibt also keine neue Praxis.
Ebenso unproduktiv ist die Erklärung, die politische Reaktion
hätte in Gestalt des Faschismus die Massen „vernebelt“ und
„hypnotisiert“. Das ist und bleibt die Funktion des Faschismus,
solange er existiert. Solche Erklärungen sind unproduktiv, weil
sie keinen Ausweg ergeben. Die Erfahrung lehrt, dass die
tausendfältige Enthüllung solcher Art die Massen nicht
überzeugt, dass also die sozialökonomische Fragestellung allein
nicht genügt. Liegt nicht nahe zu fragen, was in den Massen
selbst vorgeht, dass sie die Funktion des Faschismus nicht
erkennen konnten und wollten? Mit der typischen Auskunft: „Die
Arbeiter müssen nun erkennen ...“ oder „Wir haben es
nicht verstanden ...“ ist nicht gedient. Weshalb erkennen die
Arbeiter nicht, und warum haben wir nicht verstanden? Als
unproduktive Fragestellung ist z. B. auch jene zu betrachten,
die der Diskussion zwischen der Rechten und der Linken in der
Arbeiterbewegung zugrunde lag. Die Rechten behaupteten, die
Arbeiter seien nicht kampfgewillt, die Linken dagegen
behaupteten, das sei falsch, die Arbeiter seien revolutionär und
die Behauptung der Rechten bedeute Verrat am revolutionären
Gedanken. Beide Fragestellungen waren, weil sie ein Entweder -
Oder darstellten, mechanistisch starr. Der Wirklichkeit hätte
entsprochen festzustellen, dass der durchschnittliche Arbeiter
einen Widerspruch in sich trägt, dass er also weder eindeutig
revolutionär noch eindeutig konservativ ist, sondern in einem
Konflikt steht: seine psychische Struktur leitet sich einerseits
aus seiner sozialen Lage ab, die revolutionäre Einstellungen
anbahnt, andererseits aus der Gesamtatmosphäre der autoritären
Gesellschaft, was einander widerspricht.
Es ist
entscheidend, einen solchen Widerspruch zu sehen und zu
erfahren, worin sich konkret das Reaktionäre und das
fortschrittlich Revolutionäre im Arbeiter darstellen. Die
gleiche Fragestellung gilt natürlich auch für den
Mittelständler. Dass er in der Krise gegen das „System“
rebelliert, verstehen wir unmittelbar. Dass er aber, obwohl
bereits ökonomisch verelendet, trotzdem den Fortschritt fürchtet
und extrem reaktionär wird, ist nicht unmittelbar
sozialökonomisch zu verstehen. Auch er hat also einen
Widerspruch in sich zwischen rebellierenden Fühlen und
reaktionären Zielen und Inhalten.
Wir
erklären z. B. einen Krieg soziologisch nicht vollständig, wenn
wir die besonderen ökonomischen und politischen Gesetze
aufdecken, die ihn unmittelbar bedingen, also etwa die
deutschen Annexionstendenzen, die sich vor 1914 auf die
Erzbecken von Briey und Longwy, auf das belgische
Industriegebiet, auf die Erweiterung des Kolonialbesitzes in
Vorderasien etc. richteten; oder die Interessen des Hitlerschen
Imperialismus im II. Weltkrieg an den Ölquellen von Baku, an den
Werken der Tschechoslowakei etc. Die ökonomischen Interessen
des deutschen Imperialismus waren zwar der entscheidende
aktuelle Faktor, aber wir müssen auch die
massenpsychologische Basis der Weltkriege einordnen, wir
müssen fragen, wie der massenpsychologische Boden fähig
wurde, die imperialistische Ideologie aufzusaugen, die
imperialistischen Parolen in Tat umzusetzen, strikte
entgegengesetzt der friedlichen staatspolitisch uninteressierten
Gesinnung der deutschen Bevölkerung. Man beantwortet die Frage
nicht zufriedenstellend, wenn man den „Umfall der Führer der II.
Internationale“ dafür verantwortlich macht. Warum ließen sich
die Millionenmassen der freiheitlich und antiimperialistisch
gesinnten Arbeiter verraten? Die Angst vor den Folgen der
Kriegsdienstverweigerung kommt nur bei einer Minderzahl in
Betracht. Wer die Mobilisierung 1914 mitgemacht hat, weiß, dass
sich in den arbeitenden Massen verschiedenartige Stimmungen
zeigten. Von bewusster Ablehnung bei einer Minderheit angefangen
über eine merkwürdige Ergebenheit in das Schicksal oder eine
Stumpfheit bei sehr breiten Schichten bis zu heller
Kriegsbegeisterung nicht nur in Mittelschichten, sondern weit
hinein in Industriearbeiter-Kreise. Die Stumpfheit der einen
wie die Begeisterung der anderen waren fraglos
massenstrukturelle Fundierungen des Krieges. Diese
massenpsychologische Funktion in beiden Weltkriegen kann nur
unter dem Gesichtspunkt verstanden werden, dass die
imperialistische Ideologie die Strukturen der werktätigen Massen
konkret im Sinne des Imperialismus veränderte: Man kann
gesellschaftliche Katastrophen mit der Auskunft, dass es sich um
eine „Kriegspsychose“ oder eine „Massenvernebelung“ handelte,
nicht abtun. Es würde bedeuten, die Massen gering einzuschätzen,
wenn man sie einer bloßen Vernebelung für zugänglich hält. Es
geht darum, dass jede Gesellschaftsordnung sich in den Massen
ihrer Mitglieder diejenigen Strukturen erzeugt, die sie für ihre
Hauptziele braucht.(5) Ohne diese massenpsychologischen
Strukturen wäre kein Krieg möglich. Es besteht eine wichtige
Beziehung zwischen der ökonomischen Struktur der Gesellschaft
und der massenpsychologischen Struktur ihrer Mitglieder; nicht
nur in dem Sinne, dass die herrschenden Ideologien die
Ideologien der herrschenden Klasse sind, sondern was für die
Lösung von praktischen Fragen der Politik bedeutsamer ist: auch
die Widersprüche der ökonomischen Struktur einer
Gesellschaft sind in den massenpsychologischen Strukturen der
Unterdrückten verankert. Anders wäre nicht denkbar, dass die
ökonomischen Gesetze einer Gesellschaft nur durch die Tätigkeit
der ihnen unterworfenen Massen zur konkreten Auswirkung gelangen
können.
Die
freiheitlichen Bewegungen Deutschlands wussten zwar von der
Wichtigkeit des so genannten „subjektiven Faktors der
Geschichte“ (bei Marx ist im Gegensatz zum mechanischen
Materialismus der Mensch als Subjekt der Geschichte im Prinzip
erfasst, und Lenin baute gerade diese Seite des Marxismus
aus); woran es mangelte, war die Erfassung des irrationalen,
unzweckmäßigen Handelns, anders ausgedrückt, des
Auseinanderfallens von Ökonomie und Ideologie. Wir müssen
erklären können, wie es möglich wurde, dass Mystik über
wissenschaftliche Soziologie gesiegt hat. Diese Aufgabe kann nur
dann geleistet werden, wenn unsere Fragestellung derart ist,
dass sich aus der Erklärung spontan neue Praxis ergibt. Wenn der
Werktätige weder eindeutig reaktionär noch eindeutig
revolutionär ist, sondern in einem Widerspruch zwischen
reaktionären und revolutionären Strebungen steht, so muss sich,
wenn wir diesen Widerspruch entdecken, zwangsläufig eine Praxis
ergeben, die den konservativen psychischen Kräften die
revolutionären entgegensetzt. Jede Mystik ist reaktionär, und
der reaktionäre Mensch ist mystisch. Wenn man die Mystik
verlacht, als „Vernebelung“ oder als „Psychose“ unerklärt abtut,
so geht keine Maßnahme gegen die Mystik daraus hervor. Wenn man
aber die Mystik korrekt erfasst, so muss sich zwangsläufig ein
Gegengift gegen sie ergeben. Um aber diese Aufgabe zu leisten,
müssen die Beziehungen zwischen sozialer Lage und
Strukturbildung, im besonderen die nicht unmittelbar
sozialökonomisch erklärbaren, irrationalen Ideen, soweit
die Erkenntnismittel reichen, erfasst werden.
Fußnoten:
4) Da der
Ökonomist seelische Vorgänge weder kennt noch anerkennt,
bedeutet ihm das Wort „Massenpsychose“ nicht wie uns einen
riesenhaften sozialen Tatbestand von historischem Gewicht,
sondern ein sozial unbedeutendes, nebensächliches Nichts.
5) Die
Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die
herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende
materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre
herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur
materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit
zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so dass ihr
damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die
Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die
herrschenden Gedanken sind weiter nichts als der ideelle
Ausdruck der herrschenden Verhältnisse, die als Gedanken
gefassten, herrschenden materiellen Verhältnisse; also die
Verhältnisse, die eben die einer Klasse zur herrschenden machen,
also die Gedanken ihrer Herrschaft. (Marx)
Editorische
Anmerkungen
Bei dem Text handelt es sich um einen Quellenauszug aus:
Wilhelm Reich. Die Massenpsychologie des Faschismus.
Hier: I. Die Ideologie als materielle Gewalt. 3. Die
Fragestellung der Massenpsychologie (S.41-44).
>Anm.: 1933
erschien Reichs Massenpsychologie des Faschismus zum
erstenmal. Das Buch kam zu spät, um noch viele Leser zu
erreichen: es wurde zur Lektüre der Emigranten und blieb
notwendig folgenlos.
Den Auszug
besorgte Reinhold Schramm.
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