Stabilisierungs- und
Destabilisierungsprozesse sexueller und geschlechtlicher
Identitätsbildung beschreiben und erklären sich über drei
wesentliche Faktoren. Zur Beschreibung dient der Begriff der
"heterosexuellen Matrix". Sie bezeichnet eine soziale und
kulturelle Anordnung, ein "diskursives Dispositiv", das aus den
drei Dimensionen von anatomischem Geschlechtskörper (SEXUS),
sozialer Geschlechterrolle (GENDER) und erotischem Begehren
(DESIRE) besteht. Diese drei Kategorien sind jeweils
wechselseitig aufeinander bezogen. Mal leitet sich das Begehren
aus dem Geschlecht ab, mal wird über das Begehren Geschlecht
erst verankert. Mal folgt aus dem Körper eine bestimmte soziale
Rolle, mal erzeugt eine bestimmte Rolle ein bestimmtes Begehren.
Die
Entstehungsbedingungen von queer als politischer Bewegung und
theoretischem Denkansatz liegen in den USA der späten
Achtzigerjahre. Der Hintergrund, aus dem sich das Queer
Movement ableitet, ist sehr vielfältig: Die Schwulen-,
Lesben-, und Frauenbewegung hatten separatistische Politiken
mit im Einzelnen sehr unterschiedlicher Ausrichtung verfolgt,
die die Entstehung von homogenisierten Ghettos unterstützte.
Im kapitalistischen Verwertungsprozess hatte sich die pink
economy zu einem eigenständigen Marktsegment gemausert.
Die
fortschreitende Institutionalisierung der Lesben-, Schwulen-
und Frauenbewegung leitete eine Hinwendung ihrer Funktionäre
zur Lobby-Politik ein, die auch ihr Stück vom Kuchen abhaben
wollte. Führende schwule Aktivisten versuchten, Schwule und
Lesben als "ethnische Identität" zu verkaufen und damit in die
us-amerikanische Verteilungspolitik zu integrieren. Sie
stellten Schwule als assimilationswillige großstädtische
Einkommenselite dar, die sich nach Anerkennung durch den
Mainstream sehnt. Ein Ergebnis dieser Ausrichtung war die
Kommerzialisierung und Entpolitisierung der CSD-Paraden. All
dies förderte eine homogenisierte Darstellung
nicht-heterosexueller Lebensformen, die stillschweigend ihre
weißen, mittelständischen und männlichen Vertreter zur Norm
machte.
Die
lesbisch-feministische Szene formulierte einen sexuellen
Verhaltenskodex, der von vielen Frauen ebenfalls zunehmend als
beengend und normativ erlebt wurde. Die Auseinandersetzungen,
die sich vor allem um Pornografie, Bisexualität, Promiskuität,
Penetration und Sadomasochismus drehten, waren so heftig, dass
sie als sexwars bezeichnet wurden. Diese Entwicklungen führten
dazu, dass sich viele Lesben und Schwule nicht mehr in diesen
Bewegungen repräsentiert sahen. Zeitgleich mobilisierte die
Neue Rechte gegen die bescheidenen Errungenschaften der
Bürgerrechtsbewegungen der Sechziger- und Siebzigerjahre. Der
Kampf gegen Abtreibung und Homosexualität stand dabei ganz
oben auf der Agenda. Ein weiterer zentraler Beweggrund für die
Entstehung von queer politics waren die sozialen Folgen der
Aids-Epidemie. Vor allem zu Beginn wurden über Aids massiv
homophobe Vorurteile geschürt: Das Gerede von Risikogruppen
grenzte die Zahl der "Betroffenen" auf die Randgruppen der
moral majority ein: Schwarze, Schwule, Prostituierte und
Junkies.
Diese Gruppen
waren aus Sicht eben dieser moral majority für ihre Krankheit
auf Grund ihrer riskanten Lebensweise selbst Schuld. Die
Verbindung von Homosexualität und Krankheit wurde neu
aufgewärmt. Obwohl weitaus weniger durch HIV-gefährdet, hatten
Lesben unter diesem wachsenden homophoben Klima fast genauso
zu leiden. Von der Reagan-Administration wurden die Erkrankten
und Infizierten völlig alleingelassen, Aids als Problem
ignoriert und keine Gelder für Pflege und Forschung
bereitgestellt. Da es in den USA keine gesetzliche
Krankenversicherung gibt, konnten sich viele die teuren
Therapien nicht leisten, verloren bald ihre Erwerbsfähigkeit
und rutschten unter die Armutsgrenze.
Nicht-weiße
Menschen, die traditionell den ärmeren Schichten angehören,
waren davon besonders betroffen. Vor dem Hintergrund dieser
verschiedenen Krisen und Konflikte entwickelte sich eine
aggressive Politik der Wut. Queer politics versuchten, die
randständigen Positionen der offiziellen Identitätspolitik ins
Zentrum zu rücken. Queer entstand also als eine neue Form der
Bündnispolitik von sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen
Außenseiterinnen und Außenseitern, die deshalb auch als
"Regenbogenkoalition" bezeichnet und symbolisiert wurde.
Die Bezeichnung
"queer" wurde gewählt, weil dieses Schimpfwort im Englischen
ziemlich unbestimmt alle diejenigen meint, die nicht in die
Wertvorstellungen der moral majority passen. Die
Selbstbezeichnung als "queer" hatte, ähnlich wie bei den
Wörtern "Schwuler", "Tunte", "Lesbe", "Krüppel", "Kanake",
"Irrer", einen provokanten, kämpferischen Charakter. Es
verstörte das Publikum, wenn sich die Diffamierten selbst so
nannten, und es nahm der Verletzung die Schärfe und kehrte den
Spieß um in die Richtung, aus der er kam. Da in den USA die
heterosexuelle Kleinfamilie als Keimzelle der Nation gilt, die
deren Reproduktion und Reinheit sichert, gab sich eine
aktivistische Neugründung 1990 den Namen "Queer Nation" als
bewusste, aber nicht unproblematische Provokation dieses
Nationenbegriffs.
Queer Nation
verbreitete sich in kürzester Zeit in allen größeren Städten
der USA. Die Organisation bevorzugte als Instrument der
Politik schrilles Auftreten und theatralische Performances wie
kiss inns und die inns an stark frequentierten Orten wie
Verkehrsknotenpunkten, Fußgängerzonen und Einkaufszentren.
1992 entstanden die Lesbian Avengers(dt. "Lesbische
Rächerinnen"), die ähnlich öffentlichkeitswirksame Auftritte
machten. Im Umfeld von queer politics, aber auch in Abgrenzung
davon sind im Verlauf der Neunzigerjahre weitere Initiativen
und Bewegungen entstanden. Transsexuelle und
transgender-Menschen haben sich selbstständig in eigenen
Gruppen organisiert wie z. B. Transsexual Menace, unter
anderem deshalb, weil für sie das Etikett queer zu sehr von
Schwulen und Lesben und von der Privilegierung von Belangen
der Sexualität gegenüber solchen des Geschlechts geprägt wird.
Intersexuelle
Menschen (landläufig "Zwitter") haben das Intersex Movement
angestoßen. Die politischen Stoßrichtungen dieser
verschiedenen queeren Kämpfe überkreuzen sich an vielen
Punkten, führen aber auch zu sehr kontroversen Einschätzungen.
Parallel zu diesen politischen Entwicklungen, teils als Reflex
darauf, teils unabhängig davon, entstand queer im
universitären Bereich der Gay and Lesbian Studiesals
Sammelbegriff für einen neuen kritisch-theoretischen Zugang
zum Feld nicht-normgerechter Sexualitäten. Teresa de Lauretis
war die erste, die 1991 queer in diesem Sinne anlässlich einer
Schwerpunkt-Nummer der feministischen Zeitschrift
"differences" verwendete, die sich mit lesbischen und schwulen
Sexualitäten beschäftigte.
Mindestens
genauso wichtig wie queer politics war für das Entstehen von
queer theory allerdings das poststrukturalistische Denken. Der
Poststrukturalismus versteht sich grob gesagt als eine Kritik
an der Überheblichkeit des Subjekts der Aufklärung und seinem
Erkenntnisanspruch. Poststrukturalistische Denker haben
grundsätzliche Skepsis gegenüber groß angelegten
Theoriegebäuden angemeldet, die behaupten, die Welt als ganze
beschreiben zu können. Sie ziehen die Erkenntnisfähigkeit und
den Fortschrittsoptimismus des aufklärerischen Rationalismus
grundsätzlich in Zweifel. Im Zentrum poststrukturalistischer
Kritik steht die Vorstellung vom autonomen, in sich ruhenden
Subjekt. Schon Sigmund Freud hatte behauptet, dass das Ich
nicht Herr im eigenen Hause sei. Während die bürgerliche
Aufklärung im Subjekt den gefährlichsten Gegner von
subalterner Ideologiegläubigkeit hatte sehen wollen,
interpretierte der marxistische Philosoph Louis Althusser das
Subjekt gerade umgekehrt als das Produkt der Unterwerfung
unter eine Ideologie. Um diese kühne Behauptung zu
illustrieren, wählte er das Beispiel eines Polizisten, der auf
der Straße ruft: "He, Sie da!" Der Passant oder die Passantin,
die sich daraufhin umdreht, erkennt damit erst die Macht des
Polizisten, Leute anrufen und zum Stehen bringen zu können, an
und macht sich auch damit erst zum Subjekt.
Der
Poststrukturalismus radikalisiert nun diese Kritik am Subjekt.
Aus seinen Angeln heben wollen es seine Gegner, indem sie ihm
sein Herrschaftsinstrument unbrauchbar machen, nämlich die
Sprache. Der französische Philosoph Jacques Derrida hat zu
zeigen versucht, dass Sprache ihrem Anspruch, die Wirklichkeit
eins zu eins abzubilden, nie gerecht werden kann und notwendig
auf Mehrdeutigkeit von Bedeutungen angewiesen ist. Es sei das
Wesen der Sprache, begriffliche Grenzziehungen beständig zu
unterlaufen und Ordnung zu verunreinigen. Den methodischen
Nachweis dieser systematischen Subversion von Herrschaft durch
begrifliche Ordnung. Identität als Ordnungsprinzip wird damit
fragwürdig. Jeder Versuch, das unveränderliche Wesen einer
Identität zu bestimmen, wird anrüchig, weil es als
ideologische Verkürzung der Wirklichkeit erscheint. Diese
theoretische Position nennt man auch "Anti-Essenzialismus."
Der Poststrukturalismus verzichtet damit ausdrücklich auf
einen letztgültigen Wahrheitsanspruch. Da er sich sträubt,
Aussagen über das "wahre" Wesen der Dinge zu treffen,
kritisiert er ebenfalls die Vorstellung, dass es so etwas wie
Authentizität überhaupt geben könne.
Eine Konsequenz
daraus ist die Dekonstruktion des Gegensatzaares von Original
und Kopie. Jedes Original, so versuchen poststrukturalistische
Analysen nachzuweisen, ist bereits eine Kopie. Jede Kopie ist
bereits ein Original. Man merkt, dass der Poststrukturalismus
eine Denkbewegung ist, die versucht, radikal Hierarchien
abzubauen. Identität, Authentizität, Natürlichkeit,
Originalität das sind alles Begriffe, die für das
Selbstverständnis von lesbischen und schwulen
Emanzipationspolitiken von enormer Bedeutung sind. Wenn sie
fragwürdig werden, kann das eine produktive Krise auslösen.
Bestimmte altgediente politische Waffen können dadurch
abstumpfen, aber es können auch emanzipative neue Strategien
entwickelt werden. Zum Beispiel lässt sich die Hierarchie
einer eigentlichen, wahren, authentischen Hetero-Sexualität
und einer verirrten, falschen, unnatürlichen Homo-Sexualität
vor dem Hintergrund poststrukturalistischen Denkens nicht mehr
aufrechterhalten. Auf der anderen Seite kann dann aber auch
keine sexuelle Identität für sich in Anspruch nehmen, die
richtige zu sein, auch die nicht, die sich selbst für die
progressivste oder revolutionärste hält.
Seit Mitte der
Achtzigerjahre haben sich feministische Theoretikerinnen
bemüht, die Geschlechtsblindheit des Poststrukturalismus zu
beenden und die Kategorie Geschlecht in poststrukturalistische
Theoriebildung einzuschreiben. In Anknüpfung an Foucaults
Entzauberung der sexuellen Befreiungsbewegungen hat Judith
Butler Anfang der Neunziger den Feminismus entzaubert, indem
sie die Kategorie "Frau" als Subjekt des Feminismus
dekonstruiert hat. In ihrem Buch Gender Trouble von 1990 (dt.
"Das Unbehagen der Geschlechter"), so einer Art "Bibel" der
Queer Theory, versuchte Butler nämlich nachzuweisen, dass der
Feminismus gegen seine ausdrücklichen Ziele arbeiten würde,
wenn er am Subjekt "Frau" als seiner unhinterfragten Grundlage
festhalten würde. Dieser Provokation schickte sie eine Analyse
der Geschlechterordnung voraus, mit der sie eine
grundsätzliche Verunsicherung bzw. Verflüssigung der Kategorie
"Geschlecht" bezweckt, also eben: "Gender Trouble". Butler
liefert dazu eine Theorie, mit der sich Stabilisierungs- und
Destabilisierungsprozesse sexueller und geschlechtlicher
Identitätsbildung beschreiben und erklären lassen. Dazu führt
sie den Begriff der "heterosexuellen Matrix" ein. Sie
bezeichnet damit eine soziale und kulturelle Anordnung, mit
Foucault gesprochen: ein "diskursives Dispositiv", das aus den
drei Dimensionen von erstens anatomischem Geschlechtskörper
(sex), zweitens sozialer Geschlechterrolle (gender) und
drittens erotischem Begehren (desire) besteht. Diese drei
Kategorien sind jeweils wechselseitig aufeinander bezogen. Mal
leitet sich das Begehren aus dem Geschlecht ab, mal wird über
das Begehren Geschlecht erst verankert. Mal folgt aus dem
Körper eine bestimmte soziale Rolle, mal erzeugt eine
bestimmte Rolle ein be- stimmtes Begehren usw. Die
heterosexuelle Matrix zeichnet sich nun dadurch aus, dass sie
dieses Dreigestirn normativ einrichtet sowie ihre
Deckungsgleichheit erzwingt. Sie teilt die Menschen in genau
zwei und nur zwei, deutlich voneinander zu unterscheidende
Geschlechter. Dadurch entsteht der "anatomische
Geschlechtskörper" nicht als etwas rein Natürliches, sondern
außerdem als ein kulturelles Produkt, das eine bestimmte
Funktion in einem ideologischen System ausübt. Dem
Geschlechtskörper wird dann nach dieser Logik nämlich eine
ganz bestimmte soziale Rolle und Identität und ein
heterosexuelles Begehren zugewiesen. Geschlecht wird deshalb
fast immer sexualisiert und zwar hetero-sexualisiert
wahrgenommen. Diese Organisationsform ist nicht nur die
vorherrschende, sondern nimmt für sich auch in Anspruch, die
naturgemäße zu sein. Heterosexualität kann mit Hilfe des
Begriffs der heterosexuellen Matrix also als ein
Herrschaftssystem dargestellt werden, das Körper und ihr
Verhältnis zueinander normiert und diese aufgezwungene Ordnung
als natürlichen Grundzustand legitimiert.
Die Kategorie
"Frau" ist also immer eingebunden in die heterosexuelle Matrix
und trägt deshalb immer normative Effekte im Gepäck mit sich
herum. Sie erscheint so betrachtet als machtdurchwirktes,
interessegeleitetes "diskursives Konstrukt" und nicht als
unhintergehbare biologische Gegebenheit. Die Abtrennung der
drei Kategorien Sex/Gender/Begehren ist nicht erst Butlers
Leistung. Diese konzeptuelle Differenzierung war bereits in
den Siebziger- und Achtzigerjahren ein bewusster Eingriff
feministischer Theoriebildung gewesen, mit dem die
vermeintliche Einheitlichkeit der Triade unterwandert werden
sollte und Biologie nicht mehr als unabwendbares soziales
Schicksal begriffen werden musste. Butlers Neuerung bestand
nun darin, dass sie ihre Kritik nun außerdem auf die
Kategorien der Triade selbst richtet. Ihre Dekonstruktion der
heterosexuellen Matrix zielt darauf ab, einen Blick auf den
Geschlechteralltag zu werfen, der Widersprüche, Brüche und
Alternativen zu dieser Matrix sichtbar werden lässt.
Sex/Gender/Begehren erscheinen so nicht als selbstevidente und
essenzielle Gegebenheiten. Vielmehr begreift sie Butler nun
als performative Effekte. Performative Effekte entstehen erst
im Prozess der Herstellung. Man könnte das auf die Formel
bringen: es gibt kein Geschlecht, außer man tut es.
In der
Soziologie ist deshalb das Schlagwort des "Doing Gender"
geprägt worden. Geschlecht gilt hier nicht mehr als eine Form
des Seins, sondern des Handelns. Da Handeln sich erst in der
Zeit realisieren kann, ist es ständig im Fluss. Die Kategorie
"Geschlecht" kann so als Produkt eines fortlaufenden
Konstruktionsprozesses betrachtet werden.
Zum
Selbsterhalt ist die Konstruktion von Geschlecht auf
identische Wiederholungen angewiesen. Eine solche Struktur ist
automatisch instabil. Sie produziert nämlich beständig Unfälle
und Abweichungen. Butler interessiert sich nun gerade für die
Brüche bei der Reproduktion der heterosexuellen Matrix und
rückt sie damit von der Peripherie ins Zentrum der Analyse von
Geschlecht. Die Analyse misslungener Realisierungen der
heterosexuellen Matrix erlaubt ihr einen Einblick in die
allgemeine Funktionsweise der Geschlechter- und
Sexualitätenordnung. Butler interpretiert Geschlecht als eine
Norm, ein gesellschaftliches Ideal, dem alle versuchen
nachzueifern, entweder als Mann oder als Frau. Alle wollen
authentisch Mann oder Frau sein, und es gelingt ihnen doch
nie. Entweder es stimmt am Körper etwas nicht oder das
Verhalten passt nicht in die erwarteten Rollenvorstellungen
oder die Wahl der geliebten Person entspricht nicht der Norm.
Immer steht etwas quer beziehungsweise queer. Der Trick daran,
dass solche uneinholbaren Normen überhaupt Beachtung finden
und nicht alle einfach auf sie pfeifen, ist ihre
disziplinierende Wirkung.
Die normative
Geschlechterordnung ist ein Zwangsregime. Wer der Norm mehr
entspricht als andere, genießt Privilegien. Das macht es so
erstrebenswert, in der Norm zu sein. Wer ihr nicht entspricht,
fühlt sich schuldig oder mangelhaft und hat mit mehr oder
weniger massiven Sanktionen zu rechnen. Es wird schon
deutlich, dass eine solche Betrachtungsweise Koalitionen
möglich macht, die quer zu den üblichen Identitätsgrenzen
verlaufen. Butlers erklärtes politisches Ziel ist die
Subversion der gültigen Geschlechternormen. In Gender Trouble,
aber auch in ihren späteren Büchern beschäftigt sie sich immer
wieder mit Strategien, die es möglich machen, Risse in der
Norm aufklaffen zu lassen und die damit die Autorität der Norm
angreifen. Ein berühmt gewordenes Beispiel ist ihre Analyse
der Geschlechterparodie bei der Travestie. Sie befasst sich
aber auch mit transsexuellen und intersexuellen Lebenswelten,
mit alternativen Lebens- und Fürsorgegemeinschaften, mit queer
politics, mit der Uneindeutigkeit von ethnischen Identitäten
und schließlich mit der Verschränkung verschiedener sexueller,
geschlechtlicher, ethnischer, kultureller und sozialer
Identitäten. Sie geht dabei nicht von der Vorstellung aus,
dass man die Norm mit einem gezielten Schlag zu Fall bringen
könnte. Eine Perspektive der Veränderung sieht sie nur in der
Arbeit an der Norm. Dabei macht sie sich ihre theoretische
Einsicht zu Nutze, dass die Norm nicht einmal in die Welt
gesetzt wird und dann ein für allemal fortbesteht, sondern
fortwährend reproduziert werden muss und dabei offen für
Veränderungen ist. Als ein Beispiel für die Veränderbarkeit
von Normen führt sie die Geschichte des Begriffes "queer" an.
Dadurch, dass sich politische Aktivisten und Aktivistinnen
dieses Schimpfwort angeeignet haben, ist seine diffamierende
Bedeutung mit neuen Bedeutungsinhalten konfrontiert worden.
Die Macht des Begriffes zu verletzen ist angegriffen worden.
Butler nennt das eine performative Praxis der subversiven
Resignifizierung. Das heißt, es geht um eine Neubestimmung der
kulturellen Muster von Geschlecht und Sexualität, die mit der
bestehenden Ordnung bricht. Die Neunzigerjahre haben einen
beeindruckenden Boom der wissenschaftlichen Arbeiten und
Forschung zu queeren Themen erlebt. Besonders die auffälligen
Formen der Transgression von Geschlechternormen, wie
drag-kings und -queens, butch- und femme-transgender, standen
im Zentrum des Interesses. In den Kultur- und
Geschichtswissenschaften unternahmen zahlreiche Studien eine
Historisierung der Geschlechterordnung und versuchten damit,
die Veränderlichkeit von normativen Geschlechterwelten unter
Beweis zu stellen. In der Bundesrepublik kristallisierte sich
die Auseinandersetzung um queer theory an der Person und dem
Werk von Judith Butler, weil sie hier zu Lande einfach deren
bekannteste Vertreterin ist.
Das
deutschsprachige Erscheinen von Gender Trouble entfachte in
der Nummer 2 der Feministischen Studien von 1993 einen Sturm
der Entrüstung, der sich zu einem feministischen
Generationenkonflikt entwickelte. Zur Debatte stand vor allem
ihre Dekonstruktion des feministischen Subjekts "Frau" und des
anatomischen Geschlechtskörpers. Ihre Heterosexualitätskritik
wurde fast gar nicht rezipiert. Lesbische und schwule
Wissenschaftlerinnen haben sich dagegen durchaus positiv auf
queer theory bezogen, um homosexuelle Identitäten zu
dekonstruieren und zu historisieren. Ob queer theory einen
festen institutionellen Platz an bundesdeutschen Universitäten
bekommen wird, ist allerdings eher unwahrscheinlich. An
mehreren Unis gibt es Forschungsprogramme für
Geschlechterforschung. Sexualität wird dabei nicht
ausdrücklich erwähnt. Nur in Hamburg ist in diesem Jahr eine
eigene Professur zu queer theory eingerichtet worden.
Außerhalb des universitären Rahmens war das Echo auf queer
etwas verhaltener. Das hängt sicherlich damit zusammen, dass
die politische Situation in der BRD eine in weiten Teilen
andere war als in den USA. Die Schwulen- und Lesbenbewegung
blickt auf eine andere Geschichte zurück. Das
Sozialstaatssystem dämpfte die Folgen der Aids-Krise ab.
Das
Wiedererstarken nationalistischer Diskurse geschah in
Deutschland nicht so sehr über das Phantasma sexueller,
sondern vor allem völkischer und kultureller Reinheit und
führte so anstelle von homophoben zu fremdenfeindlichen und
rassistischen Kampagnen. Deshalb hatten die im vereinigten
Deutschland unter dem Label queer gegründeten Gruppen vor
allem eine antifaschistische und antirassistische Ausrichtung.
Von einigen wenigen Versuchen abgesehen, hat sich in
Deutschland kaum eine eigenständige Queer-Bewegung gebildet.
Dieses Ungleichgewicht zwischen einem großen Interesse für die
Theorie und einer vergleichsweise geringen politischen Praxis
hat dazu geführt, dass queer hier mehr als in
englischsprachigen Ländern der schlechte Ruch des
Akademischen, Abgehobenen, Weltfremden anhaftet, das sich
nicht in die Praxis umsetzen lässt. Außerdem gibt es oft
Schwierigkeiten mit dem sehr hohen Komplexitätsgrad
queer-theoretischer Analysen. (Und ich weiß nicht, ob meine
Ausführungen daran etwas ändern können).
Anders als in
den USA haben hiesige lesbische und schwule Szenen ihre
separatistische Ausrichtung erst in den Neunzigerjahren
aufgegeben und sich auf lesbisch-schwul orientiert, als man in
den USA längst Erfahrungen damit gesammelt hatte und an die
Grenzen auch dieser Form der Identitätspolitik gestoßen war.
Vielleicht bot sich für die BRD dagegen der Begriff "Queer"
an, um diese neue Form der Zusammenarbeit zu dokumentieren.
Die politische Agenda, die darunter verhandelt wird, ist aber
sehr oft eine auf Integration und Assimilation zielende Lobby-
und Bürgerrechtspolitik. Außerdem sind diese Organisationen
erfahrungsgemäß sehr schwulendominiert, wie beispielsweise der
"Lesben- und Schwulenverband in Deutschland", LSVD, aber auch
die AG Queer in der PDS.
Inzwischen
nimmt dagegen die Bereitschaft für eine Wahrnehmung von queer
zu, die über den Nenner von "lesbisch-schwul" hinausgeht. Das
beweisen die Diskussionen um eine Anerkennung von trans- und
intersexuellen Lebensweisen. Diese Auseinandersetzungen sind
aber lange noch nicht zu Ende geführt. Die Teilhabe
transsexueller Frauen an Frauen- und Lesbenräumen ist ein
unausgestandenes Reizthema, das immer wieder hochkocht, z. B.
auf der Lesbenwoche 1997 in Berlin. Gerade in der lesbischen
Szene, wo traditionell eine hohe Sensibilität für eigene
Minderheiten besteht, ist aber die Aufmerksamkeit für das
Thema transgender gewachsen. In der Schwulenszene werden
dagegen Tunten und transsexuelle Männernach wie vor
marginalisiert. Perspektiven für die Politisierung von queer
theory Abschließend möchte ich einige Vorschläge machen,
welche Chancen für eine lebendige Praxis von queer theory und
queer politics bestehen könnten. Dabei bin ich natürlich vor
allem auf die Erfahrungen aus der politischen Arbeit
angewiesen. Zunächst müssen wir uns in diesem Zusammenhang die
Frage stellen, ob queer heute überhaupt noch ein politisches
Potenzial entfalten kann, wo Defizite und Sollbruchstellen
queerer Gesellschaftsanalyse liegen. Heute, über zehn Jahre
nach der Entstehung von queer, hat sich manche Euphorie gelegt
und man kann bereits eine erste kritische Bilanz seiner
Effekte ziehen.
Eine Kritik an
queer theory beläuft sich z. B. darauf, dass sich queer zu
sehr in der Nähe von Kommerz und Spaßkultur bewegen würde.
Queer diene dann nur noch als Distinktionsmerkmal für eine
junge konsumorientierte Generation von Schwulen und Lesben,
die mit dem moralischen Rigorismus ihrer Vorläufergeneration
nichts mehr zu tun haben wollen. All das, zusammen mit der
absichtlichen Unschärfe des Begriffes queer würde zur
Beliebigkeit dieser Kategorie beitragen. Außerdem würde queer
Sexualität überbetonen und andere Achsen der Herrschaft
vernachlässigen. Dieser Vorwurf verbindet sich meistens mit
der Feststellung, dass queer eine kulturalistische und damit
idealistische Politik betreiben würde. Es gehe nur um Fragen
der kulturellen Anerkennung und nicht um Fragen der Verteilung
von gesellschaftlichem Wohlstand. Schließlich wurden queere
Politikstrategien kritisch ins Visier genommen: Angekreidet
wurde eine einseitige Bejahung von Öffentlichkeit und
outness.Zum einen würde queer dadurch im Bannstrahl des
Medienmarktes stehen, zum anderen könne der Gang in die
Öffentlichkeit gerade für illegalisierte Menschen sehr
gefährlich sein. Queer politics seien darüber hinaus zu sehr
auf den Einzelnen/die Einzelne bezogen und damit nicht in der
Lage, Kollektivität zu denken und nachhaltig zu organisieren.
Queer theory würde die Illusion wecken, die
Geschlechterordnung ließe sich durch individuelles Handeln
verändern.
Die queere
Theorie von der Performativität des Geschlechts würde allzu
oft so verstanden, dass sich Geschlecht nach Gusto frei wählen
lässt. Sexuelle und geschlechtliche Identität würden auf diese
Weise warenförmig verdinglicht. Geschlecht sei aber vielmehr
ein sehr stabile Kategorie gesellschaftlicher
Hierarchiebildung, die sich nicht willentlich verändern oder
ablegen lässt. All diese Kritikpunkte hauen in die gleiche
Kerbe: sie überprüfen, wo queer in ein affirmatives Verhältnis
zu neoliberalen Ideologien und Umstrukturierungsprozessen
gerät. Hier ist in der Tat Vorsicht geboten. Wenn man aber das
kritische Potenzial von Queer ernst nimmt und für die Zukunft
lebendig halten möchte, müsste dass heißen, das Feld der
Politik so zu begreifen, dass Sexualität an allen Stellen
eingeschlossen ist: sozusagen eine Art "Sexuality
Mainstreaming" (wenn auch der Begriff des "Gender
Mainstreaming" schon unerträglich abgenutzt und realpolitisch
diskreditiert ist). Ich möchte zum Schluss einige
Arbeitsfelder hierfür aufmachen und Fragen formulieren, an
denen angesetzt werden könnte:
- Erstens: Eine
Kritik an Heteronormativität: Wissenschaftlich liegt das
Potenzial von Queer vor allem darin, zu zeigen, dass
Heterosexualität als "Heteronormativität" elementaren
Gesellschaftskonzepten zu Grunde liegt. Heterosexualität
wird demgemäß als Grundbedingung und Urform aller sozialen
Beziehungen betrachtet. Es gehört zum diskreten Charme
heterosexueller Herrschaft, dass sie Bereiche durchzieht,
die auf den ersten Blick nichts miteinander und schon gar
nichts mit Sexualität zu tun haben: Privatheit und
Öffentlichkeit, "Nation" und "Rasse", Wahrheit und Lüge,
Original und Kopie, Geheimnis und Evidenz, Frau und Mann,
Aktivität und Passivität, Männlichkeit und Weiblichkeit,
Mutter und Kind, Spaß und Ernst. Heteronormativität ist als
gesellschaftlicher Zwang in den Staat und seine
Institutionen (Schule, Militär, Ehe) eingelagert. Der von
queer eingeleitete Perspektivenwechsel müsste also
fortgesetzt werden: weg von der Fokussierung auf
Minderheiten hin zum Blick aufs Zentrum und zur
Entprivilegierung der normierten Heterosexualität. Nicht nur
lesbische und schwule Identitäten gehören also
dekonstruiert, sondern ebenso auch heterosexuelle
Identitäten. Dabei geht es darum, Widersprüche und Brüche in
der Heterosexualität zu benennen und zu verstärken. Doch es
fällt offensichtlich noch schwer, Normalisierung als
Herrschaftsprinzip zu begreifen.
- Zweitens:
Eine Kritik an einem biologistischen Verständnis von
Verwandtschaft und am Ideal biologischer binärer
Elternschaft. Queer-theoretische Forscher und Forscherinnen,
allen voran Judith Butler, haben in jüngster Zeit den
Begriff der Verwandtschaft einer queer-theoretischen Kritik
unterzogen und eine Erweiterung angesichts der Vielfalt
gegenwärtig gelebter Fürsorgemodelle. Die Neuverhandlung und
politische Regulierung des Familienbegriffes wird aber, wie
der letzte Bundestagswahlkampf bereits ahnen ließ, auch ein
praktisches Politikfeld von zunehmender Bedeutung werden, da
die Familie im Zuge des neoliberalen Sozialabbaus wieder
wichtiger wird. Alternative Lebensformen werden vor allem
dann von der Politik wahrgenommen und anerkannt, wenn sich
an sie vormals staatliche Aufgaben abschieben lassen.
- Drittens: Eine
Kritik an Zweigeschlechtlichkeit: Das war zwar von Anfang an
Bestandteil queerer Kritik, der Fokus lag aber auf den
spektakulären Formen von Transgression und Subversion. Kaum
ein Interesse gab es bisher für die weniger glamourösen
Alltagspraxen. Gerade dem Wunsch nach Kohärenz und dem
Einklagen von geschlechtlicher Authentizität bei
Transsexuellen wurde wenig Respekt entgegengebracht.
Viertens: Eine Analyse des Verhältnisses von
Rassismus und Sexualität, die die Verwobenheit von
Sexualität mit anderen Achsen gesellschaftlicher
Hierarchiebildung aufzeigt. Wie werden migrantische
Communities marginalisiert und als homogen konstruiert?
Welche Rolle spielt Sexualität bei diesen
Differenzierungsoperationen? Welche Form von Sexualität wird
auf die Figur des Ausländers/der Ausländerin projiziert und
mit ihr aus der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen?
Fünftens: Und zuletzt: eine Analyse des
Verhältnisses von Kapitalismus und Sexualität, die leider
immer noch als eine Lücke in queeren Untersuchungen klafft:
Wie wird Sexualität in kapitalistischen Verhältnissen
geprägt? Wie werden sexuelle Bedürfnisse reguliert und
vermarktet? Welche Klassenpositionen sind in den so
geformten "Ikonen des Begehrens" enthalten? Der
Neoliberalismus erlaubt eine Enttraditionalisierung und
Flexibilisierung der Geschlechterund Sexualitätenordnung.
Zugleich verdinglicht und verwertet aber gerade diese
Identitätsvielfalt. Er erkennt sexuelles und
geschlechtliches Abweichlertum an, weil er es als produktive
Ressource ausbeuten kann. Der Abbau staatlicher
Solidarsysteme führt außerdem zu einer Reprivatisierung von
Reproduktionsarbeit und bürdet die Reproduktion damit wieder
den sozial Schwachen Frauen, Migrantinnen und Migranten,
Softies auf. Schließlich würde zu so einer Analyse aber auch
gehören, die Klassenwidersprüche innerhalb der lesbischen,
schwulen und transgender Communities, die sich mit der
wachsenden Kommerzialisierung der Szenen verstärken, zu
erkennen und zuzuspitzen.
Editorische
Anmerkungen
Wir spiegelten den Artikel von Indymedia.
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