Lotte in Nürnberg
Goethe und die Deutschen: Einem Thomas-Mann-Roman zum 70.

von
Antonín Dick

11/09

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Am 26. Oktober 1939, Wochen nach Entfesselung des Zweiten Weltkrieges durch Nazideutschland, beendete Thomas Mann im fernen Princeton seinen Roman »Lotte in Weimar«. In über zehn Ländern hatte der 1936 Ausgebürgerte daran gearbeitet; in Fernzügen, auf Fähren und Überseedampfern, in lärmenden Hotels und abgeschiedenen Villen.

»Lotte in Weimar« ist ein bürgerlicher Bildungsroman, aber ein von psychologischem Interieur gründlich entrümpelter. Als »intellektuelle Komödie« oder »Monographie in Dialogform« hat der Autor das Werk bezeichnet. Nicht die den Roman lose zusammenhaltende Story, die historisch belegte Begegnung der gealterten Werther-Lotte mit dem Dichterfürsten am Weimarer Hof, interessiert, sondern deren politischer Hintergrund, die antinapoleonischen Kriege. Mehr und mehr treten diese im Verlauf der Begegnung in den Vordergrund. Die Jahre 1813–15 spiegeln die Erfahrungen von
1932/33.

Als »präfaschistisch« geißelte der junge Literaturstudent Peter Hacks den deutschen Aufstand gegen Napoleon in einer Studie zu »Lotte in Weimar« – »das Gescheiteste, was je über diesen Roman geschrieben wurde«, quittierte Thomas Mann im Februar 1949 in einem Brief nach München. Die sogenannten Befreiungskriege begriff Mann mit Goethe als monströse Abwehrschlachten gegen notwendige politische Veränderungen, gegen Demokratie und Internationalismus. Sie führten über das Bismarcksche zum »Dritten Reich«.

»Bismarcks Reich hatte im Tiefsten nichts mit Demokratie und also auch nichts mit Nation im demokratischen Sinn dieses Wortes zu tun«, schrieb Mann unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs in seinem Essay »Deutschland und die Deutschen«. Das »Charakteristische und Bedrohliche« dieses »Machtgebildes« war »die Mischung von robuster Zeitgemäßheit, leistungsfähiger Fortgeschrittenheit und Vergangenheitstraum, der
hochtechnisierte Romantizismus. Durch Kriege entstanden, konnte das unheilige Deutsche Reich preußischer Nation immer nur ein Kriegsreich sein. Als solches hat es, ein Pfahl im Fleische der Welt, gelebt, und als solches geht es zugrunde.«

Was sollte nach Manns Ansicht folgen? Statt, wie im Roman beschrieben, »als Originalnation sich zu verstocken«, sollten die Deutschen »die Masse an Gutem, die in ihnen liegt, zum Heile der Nationen entwickeln«, d.h. sich endlich dazu aufraffen, nichts anderes sein zu wollen als Internationalisten.

Mit Diplomatenpost

Der Exilroman hat politische Geschichte geschrieben und schreibt sie noch immer.

Das »reichsfeindliche« Manuskript ging über Portugal mit Schweizer Diplomatenpost nach Stockholm und kam beim dorthin geflüchteten Bermann-Fischer Verlag noch 1939 als Buch heraus. Als literarischer Tarndruck in einfachen Schreibmaschinendurchschlägen zirkulierten alsbald Teile der Deutschlanddialoge im »Reich«, wo alle Werke Manns inzwischen verboten waren. Nazigegner hatten sie angefertigt und mit dem Titel »Goethes
Unterhaltungen mit Riemer« versehen.

1944 erschien »Lotte in Weimar« übersetzt im befreiten Frankreich. Die US-Streitkräfte stellten 1945 verbilligte Sonderdrucke zur Umerziehung deutscher Kriegsgefangener her. »Schon früh, gleich 1945«, weiß Thomas Mann mitzuteilen, »gab es in Weimar Vorträge über meine Bücher, besonders den Goethe-Roman, und hervorragende kommunistische Literatur-Historiker und Kritiker haben meiner Arbeit große Versuche gewidmet.«

1946 erschien das Exilwerk zum ersten Mal ungekürzt in Deutschland. Im selben Jahr wurde es Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen, als der britische Hauptankläger bei den Nürnberger Prozessen, Sir Hartley Shawcross, ein Goethe-Zitat in sein Schlußplädoyer einbaute, womit er den Nationaldichter gewissermaßen zum Mitankläger gegen die Hauptkriegsverbrecher machte. »Daß sie den Reiz der Wahrheit nicht kennen,
ist zu beklagen, daß ihnen Dunst und Rausch und all berserkerisches Unmaß so teuer, ist widerwärtig, daß sie sich jedem verzückten Schurken gläubig hingeben, der ihr Niedrigstes aufruft, sie in ihren Lastern bestärkt und sie lehrt, Nationalität als Isolierung und Roheit zu begreifen, ist miserabel.« So beendete Shawcross am 26. Juli 1946 sein Plädoyer, und fügte, auf Goethe gemünzt, an: »Mit welcher prophetischen Stimme hat er gesprochen.« Die Fundstelle des Zitates nannte er nicht. Eine Woche später wurde bekannt, daß das Zitat aus dem 7. Kapitel von »Lotte in Weimar« stammt. Es kam zu Verwicklungen. Mann verwies immer wieder, wenn auch vage, auf gesicherte Quellen, aber versteckte sich nicht hinter ihnen, sondern machte geltend, »daß Goethe alles, was er bei mir denkt und sagt, ganz gut wirklich hätte denken und sagen können«.

Die germanistische Forschung kam Jahre später zu dem Schluß, daß Mann wahrscheinlich eine Äußerung Goethes gegenüber Friedrich Müller vom 14. Dezember 1808 im Sinn gehabt hat, als er seinem Protagonisten die Passage in den Mund legte. Die verbürgte Äußerung lautet: »Deutschland ist nichts, aber jeder einzelne Deutsche ist viel, und doch bilden sich letztere gerade das umgekehrte ein, verpflanzt und zerstreut wie die Juden in alle Welt müssen die Deutschen werden, um die Masse des Guten ganz und zum Heile aller Nationen zu entwickeln, die in ihnen liegt.«

Nationalzeitung in Aufruhr

Bis in die 60er Jahre hinein waren rechtsgerichtete Kreise bestrebt, über Shawcross’ Zitatfehler die Nürnberger Prozesse und Thomas Mann zu verunglimpfen. So schrieb die Deutsche Nationalzeitung noch 1965 vom »erbärmlichen Betrug« und behauptete, »Mann fälschte Goethe in antideutschem Sinne«. Während sich diese Angriffe aus dem nationalkonservativen Lager im Aufbruch der 68er langsam verloren, reifte in der DDR zur Verteidigung des Autors ein bemerkenswertes Projekt, das die Öffentlichkeit in beiden
deutschen Staaten den Atem anhalten ließ: 1974 wurde dort »Lotte in Weimar« in der Regie von Egon Günther erstmals verfilmt, die Titelrolle übernahm die deutsch-jüdische Schauspielerin und Emigrantin Lilli Palmer.

Debatten um das vaterlandslose Buch flammten dann wieder auf, als die Mauer fiel und die Deutschen die Alliierten der Antihitlerkoalition mit einem eisernen Nationalstaatswillen konfrontierten. Gegenwärtig ringen im literaturwissenschaftlichen Diskurs »Deutsche« und »Anti-Deutsche« um das Buch. Der englische Diplomat Donald A. Prater, Teilnehmer am Befreiungskrieg gegen Nazideutschland, schließt seine Thomas-Mann-Biographie indirekt mit der kaum diskutierten Frage nach den verborgenen Intentionen dieses neuen alten Nationalstaats, der über keine geistig-politischen Deckungen durch Goethe oder Mann mehr verfügt, obschon der Brite – aus Höflichkeit? – dem erstaunen Leser genau das Gegenteil anzunehmen empfiehlt.
 

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten den Artikel vom Autor zur Veröffentlichung. Erstveröffentlicht wurde er unter: http://www.jungewelt.de