Die Kultur der Depression
Gespräch mit dem Psychologen Wolfram Pfreundschuh

11/09

trend
onlinezeitung

Emanuel Kapfinger: Am 2. November setzte der Focus Depression als Thema, was von vielen Medien aufgegriffen wurde. Als der depressive Sportler Robert Enke dann am letzten Sonntag Selbstmord beging, bewegte das die Massen: Es gab Sondersendungen im Fernsehen, Zeitungsartikel noch und noch, eine Trauerfeier mit zehntausenden Besuchern.

Wolfram Pfreundschuh: Ja, das ist ein Schock für viele, weil sie erschrecken, dass Leute, die bisher als Glücksträger galten, äußerst sympathisch, sozial engagiert und reich waren, davon befallen wurden. Ein „Ausnahmetorwart" außerdem, der so exzellent war, dass er eigentlich fehlerfrei zu sein schien. Und dann offenbart sich schlagartig ein dermaßen tiefer Abgrund, ein stilles und brutales Leiden, das vor der Öffentlichkeit versteckt werden musste, weil sonst von dort alles nur noch schlimmer würde. Es gab ja schon ein Jahr zuvor den Sportler Sebastian Deisler, der auch davon befallen war und ein Buch darüber schrieb.  

E.K.: Was ist an dem Thema, dass dies momentan solche Wellen schlagen kann? Es dreht sich ja offenbar nicht nur um den Selbstmord eines erfolgreichen Sportlers, da das Thema schon zuvor breit aufgegriffen war. 

W.P.: Anscheinend erkennen viele an diesem Thema auch einige Selbstwahrnehmungen, aber auch die Unmöglichkeit, dass auf hohem Leistungsniveau ehrlich mit eigenen Schwächen umgegangen werden kann. Depression war vielleicht im Vorurteil mit Armut verbunden. Außerdem assoziiert sich das Thema mit Untergangsstimmungen, die viele heute kennen. Und dann hat Depression auch enorm am Anteil der Krankschreibungen zugenommen – in den letzten 12 Jahren um 80 % (laut Focus). Sie ist also auch ein betriebswirtschaftliches Problem geworden. 

E.K.: Ist es nicht auch so, dass Depression für viele Menschen derzeit subjektiv ein Thema sein muss, wenn es massenmedial so erfolgreich ist? Betriebs- oder volkswirtschaftliche Kalkulationen dürften ja hier erstmal zu abstrakt sein.  

W.P.: Wahrscheinlich beziehen sich viele an diesen Beispielen darauf, dass Menschen, die hohe Leistungsmotivation haben und eigentlich in ihrer Tätigkeit voll aufgehen könnten, menschlich überfordert sind, dass ein ziemlich brutaler Schnitt zwischen öffentlicher Anerkennung und Bestätigung und dem persönlichen und oft nur noch heimlichen Selbsterleben verläuft. Jeder kennt das, dass er in eine öffentliche Beziehungswelt, z.B. in der Arbeit, bestens eingegliedert ist, und dennoch immer mehr für sich in Bedrängnis kommt – bis dahin, dass er sich selbst verliert. 

E.K.: Du scheinst Depression als die Manifestation eines Widerspruchs zwischen einer äußeren sozialen Befriedigung und einem Selbstsein zu beschreiben. Aber das erklärt immer noch nicht, weshalb dieser Widerspruch gerade jetzt entweder schärfer wird oder die Möglichkeiten, ihn zu verdecken und zusammenzuhalten, schwinden. 

W.P.: Ich verstehe Depression eher als einen aufgelösten, unkenntlich gewordenen Widerspruch, der zu einer Abtötung der eigenen Gefühle führt, weil sie ihren wirklichen Sinn verlieren, in einer Verschmelzung zergehen und deshalb keine Gegensätze mehr erkennen. Ihre Umwelt vermittelt ein übermächtiges Selbstgefühl, weil sie dem Schein nach vollständige Selbstbestätigung ist, gegen welche die eigenen Empfindungen verloren gehen und in einen Brunnen fallen, worin sie keinen Ausweg mehr finden, und nur noch nach irgendeiner Erlösung drängen können. Es ist der Wahrnehmungszustand einer sich selbst bedrängenden Identitätslosigkeit, die mit Angst und Panik einhergeht.
Dass ein solcher Zustand gerade jetzt so medienwirksam wird, hängt wohl damit zusammen, dass einerseits in Krisenzeiten subjektive Bedrohungsgefühle objektiv verstärkt werden, wodurch eine öffentliche Gleichschaltung der Wahrnehmungen entsteht und alle in dasselbe Boot wirtschaftlicher und politischer Notwendigkeiten versetzt werden, die aber nicht der unmittelbaren Wahrnehmung in den persönliche Verhältnissen entsprechen. Es entsteht eine unerklärliche Differenz zu einer politischen Grundstimmung, die irgendwie unheimlich ist. Sie erstrebt ein Heim, in welchem sich die Menschen in die Lebenswelt eines geborgenen und also auch verborgenen Lebens zurückziehen können. Dort aber tritt dann die Kehrseite der Lebensbergung, der Selbstisolierung, als Problem der Selbstwahrnehmung in totaler Weise auf. Geborgene Selbstwahrnehmung kehrt ihre Probleme nach innen, wird isoliert und wird selbst zur Lebenswelt. Dies führt zu Entleerung, Ödnis, Selbstverlust, was depressiv machen kann und wenn es sich der Empfindung entzieht auch schwere Depressionen auslöst.
 

E.K.: In welchem Sinne wären die Gefühle bei Nichtdepressiven denn im Widerspruch, und was führt zu der Symbiose der eigenen Gefühle mit ihrer Umwelt, von der du sprichst? 

W.P.: Depressionen sind z.B. seltener, wo man sie eigentlich erwartet: in Kriegszeiten, in Konfliktsituationen und auch bei Armut und sogar bei Arbeitslosen, wenn sie ihren sozialen Abstieg mental überwunden haben. Die Menschen stehen dann vor Ereignissen und Beziehungen, womit sie sich auseinandersetzen müssen, ihre eigenen Notwendigkeiten verfolgen und besorgen, und wo sie auch ein Gegenüber, etwas Äußeres haben. Bei einer Depression ist dies schon lange vor ihrem Ausbruch aus der Selbstwahrnehmung ausgegliedert, unbedeutend geworden. Sie entsteht sozusagen im Luxus einer Vergemeinschaftung, die keinen persönlichen Boden mehr hat oder nur scheinbar hat. Indem sich die Menschen aber dabei dennoch voll und ganz mit ihrer Umwelt identifizieren – z.B. ihrer Familie, ihrer Mannschaft, ihrem Verein, ihrer Belegschaft usw., – identifizieren sie sich „unter der Hand" mit etwas Vertrauten und zugleich fremd gewordenen und entwickeln in der Einverleibung fremder Gefühle, die sie als eigene erleben, eine subtile Selbstentfremdung. Sie identifizieren sich also mit einer Gemeinschaft, in der sich ihre eigenen Gefühle irgendwann gegen sie wenden, die sie aber erst mal nicht so empfinden, weil und solange sie ihnen vertraut sind. Ich fand es z.B. makaber, als die junge Witwe von Enke einen Tag nach seiner Selbsttötung sich vor die Presse  ziehen ließ und mitteilte, sie habe immer gehofft, dass ihre Liebe die Depression überwinden könnte. Das ist der Punkt: Eine dermaßen funktionalisierte Liebe ist ausweglos und verfinstert mehr, als sie eröffnen könnte. Es kommt mir so vor wie die Gefangenschaft in ein Liebesprinzip, in welchem sich die Menschen in Wahrheit umso fremder werden, je mehr sie sich aneinander festhalten, aufeinander bauen. 

E.K.: Wie sehen Verhältnisse oder Geschichten, in denen Depressionen entstehen, denn typischerweise aus? 

W.P.: Also womit ich in diesem Zusammenhang als Psychologe in den 70er und 80er Jahren zu tun hatte, waren sehr positiv wirkende Verhältnisse, in denen es an nichts fehlte, wo Anerkennung schon sicher war, bevor überhaupt etwas geäußert wurde, und alle Gefühle hohe "Beziehungswerte" hatten. Ich habe z.B. einmal eine 20jährige Frau betreut, die lebte wie eine Fee in Freundeskreisen, worin ihr die Liebe aller zufloss, weil sie der Inbegriff unschuldiger Offenherzigkeit zu sein schien, wo ihre Eltern, bei denen sie noch lebte, ihr alle Freiheiten ermöglichten, und ihre Kindlichkeit vergötterten und ihre Gefühlswelt auch nochmal in hochkarätiger Kunst an den Wänden hing. Sie war sehr schön und lebte in einer Art goldenem Käfig und von einer Selbstbestätigung ihrer Lebensfreude und Liebe. Alle liebten sie. Und sie hatte sich darin so verloren, dass sie sich plötzlich nur noch als tot empfand und kein Gefühl mehr zu irgendwas hatte – sie, das Gefühlskind schlechthin. Lediglich zu einem tief empfunden Hass auf ihr ganzes Leben war sie hie und da fähig. 

E.K.: Würdest du sagen, dass Depression speziell etwas zu tun hat mit Arbeitssituationen, z.B. Stress in der Arbeit, mit Demütigungen wie dem Verlust des Arbeitsplatzes oder einer nicht bestandenen Prüfung, oder mit der Angst einer Perspektivlosigkeit, was Beruf, Familie, soziales Niveau, Freundeskreis angeht? 

W.P.: Nee, das glaub ich nicht, dass das schon hinreichender Grund ist, obwohl Hoffnungslosigkeit die Stimmung niedermachen kann oder Aggressionen hervorruft. Aber das ist ja noch alles wirklich und in einem gegenständlichen Bezug. Die Depression als solche ist der Abriss eines Lebensfadens, die Zerstörung einer "Leichtigkeit des Seins", die natürlich auch mit Stress beginnen kann, weil Selbstisolation auch im Stress sich entwickelt. Aber es ist nicht die bloße Stressbelastung, sondern die Welt, die damit verbunden ist, die Identifikation mit Fremdem, die das Gefühl zu einem Fühlen verdoppelt, worin das Eigene als Fremdes mächtig wird, aber dies nicht empfindet, weil es dennoch vertrautes Leben birgt – z.B. mit der Arbeit, der Leistung, dem isolierten Glück usw. Ich denke, dass Depression der Endzustand einer höchst isolierten Liebe zu Menschen, Tätigkeiten, Räumen oder Lebenshaltungen ist, die ihre Substanz durch ihre verselbständigte Beziehung zerstört hat, die sich sprichwörtlich ins Nichts aufgelöst hat, ohne dass dies bemerkt wurde. Plötzlich erscheint alles tot. Und dem geht voraus, dass diese Liebe vor allem aus Selbstgefühlen bestand, die sich gesellschaftlich von vornherein abgesondert, zur Privatsache gemacht hatten, die sich mit gewöhnlicher Menschenliebe nicht mehr verbinden konnte. Ansonsten wäre die ja als Lebensfaden verblieben. 

E.K.: Könnte man die "Leichtigkeit des Seins" als ein Aufgehen in der "Spaßkultur" des Konsums und der Events verstehen?  

W.P.: Ja, da sehe ich einen Bezug. Die Event-Kultur produziert ständig Ereignisse, mit denen es was zu Erleben gibt. Aber sie zerteilt die Lebensbeziehungen auch in völlig isolierte Lebensmomente: Heute macht einen dies an, morgen jenes. Und alles ist für sich reizvoll. Wenn die Menschen miteinander so umgehen, leben sie nicht in einem Zusammenhang, indem sie das sind, was sie auch gegenständlich umsetzen, als ihr Anliegen betreiben usw. Auf der einen Seite haben sie eine Arbeitswelt, die für sie keinen Sinn hat, aber Geld verdienen lässt. Auf der anderen Seite überfordern sie sich in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen, worin ihre gegenständliche Wirklichkeit ausgeblendet ist. Die permanente Anmache kann eine Weile begeistern; aber sie entgeistigt auch ihre Fortentwicklung, entleert ihre Entfaltungsmöglichkeiten und verengt ihre Beziehungswelt, mal ganz abgesehen von den Konflikten, die nicht ausgetragen, sondern nur in Einzelschicksale der Selbstwahrnehmung verinnerlicht werden. In solcher Überforderung stirbt Leben, das in Wahrheit aus den Beziehungen besteht, die sich selbst durch ihre Ansprüche und Erlebensformen zertrümmern. Es ist der Isolationsprozess von Sinn. Das kann zu vielem führen: Zu Gleichgültigkeit, Selbstveredlung, Machtgier, um Beziehungen zu bestimmen und zu kontrollieren oder auch zu Depressionen, wenn die Beteiligten ihre "Entsinnlichung" nicht mehr wahrnehmen. 

E.K.: Was sind die gesellschaftlichen Bedingungen dafür, dass sich zwischenmenschliche Gefühle nur einseitig und privat gestalten, wie du es vorhin bei der Absonderung der Liebe von ihrer Gesellschaftlichkeit beschrieben hast? Kann man sagen, dass sich in diesen Bedingungen in der Geschichte etwas ändert? Depression ist ja erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer verbreiteten Krankheit geworden, und ist seitdem immer mehr zu einer "Volkskrankheit" geworden. 

W.P.: Ja, am deutlichsten war die Zunahme seit den 70ger Jahren und also zeitlich analog zur Entwicklung der Globalisierung. Die Geldverhältnisse wurden in dieser Zeit immer bedeutender und die gesellschaftliche Beziehung der Menschen immer effizienzbezogener. Geldbesitz selbst, der durch hocheffiziente Produkte gewährleistet wird, ist tückisch, weil er eine Welt unbegrenzter Möglichkeiten zu eröffnen scheint, die zugleich schlagartig zusammenstürzen kann, wenn Geld seinen Wert verliert. Dann wird auch eine ökonomische Depression leicht zu einer psychischen. Ähnlich ergeht es den Menschen, die in ihren Beziehungen auf jede mögliche Vereinnahmung von Leben lauern. Die Event-Kultur, welche hierbei aufkam, sollte Selbsterleben auf der Ebene der Aufreizung in schier unendlichen Möglichkeiten bieten, Spekulationen auf Glück, wie auf dem Aktienmarkt, die zugleich ebenso ungerichtete Selbstbestätigung jenseits der gesellschaftlichen Wirklichkeit verschafften. Das erscheint mir als ein wesentlicher Grund, warum die Menschen so isoliert voneinander sind und zugleich durch ihre ungerichtete Glücksversessenheit ihre Lebensbeziehungen belasten und damit den Sinn für deren Realität verlieren. In der isolierten Lebensbeziehung vergeht vor allem auch ein Gefühl für das eigene Menschsein, also so etwas, wie eine Selbstverantwortung in einem allgemeinen politischen Zusammenhang. Menschenliebe ist da völlig unangebracht. Aber sie ist die Grundlage für alle kulturell bedeutsamen Entwicklungen. Wenn ökonomische Krisen aufkommen entstehen daher auch in den gerade noch aufgeblähten Spaßwelten kulturelle Krisen. Die Spaßgesellschaft gab es auch in den 20ger Jahren vor dem Entstehen der Hitlerdiktatur. Die Rechten verstehen sich ja gerne als Kreuzritter gegen den Kulturzerfall und nutzen die Sehnsucht nach einer heilen Welt zu ihren Heilsverspechungen.  

E.K.: Isolierte Lebensbeziehung und Verlust eines Gefühls für das eigene Menschsein – das sind Stichworte, die an den Existentialismus etwa Heideggers oder Sartres erinnern, der auch sonst sehr affin zu dem Thema Depression scheint. Speist sich der Existentialismus aus einer Erfahrung der Depression, oder zumindest etwas Ähnlichem? 

W.P.: So rein philosophisch wird man da Zusammenhänge sehen können, weil solche Reflexionen sich mit dem Tod befassen, worin sich aber Heidegger und Sartre elementar unterscheiden. Heidegger begründet seine Philosophie gegen ein positives Lebensverständnis, das naiv sei und erklärt den hierauf gründenden Humanismus für antiquiert. Sein "Sein zum Tode" appelliert an die Erkenntnis der Endlichkeit, welche die Bedingung seiner Fundamentalontologie ist. Indem er seine unendlichen Seinsvorstellungen nur im Tod beschränkt sieht, stellt er sich positiv zur Einzelheit der Existenz, die er zugleich im allgemeinen Todesdrama auch allgemein verobjektiviert. Er spricht über Existenzialen, die von sich her schon objektiv einzeln sind und Reflexionen über Sinn und Liebe nicht zulassen. Damit spricht er den Menschen auch eine soziale Existenz und Verbundenheit ab. Er müsste die Depression als Versagen des Menschen gegen die Erkenntnis des Seins zum Tode auffassen, als Strafe für ein Vergehen an einer hochwertigen Lebenshaltung, weil er ohne solche Erkenntnis in die Finsternis des Nicht-Sein-Könnens verfällt.

Sartre nimmt die Erfahrung der Endlichkeit, also auch des Todes, als natürliches Grundelement der Selbstverantwortung, an welcher die Menschen schwer zu tragen haben, weil sie darin zur "Freiheit verdammt" sind. Ihm würde die Depression eher als ein existenzialer Konflikt gelten, der jeden Menschen zwischen Untergang und Freiheit seines Werdens erfasst. 

E.K.: In der Regel wird Depression ja anders erklärt, als du es hier tust – eher im Sinne von Sartres Existenzialismus. In seinem vielgelesenen Buch "La fatigue d'être soi", deutsch "Das erschöpfte Selbst", eigentlich "Erschöpfung des Selbstseins", von 1998 erklärt Alain Ehrenberg die Depression aus der Unzulänglichkeit gegenüber dem Erwartungsdruck der Gesellschaft, ein Selbst zu sein. Dies entspricht auch dem Erklärungsansatz des Mainstreams für die Depression. Für Ehrenberg ist es der Widerspruch der gesellschaftlichen Verpflichtung, ein hochwertiges Selbst auszubilden, ohne zu vorzugeben, wie ein solches Selbst beschaffen wäre, so dass sich das Selbst in seinem Bestreben, ein Selbstsein auszubilden, erschöpft. Kannst du solche existentialistische Erklärungsansätze auf Deine Theorie beziehen? Oder ist es einfach nur Quatsch? 

W.P.: Ich habe da einen entgegengesetzten Ansatz. Schon der Begriff Selbst ist – für sich genommen – Ideologie und gehört zu einer Gesellschaft, worin Selbstbezogenheit hohen Wert hat und also selbstverständlich sein soll. Einem ideologisch begründeten Erwartungsdruck kann man sich aber allein schon dadurch entgegensetzen, dass man dieser Selbstbezogenheit keinen Glauben schenkt, solche Ideologie kritisiert und schon dadurch überwindet, dass man sich gesellschaftlich auf andere Menschen bezieht. Das ist zwar auch für einige Menschen möglich, besonders am Rand der Gesellschaft. Ich meine dagegen, dass es für den Großteil der Menschen in einer Dienstleistungsgesellschaft, worin die Kultur des Kapitals gepflegt wird, um existenzielle Probleme geht, worin Selbstbezogenheit zwischenmenschliche Realitäten schafft, welche die Menschen wirklich in Lebensräume treibt, die aus ihren Selbstwahrnehmungen entstehen und daher ästhetische Grundlagen haben, zugleich aber auch Lebenswirklichkeiten erzeugen. Depression ist nach meiner Auffassung – jetzt ästhetisch expliziert – eine Gefühlsverdopplung, also keine Erschöpfung durch Erwartungen, sondern eine Verstärkung ohnmächtiger Gefühle inmitten einer reichen Welt, worin Erschöpfung nicht nötig wäre. Menschen werden durch ihre zwischenmenschlichen Beziehungen, in denen sie sich durchaus geborgen und ohne Druck erleben, durch ihre Gefühle, die ihnen entäußert wurden, selbst eingesperrt. Sie verfangen sich im Käfig ihrer Innenwelt, weil sie durch ihre Geborgenheit keine Außenwelt mehr erkennen können. 

E.K.: Nun ist Depression nicht nur ein einfaches Niedergedrücktsein. Depressive Menschen sind tatsächlich auf gewisse Weise als Lebende tot, dass sie, wie du es vorhin beschrieben hast, in einem tiefen, dunklen Brunnen sitzen, aus dem kein Entrinnen ist. Viele von ihnen leiden jahrelang, immer wieder. Manche sind so verzweifelt, dass sie sich selbst töten müssen wie Robert Enke. Wie entsteht die Notwendigkeit der Selbsttötung aus der Depression? 

W.P.: Es ist der Brunnen selbst, die letzte Entscheidung, einem ausweglosen, also ewigen Rumrühren und Schwimmen zu entkommen. Umgekehrt ist der Brunnen von außen manchmal überraschend leicht zu überwinden. Die ästhetische Falle, die da zugeschnappt ist, kann durch Aufgabe des ihr entsprechenden Lebensraums oder durch Kritik und Entsagungen der Einverleibung einer symbiotischen Bezogenheit geöffnet werden. Auch durch die Auflösung der inneren Kreisläufe, die sich im Selbstlähmungsprozess auch körperlich abspielen, lässt sich oft sehr viel verändern. In diesen Kreisläufen verfängt sich eben nicht einfach eine "Erschöpfung", sondern auch eine Erregung, die alleine aus der Verdopplung der Gefühle, also ihre Identifizierung mit Fremdgefühlen, entsteht und die Wahrnehmung bedrängt. 

E.K.: Wie sieht denn eine solche Therapie praktisch, also weniger theoretisch formuliert, aus? Können dabei Antidepressiva helfen? 

W.P.: Ich bin kein Arzt und will mich auch nicht als letztendlicher Ratgeber und Therapeut ausstellen. Es gibt keine einfach funktionalen praktischen Mitteln und keine allgemeine Bestimmung einer Therapie, welche die Depression einfach so "heilen" kann, wie eine Aspirin gegen den Kopfschmerz. Falls die innere Erregung der Lähmung vorherrscht und Schlafstörungen und Hyperventilation oder anderes im Vordergrund sind, muss man da auch somatische Hilfe einbeziehen, z.B. mit Johanniskraut, das es heute schon in hoher Konzentration gibt. Antidepressiva wirken oft auch fatal und unkalkulierbar und greifen auch tief, also auch selbst als Blockade, welche ihre Indikation in Frage stellt. Ich habe immer versucht, weitgehend kommunikativ zu arbeiten und den Gefangenen der isolierten Gefühle zur Flucht zu verhelfen, indem ich mit ihnen spazieren gegangen bin, andere Wahrnehmungen geteilt und besprochen habe und dabei auch selbst viel erfahren und von ihnen gelernt habe. Das war eine Gegenseitigkeit, die irgendwie gut getan hat, sofern sie authentisch war, und doch fremde Menschen in Beziehung brachte, so dass ein durch andere Bezogenheiten erneuertes Leben zur Wirkung kam. Aber immer ist das nicht herstellbar und "funktioniert" in dem Sinn auch nicht so einfach. Für das Leben gibt es keine Garantie; es verlangt Kraft und glückliche Umstände, um aus dem Brunnen herauszufinden. Meist ist dieser glücklicherweise noch nicht ganz zu und lässt neue Beziehungen offen. Bedingung ist, dass Authentizität nicht als Mittel der Therapie eingesetzt wird. Das ist ein Widersinn in sich, der sich schnell ergeben kann. Ich meine daher, dass ein Psychologe wie jeder Mensch auf Dauer von einer solchen Beziehung überfordert ist und irgendwann zu den klassischen Mitteln greift oder die Psychiatrie zu Hilfe ruft, weil er zwangsläufig durch Gewöhnung seine Authentizität verliert. Ich habe aus diesem Grund mit der Psychologie nach 6 Jahren aufgehört. Auch Psychologinnen und Psychologen sollten wissen, dass sie das nicht ein Leben lang bleiben müssen, was sie sind.

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten den Artikel vom Autor zur Veröffentlichung.

Wolfram Pfreundschuh studierte Psychologie und Philosophie und war langjährig in der antipsychiatrischen Bewegung aktiv. Veröffentlichungen zu den Themen: „Kritik der politischen Ästhetik" und „kritische Theorie bürgerlicher Subjektivität".

Er betreibt die Website www.kulturkritik.net  und arbeitet gegenwärtig an dem Buch  „Die Kultur des Kapitals", das Ende des Jahres erscheinen soll.