Ho Tschi Minh statt Hitzefrei
Anarchismus der Siebzigerjahre
von Peter Nowak

11/09

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Die anarchistische Publikation Graswurzelrevolution wird wegen des Namens oft mit Umweltschutz in Verbindung gebracht. Dabei bezieht sich der Name auf die Bewegung von unten, die im englischsprachigen Raum grasroot-movement genannt werden. In dieser Tradition sieht sich die Graswurzelrevolution, die in diesem Jahr ihren 35 Geburtstag feiert. Grund genug für die Herausgeber, mit einem Buch an die Geschichte der Zeitschrift zu erinnern. Im Zentrum steht ein ausführliches Interview mit Johann Bauer, der die Graswurzelrevolution seit der Gründung unterstützt hat. In dem Gespräch skizziert er die kulturrevolutionären Wurzeln der 68er Revolte. Dabei ging es um die Haarlänge, die Entscheidung zur Kriegsdienstverweigerung, sowie um den Musikgeschmack. An Hand dieser Fragen wurden im Elternhaus, der Schule und in der Ausbildung die individuellen Konflikte ausgetragen, die in der Großgeschichte über die 68er Bewegung heute kaum erwähnt wird. Sie trugen zur Politisierung bei, was Bauer an einer Episode aus seiner Realschulzeit deutlich macht.

„Als ich 1967 in der Realschule war, wir mussten uns noch nach jeder Pause nach Klassen aufgeteilt in Zweierreihen aufstellen, um dann geordnet, ohne zu laufen,
rechts gehend, schweigsam … die Treppe hochzusteigen, war ein ziemlich heißer Tag und es gab einige verhaltene Stimmen: hitzefrei! Und plötzlich begann jemand zu rufen Ho, Ho, Ho Chi Minh, der ganze Schulhof bis zu den GrundschülerInnen stimmte ein.“
Bauer beschreibt auch die repressive Stimmung jener Jahre Ende der 60er Jahre in Westdeutschland, als die ersten Greenpeace-Aktivisten als Hippies verschrien waren und Jugendliche, die sich für eine Anerkennung der DDR einsetzen, als rote Zelle diffamiert wurden und sich nicht mehr im Pfarrhaus treffen durften.

Zwischen allen Stühlen

Bauer beschreibt auch sehr anschaulich die Zeit, als sich die Apo in verschiedene politische Strömungen aufspaltete. Er war Teil jener undogmatischen Linken, die sich in den 70er Jahren sowohl von den verschiedenen maoistischen als auch gegen die reformistischen Gruppen abgrenzte. Die Auseinandersetzungen wurden mit großer verbaler Härte und gelegentlich auch handgreiflich geführt. Oft saßen die Graswurzelrevolutionäre zwischen allen Stühlen, beispielsweise am 19. Februar 1977, als gegen das Atomkraftwerk Brokdorf mobilisiert wurde. Während die Reformlinken nach Itzehoe fuhren, riefen die verschiedenen Gruppen, die sich zur radikalen Linken zählten, zur Besetzung der AKW-Baustelle auf. Die Graswurzler sahen weder in einer Schlacht mit der Polizei noch in einem Happening einige Kilometer entfernt einen Sinn und mobilisierte zur Bauplatzbesetzung des AKW Grohnde. Die verbalen Beschimpfungen jener Jahre hat Bauer noch nicht verwunden, wie er an mehreren Stellen in dem Interview betonte.

Das andere 1977

Auch in der Auseinandersetzung mit der RAF saßen die Graswurzler schnell zwischen allen Stühlen. Sie verweigerten sich dem staatlichen Distanzierungsdruck, kritisierten als gewaltfreie Anarchisten aber auch die Politik der Stadtguerilla. Aus den Dokumenten, die den zweiten Teil des Buches ausmachen, bekommt man einem guten Einblick in die Debatten jener Jahre. Die „Feldzüge für ein sauberes Deutschland“, der als Grundsatztext der gewaltfrei-anarchistischen Strömung gelten kann, wird Bezug auf Leo Tolstoi und den nach der Niederschlagung der bayerischen Räterepublik ermordeten anarchistischen Literaten Gustav Landauer genommen. Sie legten großen Wert auf die Übereinstimmung von politischen Zielen und den dafür eingesetzten Mitteln. Ein großer Teil des Textes handelt von der zunehmenden staatlichen Repression gegen alle Linken, die sich eine grundsätzliche Kritik an Staat und Nation nicht verbieten lassen wollten. Sie wurden von konservativen Politikern und Medien zu Sympathisanten des Terrors gestempelt. Das bekannteste Beispiel ist der sogenannte Buback-Aufruf, in dem ein Anonymus der undogmatischen Linken das Attentat der RAF auf den Generalbundesanwalt kritisiert, aber auch seine „klammheimliche Freude“ nicht verhehlen wollte. In der Folge wurden zahlreiche linke Wohngemeinschaften, Druckereien und Asten durchsucht. Der Hannoveraner Psychologieprofessor Peter Brücker, der den Aufruf nachdrucken ließ und sich davon auch nicht distanzieren wollte, bekam Berufsverbot. Selbst wissenschaftliche Ansätze, die eine strukturelle Gewalt in den Staatsapparaten analysierten, gerieten in den Ruf, die RAF zu verteidigen.

Das Buch liefert mit dem Interview und den Dokumenten wichtige Bausteine für eine andere Geschichtsschreibung, die in den Megadebatten über die 68er kaum erwähnt wurden. Allerdings darf auch nicht übersehen werden, dass ein Großteil dieses undogmatischen Spektrums Ende der 70er Jahre bei den grünen und alternativen Parteigründungsprozessen gelandet. Die Graswurzelrevolution ist diesen Weg nie mitgegangen, aber ideologische Überschneidungen bestehen auf jeden Fall. Daher wäre ein etwas selbstkritischerer Rückblick vorteilhaft gewesen.
 

Johann Bauer
Ein weltweiter Aufbruch!

Gespräch über den gewaltfreien Anarchismus der Siebzigerjahre.
Mit Grundsatztexten u.a. zur Kritik der RAF und zur Göttinger
»Mescalero«-Affäre


119 Seiten, 7 Abb., 12,00 Euro
ISBN 978-3-939045-12-0
Verlag: Graswurzelrevolution e.V.