Es ist noch Dampf
unter dem Kessel, auch wenn die Gewerkschaftsführungen eifrig
bemüht sind, ihn herauszulassen. Jedenfalls sind nicht alle
Teilnehmer/innen am jüngsten Sozialprotest gegen die unmittelbar
vor ihrer Einführung stehende Renten,reform’ in Frankreich
bereit, einfach zur Tagesordnung überzugehen. Der Politologe
Philippe Corcuffe spricht deswegen von der Aussicht auf eine
„länger anhaltende, gewaltlose, soziale Guerilla“.
Diesen Willen vieler Einwohner/innen
Frankreichs, trotz definitiver Verabschiedung des Gesetzes zur
Renten,reform’ im Parlament (seit dem 27. Oktober) nicht einfach
die Hände in den Schoss zu legen, belegen mehrere jüngste
Ereignisse. Sowohl die die Teilnahme an den jüngsten
Demonstrationen zum gewerkschaftlichen „Aktionstag“ - gegen die
Renten,reform’ - vom Samstag, den o6. November als auch die
Konflikte innerhalb der CGT und die Ergebnisse des
Zusammentreffens von acht Gewerkschaftsbünden und
-zusammenschlüssen am gestrigen Montag Abend.
In über der Hälfte Frankreichs fiel strömender nasskalter Regen,
als am vergangenen Samstag abermals Hunderttausende
DemonstrantInnen gegen die Renten,reform’ auf die Straβe gingen.
Frankreichweit betrug die Beteiligung mutmaβlich rund 600.000
bis 700.000 (denn die Polizei sprach im Anschluss von „375.000“
Demonstrierenden, und die CGT von „1,2 Millionen“). In Paris -
wo Dauerregen herrschte - betrug die Beteiligung laut Angaben
der Polizei 28.000 ; was insofern bemerkenswert ist, als ihren
Angaben zufolge gegenüber dem letzten Aktionstag zuvor - am 28.
Oktober - nur ein leichter Rückgang um weniger als zehn Prozent
zu verzeichnen gewesen wäre. (Damals hatten die Behörden die
Teilnehmerzahl mit 31.000 angegeben.) Die CGT sprach ihrerseits
von 90.000 Demonstrierenden, was immerhin einem Rückgang um die
Hälfte, von zuvor 180.000, entsprechen würde. In Wirklichkeit
lag die Teilnehmer/innen/zahl in der Hauptstadt wohl bei 40.000
bis 45.000, nach wie vor finden die Protestzüge auf zwei
parallelen Routen gleichzeitig statt. Der Rückgang gegenüber dem
28. Oktober dürfte in Paris bei rund einem Drittel liegen.
Es brauchte schon einiges an Motivation, um an einem
Wochenendtag bei äuβerst unangenehmen Wetterbedingungen, tiefen
Temperaturen und hoher Feuchtigkeit, auch am 8. Aktionstag in
Folge (seit Anfang September, bzw. am zehnten seit Ende Mai d.J.
gegen die Renten,reform’) erneut auf die Straβe zu gehen. Zumal
die potenziellen Teilnehmer/innen auf allen Radiokanälen vorab
darüber belehrt wurden, dass dies doch jetzt sinnlos sei - nach
dem Motto: ,Was wollt Ihr denn noch, die Reform ist doch
verabschiedet?’ -, und selbst ein wachsender Teil der
Gewerkschaften von einer Teilnahme durch die Blume faktisch eher
abriet. Am Samstag früh sprach etwa auf ,Radio Franc Info’ eine
CGT-Gewerkschafterin darüber, dass es nunmehr darum gehen müsse,
in den Betrieben für Löhne & Arbeitsplätze zu kämpfen - also den
normalen Job einer Gewerkschaft zu erledigen, wodurch sie den
Kampf gegen die Renten,reform’ faktisch bereits ad acta zu legen
schien. Gleichzeitig herrscht allerdings auch innerhalb der CGT
noch ein erheblicher Druck dahingehend, nicht einfach (unter de
facto vollzogener Akzeptanz der ,Reform’) zur Tagesordnung
überzugehen. So erklärte die CGT-Spitze noch am Vortag - dem
Freitag voriger Woche -, sie trete für einen neuen „Aktionstag“
Ende November ein, notfalls auch im Alleingang ohne andere
Gewerkschaften oder „zusammen mit denen, die wollen“. Innerhalb
der CGT herrschen bedeutende Spannungen zum Thema und zur
Strategie des weiteren Vorgehens.
Obwohl das „Reform“gesetz voraussichtlich rund um den 15.
November durch Präsident Nicolas Sarkozy unterzeichnet werden
wird, also Ende November bereits in Kraft getreten sein wird,
soll nun tatsächlich auch in der zweiten Novemberhälfte noch ein
weiterer „Aktionstag“ stattfinden. Ihn legte das gemeinsame
Arbeitstreffen der verschiedenen Gewerkschaftsdachverbände und
-zusammenschlüsse (,Intersyndicale’), das gestern Abend am Sitz
der CGT im Pariser Vorort Montreuil zusammentrat, auf den
Dienstag, 23. November. Diese Datumswahl entspricht vorab
durchgesickerten Informationen und dadurch bestehenden
Erwartungen.
Allerdings kochte die ,Intersyndicale’ den Charakter der
„Aktionen“ an jenem Tag herunter. Es soll demnach erklärtermaβen
keine „nationalen Demonstrationen“ mehr geben - wobei in
Wirklichkeit schon die bisherigen keine solchen waren, sondern
nur parallel zueinander stattfindende regionale und lokale
Demonstrationen. („Nationale“, also frankreichweit zentrale
Demonstrationen sind bei den Gewerkschaftsführungen unbeliebt,
denn wenn dabei zwei Millionen oder mehr Protestierende
zusammenkamen, entsteht daraus leicht eine Dynamik, die ihnen
aus dem Ruder zu laufen droht. Die letzte frankreichweit
zentrale Demo fand am 25. 05. 2003 gegen die nunmehr vorletzte
Renten,reform’ statt, mit rund einer Million Teilnehmer/inne/n.
Es war das wohl einzige Mal, dass die CGT bei den Zahlenangaben
nach unten statt nach oben hin log: Ihre Behauptung, es hätten
damals 750.000 Leute demonstriert, war jedenfalls - was selten
vorkommt - klar unter- statt übertrieben. Im Zusammenhang mit
der jüngsten Sozialprotestbewegung hatten linke
Gewerkschafter/innen im Laufe des Oktober 10 dafür plädiert,
eine zentrale Demonstration frankreichweit zu organisieren, um
der Bewegung neuen Schwung zu verleihen, waren aber nicht erhört
worden.)
Auch regionale Demonstrationen, wie in den letzten zwei Monaten,
soll es aber am 23. November eher nicht geben. Stattdessen
sollen vollkommen lokale Aktionen stattfinden, mal nur innerhalb
der Betriebe, mal in Form von Kundgebungen vor Präfekturen
(Bezirksbehörden), mal auch Demonstrationen. Über ihren
Charakter soll nun „örtlich entschieden werden“. Dadurch wird
der Protestdynamik am 23. 11. wohl teilweise die Luft
herausgelassen. Das Nähere wird zu beobachten bleiben.
Drei von insgesamt acht Gewerkschaftsbünden und
-zusammenschlüssen haben dieses Mal die gemeinsame Erklärung
nicht unterschrieben. Die eher rechten, kleineren
Gewerkschaftsdachverbände CFTC (Christenheinis) und CGC (höhere
und leitende Angestellte) scherten aus, weil sie gar keine
weiteren, auch nur halbwegs „kämpferisch“ erscheinen Aktionen
mehr mittragen möchten. Aus ihrer Sicht hat sich der
Sozialprotest im Zusammenhang mit der Renten,reform’ nun
definitiv erledigt. Und der Dachverband FO (populistisch-schillernd)
übt sich, einmal mehr, in verbalradikalem Alleingang.
Hingegen wagte es die CFDT nicht, auszuscheren, obwohl auch ihr
Apparat klar dafür ist, allmählich einen Schluss der Proteste
einzuläuten. Am Samstag, den o6. November zitierten
Nachrichtenagenturen ihren Generalsekretär François Chérèque mit
den Worten, man werde nun „allmählich zu anderen Themen (als der
Renten,reform’) übergehen“. Auch hatte die Homepage der CFDT
gleichzeitig einen von ihm unterzeichneten Text veröffentlicht,
in welchem dazu aufgerufen wird, nunmehr sich „in Betrieben für
Beschäftigung von Jugendlichen und Senioren“ einzusetzen - also
auf jene Ersatzschauplätze (anstatt des Kampfs gegen die
Anhebung des Renteneintrittsalters) auszuweichen, auf die sich
Chérèque und Arbeitgeberpräsidentin Laurence Parisot in einem
Fernsehauftritt am 25. Oktober faktisch zu einigen schienen.
Doch die CFDT wagt es derzeit nicht, offen und explizit aus der
Protestfront auszuscheiden, da sie fürchtet, wieder einen hohen
Preis zu zahlen - wie nach ihrem offenen Überlaufen auf die
Gegenseite anlässlich der vorletzten Renten,reform’, am 15. Mai
2003. Diese Positionierung hatte sie Zehntausende von Austritte
von Mitgliedern gekostet, Schätzungen zufolge mindestens zehn
Prozent von insgesamt rund 600.000 eingeschriebenen
Verbandsmitgliedern.
Streik der Pariser Müllabfuhr eingestellt
Unterdessen hat die Pariser Müllabfuhr am gestrigen Montag ihren
Streik nach zwanzig Tagen Dauer ein. Auch die gröβte
Müllverbrennungsanlage Europas, in Ivry-sur-Seine am Südrand von
Paris, wurde am gestrigen Tage „entblockiert“. Zuvor hatte das -
sozialdemokratisch geführte - Pariser Rathaus ihnen das
Zugeständnis gemacht, eine stärkere Lohnerhöhung in der letzten
Phase ihres Berufslebens (durch Einführung einer neuen
Beförderungsstufe ganz am Ende der beruflichen Laufbahn)
vorzunehmen. Dies wird einen erheblichen Einfluss auf ihre
Rentenhöhe haben, da Letztere für öffentlich Bedienstete in
Bezug auf das Gehalt der letzten sechs Monate vor dem
Renteneintritt kalkuliert wird - für Privatbeschäftigten
hingegen unter Bezugnahme auf die 25 „besten Verdienstjahre“.
Insofern konnten die Betreffenden immerhin einen nicht
unwichtigen Erfolg für ihre Branche verbuchen.
Editorische Anmerkungen
Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.
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