Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Konflikt um die Renten,reform’
Noch ist auch weiterhin „Dampf unter dem Kessel“ - Aktionstag der Gewerkschaften am vergangenen Samstag, ein weiterer ist für den 23. November angesetzt
 

11/10

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Es ist noch Dampf unter dem Kessel, auch wenn die Gewerkschaftsführungen eifrig bemüht sind, ihn herauszulassen. Jedenfalls sind nicht alle Teilnehmer/innen am jüngsten Sozialprotest gegen die unmittelbar vor ihrer Einführung stehende Renten,reform’ in Frankreich bereit, einfach zur Tagesordnung überzugehen. Der Politologe Philippe Corcuffe spricht deswegen von der Aussicht auf eine „länger anhaltende, gewaltlose, soziale Guerilla“.

Diesen Willen vieler Einwohner/innen Frankreichs, trotz definitiver Verabschiedung des Gesetzes zur Renten,reform’ im Parlament (seit dem 27. Oktober) nicht einfach die Hände in den Schoss zu legen, belegen mehrere jüngste Ereignisse. Sowohl die die Teilnahme an den jüngsten Demonstrationen zum gewerkschaftlichen „Aktionstag“ - gegen die Renten,reform’ - vom Samstag, den o6. November als auch die Konflikte innerhalb der CGT und die Ergebnisse des Zusammentreffens von acht Gewerkschaftsbünden und -zusammenschlüssen am gestrigen Montag Abend.

In über der Hälfte Frankreichs fiel strömender nasskalter Regen, als am vergangenen Samstag abermals Hunderttausende DemonstrantInnen gegen die Renten,reform’ auf die Straβe gingen. Frankreichweit betrug die Beteiligung mutmaβlich rund 600.000 bis 700.000 (denn die Polizei sprach im Anschluss von „375.000“ Demonstrierenden, und die CGT von „1,2 Millionen“). In Paris - wo Dauerregen herrschte - betrug die Beteiligung laut Angaben der Polizei 28.000 ; was insofern bemerkenswert ist, als ihren Angaben zufolge gegenüber dem letzten Aktionstag zuvor - am 28. Oktober - nur ein leichter Rückgang um weniger als zehn Prozent zu verzeichnen gewesen wäre. (Damals hatten die Behörden die Teilnehmerzahl mit 31.000 angegeben.) Die CGT sprach ihrerseits von 90.000 Demonstrierenden, was immerhin einem Rückgang um die Hälfte, von zuvor 180.000, entsprechen würde. In Wirklichkeit lag die Teilnehmer/innen/zahl in der Hauptstadt wohl bei 40.000 bis 45.000, nach wie vor finden die Protestzüge auf zwei parallelen Routen gleichzeitig statt. Der Rückgang gegenüber dem 28. Oktober dürfte in Paris bei rund einem Drittel liegen.

Es brauchte schon einiges an Motivation, um an einem Wochenendtag bei äuβerst unangenehmen Wetterbedingungen, tiefen Temperaturen und hoher Feuchtigkeit, auch am 8. Aktionstag in Folge (seit Anfang September, bzw. am zehnten seit Ende Mai d.J. gegen die Renten,reform’) erneut auf die Straβe zu gehen. Zumal die potenziellen Teilnehmer/innen auf allen Radiokanälen vorab darüber belehrt wurden, dass dies doch jetzt sinnlos sei - nach dem Motto: ,Was wollt Ihr denn noch, die Reform ist doch verabschiedet?’ -, und selbst ein wachsender Teil der Gewerkschaften von einer Teilnahme durch die Blume faktisch eher abriet. Am Samstag früh sprach etwa auf ,Radio Franc Info’ eine CGT-Gewerkschafterin darüber, dass es nunmehr darum gehen müsse, in den Betrieben für Löhne & Arbeitsplätze zu kämpfen - also den normalen Job einer Gewerkschaft zu erledigen, wodurch sie den Kampf gegen die Renten,reform’ faktisch bereits ad acta zu legen schien. Gleichzeitig herrscht allerdings auch innerhalb der CGT noch ein erheblicher Druck dahingehend, nicht einfach (unter de facto vollzogener Akzeptanz der ,Reform’) zur Tagesordnung überzugehen. So erklärte die CGT-Spitze noch am Vortag - dem Freitag voriger Woche -, sie trete für einen neuen „Aktionstag“ Ende November ein, notfalls auch im Alleingang ohne andere Gewerkschaften oder „zusammen mit denen, die wollen“. Innerhalb der CGT herrschen bedeutende Spannungen zum Thema und zur Strategie des weiteren Vorgehens.

Obwohl das „Reform“gesetz voraussichtlich rund um den 15. November durch Präsident Nicolas Sarkozy unterzeichnet werden wird, also Ende November bereits in Kraft getreten sein wird, soll nun tatsächlich auch in der zweiten Novemberhälfte noch ein weiterer „Aktionstag“ stattfinden. Ihn legte das gemeinsame Arbeitstreffen der verschiedenen Gewerkschaftsdachverbände und -zusammenschlüsse (,Intersyndicale’), das gestern Abend am Sitz der CGT im Pariser Vorort Montreuil zusammentrat, auf den Dienstag, 23. November. Diese Datumswahl entspricht vorab durchgesickerten Informationen und dadurch bestehenden Erwartungen.

Allerdings kochte die ,Intersyndicale’ den Charakter der „Aktionen“ an jenem Tag herunter. Es soll demnach erklärtermaβen keine „nationalen Demonstrationen“ mehr geben - wobei in Wirklichkeit schon die bisherigen keine solchen waren, sondern nur parallel zueinander stattfindende regionale und lokale Demonstrationen. („Nationale“, also frankreichweit zentrale Demonstrationen sind bei den Gewerkschaftsführungen unbeliebt, denn wenn dabei zwei Millionen oder mehr Protestierende zusammenkamen, entsteht daraus leicht eine Dynamik, die ihnen aus dem Ruder zu laufen droht. Die letzte frankreichweit zentrale Demo fand am 25. 05. 2003 gegen die nunmehr vorletzte Renten,reform’ statt, mit rund einer Million Teilnehmer/inne/n. Es war das wohl einzige Mal, dass die CGT bei den Zahlenangaben nach unten statt nach oben hin log: Ihre Behauptung, es hätten damals 750.000 Leute demonstriert, war jedenfalls - was selten vorkommt - klar unter- statt übertrieben. Im Zusammenhang mit der jüngsten Sozialprotestbewegung hatten linke Gewerkschafter/innen im Laufe des Oktober 10 dafür plädiert, eine zentrale Demonstration frankreichweit zu organisieren, um der Bewegung neuen Schwung zu verleihen, waren aber nicht erhört worden.)

Auch regionale Demonstrationen, wie in den letzten zwei Monaten, soll es aber am 23. November eher nicht geben. Stattdessen sollen vollkommen lokale Aktionen stattfinden, mal nur innerhalb der Betriebe, mal in Form von Kundgebungen vor Präfekturen (Bezirksbehörden), mal auch Demonstrationen. Über ihren Charakter soll nun „örtlich entschieden werden“. Dadurch wird der Protestdynamik am 23. 11. wohl teilweise die Luft herausgelassen. Das Nähere wird zu beobachten bleiben.

Drei von insgesamt acht Gewerkschaftsbünden und -zusammenschlüssen haben dieses Mal die gemeinsame Erklärung nicht unterschrieben. Die eher rechten, kleineren Gewerkschaftsdachverbände CFTC (Christenheinis) und CGC (höhere und leitende Angestellte) scherten aus, weil sie gar keine weiteren, auch nur halbwegs „kämpferisch“ erscheinen Aktionen mehr mittragen möchten. Aus ihrer Sicht hat sich der Sozialprotest im Zusammenhang mit der Renten,reform’ nun definitiv erledigt. Und der Dachverband FO (populistisch-schillernd) übt sich, einmal mehr, in verbalradikalem Alleingang.

Hingegen wagte es die CFDT nicht, auszuscheren, obwohl auch ihr Apparat klar dafür ist, allmählich einen Schluss der Proteste einzuläuten. Am Samstag, den o6. November zitierten Nachrichtenagenturen ihren Generalsekretär François Chérèque mit den Worten, man werde nun „allmählich zu anderen Themen (als der Renten,reform’) übergehen“. Auch hatte die Homepage der CFDT gleichzeitig einen von ihm unterzeichneten Text veröffentlicht, in welchem dazu aufgerufen wird, nunmehr sich „in Betrieben für Beschäftigung von Jugendlichen und Senioren“ einzusetzen - also auf jene Ersatzschauplätze (anstatt des Kampfs gegen die Anhebung des Renteneintrittsalters) auszuweichen, auf die sich Chérèque und Arbeitgeberpräsidentin Laurence Parisot in einem Fernsehauftritt am 25. Oktober faktisch zu einigen schienen. Doch die CFDT wagt es derzeit nicht, offen und explizit aus der Protestfront auszuscheiden, da sie fürchtet, wieder einen hohen Preis zu zahlen - wie nach ihrem offenen Überlaufen auf die Gegenseite anlässlich der vorletzten Renten,reform’, am 15. Mai 2003. Diese Positionierung hatte sie Zehntausende von Austritte von Mitgliedern gekostet, Schätzungen zufolge mindestens zehn Prozent von insgesamt rund 600.000 eingeschriebenen Verbandsmitgliedern.

Streik der Pariser Müllabfuhr eingestellt

Unterdessen hat die Pariser Müllabfuhr am gestrigen Montag ihren Streik nach zwanzig Tagen Dauer ein. Auch die gröβte Müllverbrennungsanlage Europas, in Ivry-sur-Seine am Südrand von Paris, wurde am gestrigen Tage „entblockiert“. Zuvor hatte das - sozialdemokratisch geführte - Pariser Rathaus ihnen das Zugeständnis gemacht, eine stärkere Lohnerhöhung in der letzten Phase ihres Berufslebens (durch Einführung einer neuen Beförderungsstufe ganz am Ende der beruflichen Laufbahn) vorzunehmen. Dies wird einen erheblichen Einfluss auf ihre Rentenhöhe haben, da Letztere für öffentlich Bedienstete in Bezug auf das Gehalt der letzten sechs Monate vor dem Renteneintritt kalkuliert wird - für Privatbeschäftigten hingegen unter Bezugnahme auf die 25 „besten Verdienstjahre“. Insofern konnten die Betreffenden immerhin einen nicht unwichtigen Erfolg für ihre Branche verbuchen.
 

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe
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