Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Renten„reform“ in Frankreich: Eldorado für das Privatkapital im Ausblick

11/10

trend
onlinezeitung

Oppositionelle Aktionen gehen weiter, aber auf stark vermindertem Niveau. Unterdessen zeichnet sich ab, wie das Kapital sich - infolge der „Reform“ - aus dem „Rentenmarkt“ eine Goldgrube basteln wird (wenn seine Pläne aufgehen). Einer der absehbaren Hauptprofiteure dabei: der eigene Bruder von Nicolas Sarkozy…

Beide Kammern des französischen Parlaments haben am Mittwoch,  27. Oktober der geplanten Renten„reform“ in letzter Lesung definitiv zugestimmt. Noch ist das Gesetz aber in Kraft getreten, denn Staatspräsident Nicolas Sarkozy muss es noch - mehr oder minder feierlich - unterzeichnen. Danach wird es, i.d.R. am kommenden Tag, im ,Journal officiel’ (Amtsblatt/Gesetzesanzeiger) erscheinen und kann in Kraft treten. Sarkozys (Noch-)Berater für Sozialpolitik, Raymond Soubie - der die „Reform“ mit inspiriert hat und gleichzeitig der Mann des Präsidenten für die Gewerkschaftskontakte ist - kündigte an, dies werde seines Erachtens „rund um den 15. November“ geschehen.

Die Opposition dagegen hat, trotz der Beendigung der Streikbewegung in den Häfen und den Raffinerien, noch nicht insgesamt klein beigegeben. Zuletzt demonstrierten schätzungsweise 600.000 bis 700.000 Personen (die politisch beeinflussten Angaben lauten -> Polizei: „375.000“, die CGT: „1,2 Millionen“) am Samstag, den o6. November in zahlreichen französischen Städten gegen die „Reform“, trotz strömenden Regens. Ein weiterer „Aktionstag“, freilich auf niedrigerem Niveau - nur mit örtlichen Kundgebungen und einzelnen Demonstrationen oder Arbeitsniederlegungen - soll am 23. November stattfinden.  

Sarkozys Bruderherz unter den Hauptprofiteuren der ,Reform“… 

Eine ziemlich interessante Aktion fand unterdessen am 27. Oktober im neunen Pariser Bezirk statt: Dort besetzten rund 100 Personen den Sitz des Versicherungskonzerns Malakoff-Médéric. Dieser gehört (seit dem Jahr 2008) - Zufälle gibt’s! - dem eigenen Bruder von Nicolas Sarkozy, einem Groβunternehmer namens Guillaume Sarkozy, früher Chef des Arbeitgeberverbands im Textilsektor (UIT) von 1993 bis 2006. Und, es gibt entschieden zufällige Zufälle!, dieselbe Versicherungsfirma zählt zu den zukünftigen Hauptprofiteuren der so genannten Renten„reform“, denn sie bietet u.a. private „Alterssicherungen“ - also privatkapitalistische Rentenversicherungsverträge - an. Und Präsident Nicolas Sarkozy plant einem Bericht der gewöhnlich gut unterrichteten Internetzeitung ,Mediapart’ zufolge, ihm einen Groβteil des privaten Rentenversicherungsgeschäfts zuzuschustern, das sich (den eigenen Erwartungen des Staatspräsidenten zufolge) infolge der „Reform“ des auf dem Umlagesystem basierenden Rentensystems aufblähen wird. Offiziell und theoretisch soll die „Reform“ zwar das Umlagesystem retten - real aber geht man offenkundig auf allen Seiten davon aus, dass sie in Wirklichkeit eine wachsende Zahl von Leuten in die private „Absicherung“ abdrängen wird, auf die sie notwendig angewiesen sein werden, um im Alter überhaupt genügend zum Leben haben. Diese Schweinerei, und die Persönlichkeit eines ihrer Hauptprofiteure, gilt als besonders delikates Detail der Renten„reform“. Auf diesen wunden Punkt legte die Besetzungsaktion also den Finger. Die Polizei setzte dem ,bösen’ Treiben, zu welchem u.a. der linke Gewerkschaftszusammenschluss Union syndicale Solidaires aufgerufen hatte, jedoch ein jähes unfreundliches Ende. (Vgl. http://www.citizenside.com und http://www.lepoint.fr/ )  

Am darauf folgenden Tag (28. 10.) führte auch eine Demonstration - überwiegend von Studierenden - in Lyon, die sich gegen die Renten,reform’ richtete, zu einer örtlichen Filiale von Malakoff-Médéric.

 Ein führender Kapital-Repräsentant meldet sich zu Wort

Eine weitere führende Rübe des Privatkapitals, der langjährige Versicherungsmagnat Claude Bébéar, zu Wort. Bébéar ist, im Alter von 75, heute „Ehrenvorsitzender“ des Versicherungskonzerns AXA - des Branchengiganten, den er im Jahr 1985 gründete und bis 2000 leitete. Ferner ist er auch Präsident des ,Institut Montaigne’, eines „arbeitgeber“nahen und wirtschaftsliberalen Think-Tanks, den er im Jahr 2000 ebenfalls gründete.   

Bébéar wurde für die Wochenend-Ausgabe der Pariser Abendzeitung ,Le Monde’ vom 29./30. Oktober 10 auf einer vollen Seite interviewt (vgl. http://www.lemonde.fr). Und dabei ging er - buchstäblich in die Vollen.  

In dem Interview erklärt er, die Schaffung privater Rentenfonds - in die Lohnabhängige einzahlen, um über eine private Alters-Absicherung zu verfügen, und die ihre Guthaben dann an der Börse zu spekulativen Zwecken einlegen - sei „unabdingbar“. Und dies, wie könnte es anders sein, aufgrund „demographischer Zwänge“: Die Bevölkerung werde nun einmal älter, der Anteil von jüngeren Aktiven nehme ab (wobei freilich Einwanderung Abhilfe verschaffen könnte, aber davon möchte Bébéar wohl nichts wissen, warnte er doch im Jahr 2002 lautstark vor einem „Selbstmord der weiβen Rasse“[1]). Vom Anwachsen der Arbeitsproduktivität, die sich in Frankreich seit 1960 im nationalen Durchschnitt circa verfünffacht hat, oder dem Wachsen der Gewinne spricht er freilich - selbstverständlich - nicht.  

Solche privaten Rentenfonds sind in den USA und Britannien seit Jahrzehnten gang & gäbe, verloren jenseits des Atlantik jedoch zeitweilig ziemlich stark an Popularität, nachdem die Finanzaffäre namens „ENRON-Skandal“ im Jahr 2001 dort für viele Einzahler/innen ein paar Jahre Rente pulverisiert hatte. 

Die Schaffung solcher Rentenfonds, die bislang in Frankreich noch als relativ tabu gilt (die bürgerliche Regierung unter Alain Juppé hatte sie durch ein Gesetz vom März 1997 - die ,Loi Thomas’ - autorisiert, das jedoch nach dem Regierungswechsel vom Juni 1997 zurückgezogen wurde), würde für Versicherungskonzerne wie AXA natürlich eine riesige Goldgrube eröffnen. Denn solche „Finanzprodukte“ wie die Anlage in Rentenfonds, die - für den späteren Lebensabend - auf Dauer Profit abwerfen sollen, werden vor allem durch Versicherungsfirmen sowie Banken und Kreditinstitute angeboten. 

Um die Idee vermeintlich ansprechend auszugestalten, schlägt er sogar eine vermeintlich gar nicht unattraktive Idee vor: Das Arbeitgeberlager solle endlich die ,pénibilité’ (körperliche Anstrengung oder Abnutzung, Erschwernis) bestimmter Tätigkeiten und Berufsgruppen anerkenne. Dies tat es bislang allenfalls verbal, doch die bei der vorletzten Renten„reform“ von 2003 angekündigte Verhandlung „unter Sozialpartnern“ über die Anerkennung dieser Dimension - besonders „beschwerliche“ Tätigkeiten sollten das Recht auf ein früheres Rentenalter eröffnen - lief sich über die Jahre hinweg tot. Mausetot. (Die deutsche Entsprechung zur Debatte über die ,pénibilité’ wäre die deutsche Dachdecker-Diskussion in der Rentendebatte vom Sommer 2010.) Was nun Claude Bébéar vorschlägt, ist folgende Idee: Die Arbeitgeber sollen sich nicht länger stur stellen und diese Dimension der körperlichen Abnutzung & besonderen Anstrengung anerkennen. Sie sollten dies aber in der Form tun, dass sie einen finanzielle Gegenwert für die ,pénibilité’ - die in Punkten zu erfassen sei - in einen Rentenfonds einzahlen, aus dem die Lohnabhängigen dann später (nach ihrem Abgang aufs Altenteil) schöpfen könnten.

Dies soll die Idee bei den Lohnabhängigen relativ attraktiv machen. Zudem geht Bébéar dadurch einen Schritt auf die CFDT (zweitstärker Gewerkschaftsdachverband in Frankreich, an der Spitze rechtssozialdemokratisch) zu, indem er ihr anbietet, über das von ihr geforderte „Punktesystem“ bei der Rente zu diskutieren. Die CFDT möchte, dass der Renteneintritt nicht mehr anhand der automatischen Richtwerte bzw. „Stellschrauben“ Alter und Beitragsdauer bemessen wird, sondern in Punkten: Es gäbe entsprechend Punkte für Beitragsjahre, aber auch zusätzliche Sonderpunkte für „besondere Erschwernisse“/pénibilité oder eventuell für Kindererziehungszeiten anzurechnen. Die geldwerte Entsprechung jedes Einzelpunkts würde sich je nach der Nähe oder Ferne des persönlichen Renteneintrittsalters zu einem bestimmten Fixpunkt (63 oder 65 Jahre, beispielsweise), aber auch nach dem Verhältnis zwischen Aktiven und Rentner/inne/n im Lande richten. Weder in den Darlegungen Claude Bébéars zu den „demographischen Notwendigkeiten“ noch in den Ideen der CFDT kommen jedoch Parameter wie das Anwachsen der Arbeitsproduktivität (gigantisch, betrachtet man es über die letzten 50 Jahre!) oder das Steigen der Unternehmensgewinne vor.  

Der französische Senat - das gehörte zu den „Zugeständnissen“ an die soziale Protestfront im Allgemeinen und an die CFDT im Besonderen - verabschiedete im Oktober einen Zusatzantrag zum Renten-„Reformgesetz“, der sich ebenfalls auf dieses Thema bezieht. Er sieht vor, „ab dem 2013“ eine politische und gesellschaftliche Debatte anzuleiern, um über einen „Systembruch“ durch Einführung eines Rentensystems nach einem solchen Punkteprinzip „nachzudenken“. 

Um sein Eintreten für die Schaffung privater Rentenfonds zu untermauern, zitiert Bébéar ferner eine Studie, die die Versicherungsbranche „bereits vor 30 Jahren“ durch „junge Wirtschaftswissenschaftler“ habe anfertigen lassen, und die zum Schluss gekommen sei, dass die Schaffung solcher Rentenfonds als „unverzichtbar“ zu bezeichnen sei. Co-Autoren der Studien seien Denis Kessler (später Chefideologe des Arbeitgeberverbands MEDEF) und Dominique Strauss-Kahn – heute Direktor des IWF und Putativ-Präsidentschaftskandidat der französischen
Sozialdemokratie - gewesen. 

Ebenfalls in demselben Interview macht Claude Bébéar sich auch für die Idee eines so genannten ,Contrat de travail unique’ (Einheits-Arbeitsvertrag), der keine Unterscheidung mehr zwischen befristeten und unbefristeten Arbeitsverträgen erlauben würde, stark. Diese Idee würde die genannte Unterscheidung zwischen Zeit- und unbefristeten Verträgen aufheben stattdessen einen abgestuften Kündigungsschutz einführen - je längere Jahre jemand in einem Unternehmen arbeitet, desto intensiver wird der Kündigungsschutz, der in den Anfangsjahren dagegen quasi unwirksam wäre. Der damalige Innenminister und Präsidentschaftskandidat Nicolas Sarkozy schlug diesen Plan im Frühjahr 2006 als „Alternative“ zum CPE („Ersteinstellungs-Vertrag“, der den Kündigungsschutz für jüngere Beschäftigte unter 26 aushebeln sollte) - das Regierungsvorhaben, von dem er sich taktisch distanzierte - vor. Als Kandidat in den Anfangsmonaten des Jahres 2007, kurz vor der Präsidentschaftswahl, wiederholte er diesen Vorschlag (vgl. http://www.labournet.de/internationales/fr/reformterror3.html )  

Seitdem hat man von dem Thema allerdings nicht mehr sehr viel gehört. Vor allem wohl, weil es seit den Erfahrungen der damaligen Regierung Chirac/de Villepin mit dem CPE (der im April 2006 unter dem Druck massiver Proteste zurückgezogen werden musste) als politisch heikel und „sozial gefährlich“ gilt, am Kündigungsschutz herumzuschrauben. Claude Bébéar holt die Idee nun aus der Mottenkiste.

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe
.