Über Soziologie und empirische Forschung

von Theodor W. Adorno

11/11

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Theorie will benennen, was insgeheim das Getriebe zusammenhält... Sie möchte den Stein aufheben, unter dem das Unwesen brütet; in seiner Erkenntnis allein ist ihr der Sinn bewahrt. Gegen solchen Drang sträubt sich die soziologische Tatsachenforschung. Entzauberung, wie noch Max Weber sie wollte, ist ihr nur ein Spezialfall von Zauberei; die Besinnung aufs verborgen Waltende, das zu verändern wäre, bloßer Zeitverlust auf dem Wege zur Änderung des Offenbaren. Zumal was heute allgemein mit dem Namen empirische Sozialforschung bedacht wird, hat seit Comtes Positivismus mehr oder minder eingestandenermaßen die Naturwissenschaften zum Vorbild. Die beiden Tendenzen verweigern sich dem gemeinsamen Nenner. Theoretische Gedanken über die Gesellschaft insgesamt sind nicht bruchlos durch empirische Befunde einzulösen: sie wollen diesen entwischen wie spirits der parapsychologischen Versuchsanordnung. Eine jede Ansicht von der Gesellschaft als ganzer transzendiert notwendig deren zerstreute Tatsachen. Die Konstruktion der Totale hat zur ersten Bedingung einen Begriff von der Sache, an dem die disparaten Daten sich organisieren. Sie muß, aus der lebendigen, nicht selber schon nach den gesellschaftlich installierten Kontrollmechanismen eingerichteten Erfahrung; aus dem Gedächtnis des ehemals Gedachten; aus der unbeirrten Konsequenz der eigenen Überlegung jenen Begriff immer schon ans Material herantragen und in der Fühlung mit diesem ihn wiederum abwandeln. Will Theorie aber nicht trotzdem jenem Dogmatismus verfallen, über dessen Entdeckung zu jubeln die zum Denkverbot fortgeschrittene Skepsis stets auf dem Sprung steht, so darf sie dabei sich nicht beruhigen. Sie muß die Begriffe, die sie gleichsam von außen mitbringt, umsetzen in jene, welche die Sache von sich selber hat, in das, was die Sache von sich aus sein möchte, und es konfrontieren mit dem, was sie ist. Sie muß die Starrheit des hier und heute fixierten Gegenstandes auflösen in ein Spannungsfeld des Möglichen und des Wirklichen: jedes von beiden ist, um nur sein zu können, aufs andere verwiesen. Mit anderen Worten, Theorie ist unabdingbar kritisch.(1) Darum aber sind aus ihr abgeleitete Hypothesen, Voraussagen von regelhaft zu Erwartendem, ihr nicht voll adäquat. Das bloß zu Erwartende ist selber ein Stück gesellschaftlichen Betriebs, inkommensurabel dem, worauf die Kritik geht. Die wohlfeile Genugtuung darüber, daß es wirklich so kommt, wie sie es geargwöhnt hatte, darf die gesellschaftliche Theorie nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie, sobald sie als Hypothese auftritt, ihre innere Zusammensetzung verändert. Die Einzelfeststellung, durch die sie verifiziert wird, gehört selbst schon wieder dem Verblendungszusammenhang an, den sie durchschlagen möchte. (245 f.)

Die empirische Sozialforschung kommt darum nicht herum, daß alle von ihr untersuchten Gegebenheiten, die subjektiven nicht weniger als die objektiven Verhältnisse, durch die Gesellschaft vermittelt sind. Das Gegebene, die Fakten, auf welche sie ihren Methoden nach als auf ihr Letztes stößt, sind selber kein Letztes, sondern ein Bedingtes. Sie darf daher nicht ihren Erkenntnisgrund - die Gegebenheit der Fakten, um welche ihre Methode sich müht — mit dem Realgrund verwechseln, einem Ansichsein der Fakten, ihrer Unmittelbarkeit schlechthin, ihrem Fundamentalcharakter. Gegen diese Verwechslung kann sie insofern sich wehren, als sie durch Verfeinerung der Methoden die Unmittelbarkeit ihrer Daten selbst aufzulösen vermag .. . Das Erkenntnisproblem ihrer selbstkritischen Entwicklung bleibt, daß die ermittelten Fakten nicht getreu die darunterliegenden gesellschaftlichen Verhältnisse spiegeln, sondern zugleich den Schleier ausmachen, durch den jene, und zwar notwendig, sich verhüllen. Es gilt danach für die Befunde dessen, was nicht umsonst »Meinungsforschung« heißt, die Formulierung Hegels über die öffentliche Meinung schlechthin aus der Rechtsphilosophie: sie verdiene, ebenso geachtet als verachtet zu werden. Geachtet, weil auch Ideologien, das notwendige falsche Bewußtsein, ein Stück gesellschaftlicher Wirklichkeit sind, das kennen muß, wer diese erkennen will. Verachtet aber: ihr Wahrheitsanspruch kritisiert. Die empirische Sozialforschung wird selbst zur Ideologie, sobald sie die öffentliche Meinung absolut setzt. Dazu verleitet ein unreflektiert nominalistischer Wahrheitsbegriff, der die volonte de tous als Wahrheit schlechthin unterschiebt, weil eine andere doch nicht zu ermitteln sei ... Nicht ist die Meinung mit Platonischem Hochmut zu verwerfen, sondern ihre Unwahrheit selbst aus der Wahrheit: aus dem tragenden gesellschaftlichen Verhältnis, schließlich dessen eigener Unwahrheit abzuleiten. Andererseits jedoch stellt die Durchschnittsmeinung keinen Approximationswert der Wahrheit dar, sondern den gesellschaftlich durchschnittlichen Schein. An ihm hat teil, was der unreflektierten Sozialforschung ihr ens realissimum dünkt, die Befragten selbst, die Subjekte. Ihre eigene Beschaffenheit, ihr Subjektsein, hängt ab von der Objektivität, den Mechanismen, denen sie gehorchen und die ihren Begriff ausmachen. Der aber läßt sich bestimmen nur, indem man in den Fakten selber der Tendenz inne wird, die über sie hinaustreibt. Das ist die Funktion der Philosophie in der empirischen Sozialforschung. Wird sie verfehlt oder unterdrückt, werden also bloß die Fakten reproduziert, so ist solche Reproduktion zugleich die Verfälschung der Fakten zur Ideologie. (259 f.)

1) Vgl. Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, in: Zeitschrift für Sozialforschung, 1937, VI, S. 245 ff.
 

Editorische Hinweise

Der Text wurde in Auszügen übernommen aus: Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth Plessner. Hrsg. von Klaus Ziegler. Göttingen 1957, S. 245-260.

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