Texte
zur antikapitalistischen
Organisations- und Programmdebatte

11/11

trend
onlinezeitung

Es gibt einen Überblick über alle bei TREND 2011 veröffentlichten Texte zur Debatte über Organisation und Programm, angeregt durch die "Sozialistische Initiative Berlin" (vormals Berlin-Schöneberg)

Neue revolutionäre ArbeiterInnenpartei!

Für eine neue revolutionäre ArbeiterInnenpartei! Für den Wiederaufbau der Vierten Internationale! // Diskussionsbeitrag von RIO, der Revolutionären Internationalistischen Organisation, über eine „Neue Antikapitalistische Organisation“

„Das Bekenntnis zur Sammlung sagt aber an sich noch gar nichts. Entscheidend ist vielmehr, auf welcher politischen Basis diese Sammlung erfolgen soll. Nicht die Sammlung um der verschwommenen, kompromisslerischen Einheit willen, sondern Sammlung um der politischen Klarheit und Festigkeit willen ist die alte und immer gültige Losung der Marxisten.“
– Willy Boepple zur Diskussion in der Unabhängigen Arbeiterpartei[1]

„Nach der Gründung der VSP von 1986 wurde langsam klar, dass 1+1=1,5 ist.“
– Klemens Alff zur Auswertung der Vereinigten Sozialistische Partei[2]

Als Antwort auf das Papier „Eine neue antikapitalistische Organisation?“ können wir erstmal nur sagen: Danke, dass ihr RIO erwähnt habt![3] Wir haben es nicht geschafft, auch nur einen Bruchteil der Papiere von meist älteren, nicht (oder nur lose) organisierten AktivistInnen zu lesen, die sich mit der nicht gerade kreativen Idee einer neuen antikapitalistischen Organisation in der BRD befassen[4]. Im Bewusstsein, dass wir den ohnehin fast unlesbaren Papierstapel nur vergrößern, wollen wir uns auf das Wesentliche beschränken.

Im Großen und Ganzen stimmen wir mit der Lageeinschätzung der „Schöneberger GenossInnen“ überein: Auch in Deutschland stehen (trotz einer vorübergehenden Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs und des sozialen Friedens) größere Klassenkämpfe bevor[5]. Unsere Klasse braucht eine starke revolutionäre Organisation, um diese Kämpfe gewinnen zu können. Vor diesem Hintergrund hat eine Diskussion eine zentrale Bedeutung: Was für eine Organisation brauchen wir?

Wir erfüllen wohl die uns zugedachte Rolle als „Ultraorthodoxe“, wenn wir feststellen, dass das revolutionär-marxistische Programm, das seinen höchsten Ausdruck im Übergangsprogramm der Vierten Internationale fand (weil die Lehren der wichtigsten Klassenkämpfe der Geschichte in ihm aufgehoben werden), nicht nur relevant bleibt, sondern angesichts der anhaltenden Krise relevanter wird. Gerade die große Streikwelle Ende 2010 in Frankreich zeigte, erstens: dass ein breites, antikapitalistisches Projekt wie die NPA nicht ansatzweise in der Lage war, eine Alternative zur verräterischen Rolle der Gewerkschaftsbürokratie zu präsentieren, und zweitens: dass ein revolutionär-marxistisches Programm notwendig gewesen wäre, um die Selbstorganisierung der ArbeiterInnen und Jugendlichen voranzutreiben, die wochenlangen Massenstreiks und Blockaden zu einem Generalstreik auszuweiten und den Kampf gegen die Rentenreform zu gewinnen[6].

Insofern können wir uns mit dem Versuch nicht anfreunden, das Erbe von Leo Trotzki und der Vierten Internationale auf „Antistalinismus“ und „Nicht-Sektierertum“ zu beschränken. Wir sehen, wie der „Jalta-Trotzkismus“[7] – ironischerweise angesichts der historischen Krise des Kapitalismus – jetzt noch die letzten Überreste des trotzkistischen Programms zugunsten eines diffusen „Antikapitalismus“ ohne revolutionäres Programm und ohne Klassenunabhängigkeit aufgibt. So sehen wir nicht nur die Mitglieder des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale (VSVI) in Frankreich, die sich Trotzkis Strategie des bewaffneten ArbeiterInnenaufstandes und Guevaras Strategie der ländlichen Guerilla als etwa gleichwertig vorstellen; Wir sahen sogar Mitglieder des VSVI in Brasilien, die in bürgerliche Regierungen eintraten, was seitens der Führung als möglicher „taktischer Fehler“, aber nicht als Bruch mit den grundlegenden Prinzipien der revolutionären ArbeiterInnenbewegung betrachtet wurde.

Die bevorstehende Zuspitzung des Klassenkampfes wird die Differenzen zwischen den verschiedenen Strömungen, die eine Revolution anstreben, keineswegs unter den Teppich kehren, sondern vielmehr verschärfen. Um ein einfaches, plakatives Beispiel zu nehmen: Unsere Differenzen zur SAV bezüglich der Polizei – „einen Keil in die Polizei treiben“ und „die Polizei unter demokratische Kontrolle stellen“ (SAV) vs. „den Polizeiapparat zerschlagen“ (RIO) – bleiben in der aktuellen Situation in Deutschland größtenteils abstrakt und theoretisch[8]. Doch mit einer Verschärfung der Kämpfe werden diese Differenzen sehr schnell zu grundsätzlichen Unterschieden in der Praxis werden.

Die „Schöneberger GenossInnen“ verweisen auf ihre Erfahrung – und wir schätzen die Erfahrungen unserer Bewegung sehr, weil wir „Fäden der Kontinuität“ mit der leider nicht mehr vorhandenen revolutionären Tradition entdecken können. Umso mehr verwundert es uns, dass sie kaum historische oder internationale Erfahrungen in ihren Vorschlag einfließen lassen. Was ist zum Beispiel mit der Erfahrung der Vereinigten Sozialistischen Partei aus dem Jahr 1986, auf die sie sich im Papier positiv beziehen? Dieses Projekt suchte die „Einheit der RevolutionärInnen“ im Ausklammern aller politisch-strategischen Differenzen und war daher notwendig eine Totgeburt. Ist das ein Modell für zukünftige Projekte der revolutionären Linken oder nicht? Was ist – um auf ein ganz anderes Beispiel einzugehen – mit den Erfahrungen aus der jahrelangen Entrismusarbeit bei Grünen oder PDS? Welche Lehren sollten aus dieser Arbeit gezogen werden? Wir sehen die Lehren darin, dass das Ziel nicht darin bestehen kann, anhand von 3 oder 5 oder 9 antikapitalistischen Grundsätzen eine kritische Masse von 600 (und warum nur 600?) Menschen zu sammeln.

Besonders die Neue Antikapitalistische Partei (NPA) aus Frankreich verdient eine nähere Untersuchung. Im „Schöneberger Papier“ ist die Rede von 6.000 Mitgliedern – doch bei der Gründung waren über 10.000 Mitglieder eingeschrieben, und die NPA hat seitdem einen kontinuierlichen Niedergang erlebt. Laut unseren GenossInnen von der Courant Communiste Révolutionnaire (CCR), dem trotzkistischen Flügel innerhalb der NPA, verfügt die NPA jetzt über knapp 2.000 Mitglieder – also sogar weniger als die alte Ligue Communiste Révolutionnaire, die die NPA ins Leben rief[9]. Welche Schlussfolgerungen sollten daraus gezogen werden? Und es geht nicht um die bloße Mitgliederzahl – sonst wären wir alle bei der Linkspartei oder am Besten gleich bei der SPD! – sondern um die Rolle einer Organisation im Klassenkampf. Bei der oben erwähnten Streikwelle gegen die Rentenreform konnte die NPA keine Alternative zur Politik der Gewerkschaftsbürokratie aufzeigen und entsprechend keine relevanten Sektoren anziehen – das geben auch führende Mitglieder der NPA zu[10]. Was meinen die „GenossInnen aus Schöneberg“ dazu? Sollte das ein Vorbild für uns sein?

Die Auswahl der Kräfte, die man in einer antikapitalistischen Organisation sammeln möchte, wirkt sehr beliebig. Warum z.B. die SAV, wenn diese ganz darauf ausgerichtet ist, sich selbst im Rahmen der Linkspartei aufzubauen? Und warum AVANTI? Auch uns ist aufgefallen, dass Sektoren der Autonomen sich etwas stärker auf die ArbeiterInnenbewegung beziehen[11]. Doch genau diese Sektoren zeigen die Schwäche autonomer Politik in der Form von Bündnissen mit linken GewerkschaftsbürokratInnen – bis hin zu den „autonomen“ BürokratInnen, den man in den Gewerkschaften immer häufiger begegnet. Natürlich ist AVANTI im autonomen Spektrum eine progressive Erscheinung – aber ihre Politik ist dadurch nicht revolutionär. Wir finden es z.B. sehr bedenklich, dass eine Organisation in einem zentralen imperialistischen Land unseres Wissens nicht bedingungslos für die Niederlage des „eigenen“ Militärs eintritt. Und wenn die „Schöneberger GenossInnen“ richtigerweise schreiben, dass „der Betrieb (…) der zentrale Ort der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen“[12] bleibt, dann fällt es umso mehr auf, dass AVANTI unseres Wissens nicht die geringste Orientierung auf Betriebe oder auf Streiks hat. Man fragt sich, warum dann nicht die DKP oder die MLPD, die (besonders im zweiten Fall) über eine kleine aber reale Verankerung in der ArbeiterInnenklasse verfügen, für das Projekt gewonnen werden sollten. Hier geht es wahrscheinlich um deren Verherrlichung des (DDR- oder VRCh-)Stalinismus. Aber unsere Differenzen zu AVANTI und SIB oder auch SAV und RSB werden dadurch nicht weniger schwerwiegend, dass wir alle irgendwie ein negatives Verhältnis zum Stalinismus haben.

Also wir müssen diskutieren: Was für eine Organisation brauchen wir, um innerhalb der ArbeiterInnenbewegung in Deutschland eine revolutionäre Führung aufzubauen? (Wollen wir das überhaupt?) Dazu müssen viele Diskussionen geführt werden – aber noch wichtiger wären gemeinsame Interventionen im Klassenkampf mit einem klaren Programm gegen die Gewerkschaftsbürokratie und für die Selbstorganisierung der ArbeiterInnen in den Gewerkschaften. Gerade beim Streik an der Charité sahen wir sehr unterschiedliche Interventionen von den verschiedenen politischen Strömungen[13], obwohl sie sich zweifelsohne auf ein paar antikapitalistische Punkte hätte einigen können. Wenn wir aber eine revolutionäre Organisation wollen, dann nicht, damit ihre einzelne Bestandteile bei Streiks entgegengesetzte Politik betreiben.

Um zusammenzufassen: Wir möchten Diskussionen über die „strategische Frage“ in der revolutionären Linken immer wieder anstoßen[14]. Erst gemeinsame Schlussfolgerungen aus solchen Diskussionen und aus gemeinsamen Interventionen können die Grundlage einer Organisation bilden, die das Desaster der VSP von vor 25 Jahren oder das anhaltende Desaster der NPA vermeidet. Auch wenn RIO noch eine sehr kleine Organisation ist, zeigen die Erfahrungen von verschiedenen Sektionen unserer internationalen Strömung, dass ein klares Programm verbunden mit kühnen Interventionen im Klassenkampf Avantgardesektoren der ArbeiterInnenklasse und der Jugend sammeln kann[15].

Wir sind überzeugt, dass diese Diskussionen und vor allem der sich zuspitzende Klassenkampf zeigen werden, dass eine bolschewistische Organisation für die ArbeiterInnenklasse heute in Deutschland dringend notwendig ist. So eine Partei entsteht nicht von alleine, sondern aus Prozessen der Fusion zwischen verschiedenen revolutionären Gruppen – wie der unsrigen –, Fraktionen anderer Gruppen und unabhängigen kämpferischen Sektoren, die durch eine gemeinsame Erfahrung zu denselben revolutionären Schlussfolgerungen kommen. In diesem Sinne treten wir – um mit Willi Boeppele zu sprechen – nicht für eine „Sammlung um der verschwommenen, kompromisslerischen Einheit willen“ sondern für den Wiederaufbau der Vierten Internationale ein.

Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO), sympathisierende Sektion der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale (FT-CI)
in Deutschland, 2. November 2011

Fußnoten

[1] Willy Boepple: Revolutionäre Klassenpartei oder Partei der Sammlung? In: Pro und Contra. 5/1951. S. 72-73. Zit. nach: Gregor Kritidis: Linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer. Hannover 2008. S. 165.

[2] Zit. nach: Frank Nitzsche: Aus dem Schatten in die Reichweite der Kameras. Dissertation an der Universität Siegen. S. 246. http://dokumentix.ub.uni-siegen.de/opus/volltexte/2009/390/pdf/Historie_Trotzkismus.pdf.

[3] Über RIO hieß es: „Auf der LL-Demo 2011 skandierten die GenossInnen von RIO den (aktuell ergänzten) Klassiker: ‘Wer hat uns verraten ? Sozialdemokraten ! Wer war mit dabei ? Die Linkspartei !’ Klingt hübsch, ist aber total dämlich. Denn dadurch werden die (ja durchaus vorhandenen) Risse zwischen Führung und Basis zugeschüttet statt geweitet.“ In: Aus: Sozialistische Initiative Berlin-Schöneberg: „Neue Antikapitalistische Organisation ? Na endlich !“ http://arschhoch.blogsport.de/2011/03/23/neue-antikapitalistische-organisation-na-endlich-worueber-muessen-wir-uns-verstaendigen-und-worueber-nicht/. Uns ist nicht ganz klar, warum unter den vielen Gruppen, die diese Losung skandierten, nur unsere erwähnt wird. Aber es gibt bekanntlich keine schlechte Publicity!

[4] Für eine Übersicht dieser Papiere siehe die Website der Sozialistischen Initiative Berlin-Schöneberg. http://arschhoch.blogsport.de/texte/. Oder: http://www.trend.infopartisan.net/trd0911/t020911.html.

[5] Siehe: Mark Turm. Zur Lage in Deutschland. In: Klasse Gegen Klasse. Nr. 1. http://www.klassegegenklasse.org/zur-lage-in-deutschland/.

[6] Zur Bewertung der Streikwelle von Ende 2010 in Frankreich, siehe unsere Broschüre: Frankreich brennt! http://www.revolution.de.com/broschueren/frankreich/index.html.

[7] So bezeichnen wir die trotzkistische Bewegung der Nachkriegszeit, die wesentliche Elemente des Programms der Vierten Internationale über Bord warf, um gegenüber stalinistischen, sozialdemokratischen und nationalistischen Strömungen „offen“ zu sein. Sihe dazu: Emilio Albamonte: An den Grenzen der „bürgerlichen Restauration“. In: Klasse Gegen Klasse. Nr. 1. http://www.klassegegenklasse.org/an-den-grenzen-der-burgerlichen-restauration/.

[8] Für eine Debatte mit der SAV über den Charakter der Polizei, siehe zum Beispiel: RIO: Debatte: Die Proteste gegen Stuttgart 21 und die Polizei. http://www.revolution.de.com/revolution/1010/s21/index.html.

[9] Juan Chingo: „Zweiter Kongress der NPA: Politische Lähmung und strategische Krise“. http://www.ft-ci.org/article.php3?id_article=3536.

[10] Siehe zum Beispiel: Rafael Alcaraz-Mor: Wie steht es mit der NPA? http://www.rsb4.de/content/view/4419/85/.

[11] So schrieben wir vor einem Jahr: „Positiv kann man hier zur Kenntnis nehmen, dass einige autonome Gruppen sich verstärkt auf die ArbeiterInnenbewegung beziehen. (…) Allerdings tendieren diese Teile der autonomen Linken eher dazu, sich auf die (untere) Gewerkschaftsbürokratie zu beziehen, als auf die Gewerkschaftsbasis oder nicht organisierte ArbeiterInnen.“ In: Alex Lehmann: Wer wird „stärker aus der Krise herauskommen“? Notizen zur Klassenkampfsituation in der BRD. http://www.revolution.de.com/revolution/1009/situation/index4.html.

[12] SIBS: Neue…

[13] Zu den Differenzen zwischen verschiedenen trotzkistischen Gruppen beim Charité-Streik, siehe: Wladek Flakin und Markus Oliver: Die SAV beim Charité-Streik. Eine Bilanz der Intervention der revolutionären Linken. http://www.revolution.de.com/revolution/1106/charite/savpsg.html.

[14] „Dabei versuchen wir als kleine Gruppe, diese Debatten anzustoßen und die strategische Frage (d.h. welche Methoden sind notwendig, um den Kapitalismus zu stürzen?) immer in den Mittelpunkt stellen. Denn momentan existieren in der revolutionären Linken kaum strategische Überlegungen, die über die (über)nächste Aktion hinausgehen.“ Aus: Lehmann: Wer…

[15] Auf diese Erfahrungen – die Produktion unter ArbeiterInnenkontrolle bei Zanon in Argentinien, den Streik der prekarisierten ReinigerInnen bei der Universität von Sao Paolo in Brasilien, den Organisierungsprozess bei den jungen ArbeiterInnen von Telepizza im Spanischen Staat – gehen wir gern ausführlich ein. Aber im Sinne der Kürze verweisen wir auf: www.klassegegenklasse.org

Editorische Hinweise

Den Artikel spiegelten wir
auf Wunsch der AutorInnen von den Website.