Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Präsidentschafts-Vorwahlkampf (Teil 1)
(„Links“-)Nationalist Jean-Pierre Chevènement, Linksparteikandidat Jean-Luc Mélenchon, die radikale Linke - und Sozialdemokrat François Hollande

11/11

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Manche Leute haben ganz spezielle Sorgen. Beispielsweise ein französischer Präsidentschaftsbewerber, der am 06. November 11 seine Kandidatur offiziell ankündigte. Er äuberte in einem Interview mit der Sonntagszeitung Le Parisien dimanche ausgerechnet die Befürchtung,  die aktuell in Frankreich (wie in anderen EU-Staaten) betriebene „Sparpolitik“ drohe, die Unterhaltung des französische Atomwaffenarsenals zu gefährden.  

Die Ängste des früheren Innenministers und linksnationalistischen EU-Kritikers Jean-Pierre Chevènement dürften nicht unbedingt die Alltagssorgen der groben Mehrheit der Französinnen und Franzosen ausdrücken. Die Episode illustriert jedoch die politische Entwicklung Chevènements. In den 1970er Jahren vertrat er zunächst den linken Flügel des französischen Parti Socialiste, das „Sozialistische Studien- Forschungs- und Bildungszentrum“ CERES, bei dem damals noch über Ansätze für einen nicht-autoritären Selbstverwaltungssozialismus (zumindest) diskutiert wurde. In den 1980er Jahre wurde Chevènement dann zunehmend ein purer Etatist, dessen autoritäre Züge sich allmählich klarer herausschälten. Noch einige Zeit später kippte sein politisches Denken in eine vorwiegend nationalistische Vision um.  

Das Bruchstück der französischen Sozialdemokratie, das Chevènement repräsentiert, hat sich seit 1993 selbständig gemacht, blieb jedoch mit seiner alten Partei zunächst verbunden: Chevènement war von 1997 bis 2000 Innenminister der letzten sozialistisch geführten Regierung in Frankreich. Seine grobe Zeit dürfte vorüber sein, nachdem seine Präsidentschaftskandidatur 2002 entgegen ersten Prognosen - die ihn im zweistelligen Prozentbereich und als „Zünglein an der Waage“ sahen - mit 5,3 Prozent der Stimmen relativ kläglich endete. Seit jener Zeit tritt der Mann eher mit dem Anspruch auf, „jenseits von Links und Rechts“ zu stehen und die Verteidiger der nationalen Souveränität „von beiden Ufern“ zusammenzuführen.  

Im kommenden Jahr, bei der Präsidentschaftswahl vom 22. April und 06. Mai 2012, könnte Chevènement der Sozialdemokratie wieder einige Stimmen wegnehmen. Ein zentraler Kandidat der nächsten Wahl dürfte er jedoch nicht werden. Seine früheren Themen - eine Mixtur aus sozialer Kritik am Neoliberalismus, Etatismus, einer Spur Nationalismus, und lautstark vorgetragener Kritik am „Versagen des politischen Establishments“ - werden heute auch durch den Kandidaten Jean-Luc Mélenchon aufgegriffen.  

Die „Linksfront“ (FdG) 

Der Senatsabgeordnete Mélenchon hat nach dem Parteitag von Reims im November 2008 der französischen Sozialdemokratie den Rücken gekehrt, und sitzt seitdem einer eigenen Formation unter dem Namen Parti de gauche („Linkspartei“) vor.  

Letztere schloss sich mit der Französischen kommunistischen Partei - dem PCF - und kleineren linken Gruppen zur „Front der Linken“, dem Front de Gauche (FdG), zusammen. Zu den beteiligten Gruppierungen zählen neben den beiden genannten Parteien auch kleinere Vereinigungen wie die Gauche Unitaire („der Einheit verbundene Linke“; eine eher rechte Abspaltung von der zum Gutteil trotzkistisch inspirierten „Neuen Antikapitalistischen Partei“ NPA), Socialisme et République (eine Linksabspaltung von den Chevènement-Anhängern) oder auch der ehemals maoistische PCOF („Kommunistische Arbeiterpartei Frankreich“). 

Nach einigem Zögern verzichtete die französische KP im Laufe des Frühjahrs 2011 zu Gunsten Mélenchons auf eine Kandidatur aus ihren eigenen Reihen. Der Ex-Sozialdemokrat könnte also sowohl aus dem verbliebenen Stimmenpotenzial der KP schöpfen als auch dem linken Flügels desjenigen Spektrums, das früher Chevènement unterstützte.  

Dennoch ist sein Spielraum relativ eng. Denn es ist klar, dass die seit 2002 in der Opposition verharrende Sozialdemokratie von dieser langen Oppositionsperiode profitiert, um als „unverbrauchte Kraft“ zu erscheinen. Ferner werden viele Französinnen und Franzosen im kommenden Jahr schon im ersten Wahlgang „nützlich stimmen“ (vote utile), wie man im Französischen die deutsche „Wahl des kleineren Übels“ bezeichnet. Denn zwei grobe Befürchtungen dürften viele Wähler davon abhalten, im ersten Wahlgang für kleinere Kandidaten zu stimmen, um „ihre Überzeugungen auszudrücken“, bevor man sich in der zweiten Runde dann für das kleinere Übel entscheidet. Erstens steht die Erinnerung an den Ausgang der Präsidentschaftswahl von 2002 im Raum, bei welcher nur noch die Rechte und die extreme Rechte - verkörpert durch Jacques Chirac und Jean-Marie Le Pen - in die Stichwahl einzogen. Zuvor hatte sich der sozialistische Repräsentant Lionel Jospin mit nur 16 Prozent der Stimmen disqualifiziert. Eine Wiederholung dieses Szenarios droht zwar kaum, weil die linke Wählerschaft damals die Sozialdemokratie für ihre vorausgegangene fünfjährige Regierungsperiode abstrafte, während die Partei heute als Oppositionskraft den Wind im Rücken hat. Dennoch ist auch im Frühjahr 2012 ein starkes Abschneiden der extremen Rechten zu befürchten, so dass das Schreckgespenst des sprichwörtlich gewordenen „21. April“ - Datum des ersten Wahlgangs von 2002 - lebendig bleibt.  

Zum Zweiten möchte die linke Wählerschaft auf keinen Fall riskieren, dass Sarkozy wiedergewählt werden könnte. Zu sehr erscheint seine Politik in den letzten vier Jahren heute als das mit Abstand gröbere Übel: Steuergeschenke an Reiche und Gutverdiener, die bisher 75 Milliarden Euro kosteten; Kahlschlagspolitik im Bildungswesen; erhebliche Schwächung der Kaufkraft von Lohnabhängigen und auch Mittelschichten…

Auch wenn sich die meisten linken oder linksliberalen Wählerinnen und Wähler von der französischen Sozialdemokratie derzeit wenig positive Veränderungen versprechen und die Perspektiven illusionslos betrachten, so hat die stärkste Oppositionspartei doch ausgezeichnete Wahlaussichten. Stattliche 35 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang werden ihrem Bewerber François Hollande derzeit prognostiziert. Einen so hohen Prozentsatz im ersten Wahlgang erhielt zuletzt François Mitterrand in den 1980er Jahren. (Vor zehn Jahren erhielt Chirac als stärkster Einzelkandidat im ersten Wahlgang nur 19 Prozent, und vor fünf Jahren erzielte Sarkozy als Kandidat eines geeinten und damals starken Rechtsblocks 31 Prozent.)   

Radikale Linke, „Linksfront“ und Grüne 

Dabei bleibt für kleinere linke Kandidaturen nur ein relativ geringer Spielraum. Mélenchons Wahlprognosen oszillieren seit Monaten zwischen 5 und 10 Prozent. Die Bewerberin eines grün-linksliberalen Wahlbündnisses (Europe Ecologie-Les Verts, EE-LV), Eva Joly, liegt bei sechs Prozent. Aber sie schafft es kaum, in der Öffentlichkeit von sich reden zu machen.  

Die vor allem aus dem Trotzkismus hervorgegangene, radikale Linke in Gestalt v.a. des NPA (aus der früheren trotzkistischen LCR herstammend) und Lutte Ouvrière (LO, „Arbeiterkampf“) - sie erhielt im April 2002 noch insgesamt 10,5 Prozent - wird dieses Mal voraussichtlich bedeutungslos bleiben. Beide Formationen der radikalen Linken liegen jeweils zwischen nur 0,5 % und 1 % der Wahlabsichten.  

Die (erheblichen) Probleme der Kräfte der radikalen Linken 

Ihr Spielraum hat sich durch die oben genannten Faktoren, jedenfalls auf wahlpolitischer Ebene, spürbar verringert. Ferner ist der NPA, als neues Parteigründungsprojekt, das offiziell im Februar 2009 ausgerufen wurde, vorläufig mit seinen (bisherigen) Strategien gescheitert. Dies hat mehrere Gründe.  

Zum Einen ging die Strategie, sich überwiegend als „Partei der sozialen Kämpfe“ zu profilieren, nicht auf: Seit 2009 finden soziale Konflikte, wenn überhaupt, nur gedämpft statt - mit Ausnahme einiger lokaler „Bossnapping“-Aktionen vor allem im ersten Halbjahr 2009. Und mit Ausnahme der breiten Streikbewegung gegen die Renten„reform“, die stufenweise von Mai bis November 2010, doch („dank“ der Politik & Strategie der Gewerkschaftsführungen!) mit einer bitteren und ernüchternden Niederlage endete. Insgesamt hat „die Krise“ bislang eher zu Demoralisierung, Zukunftsangst und Jeder-guckt-selbst-wie-er-durchkommt-Mentalität geführt. Zumal es derzeit allzu manifest ist, dass die Gewerkschaftsapparate jegliche Versuche, radikalere Kämpfe (auf Massenebene) zu führen, ersticken.

Zum Zweiten haben die NPA-Gründer/innen den Druck hin zur „Einheit der Linken“, welcher an der Basis herrscht, völlig und sträflich unterschätzt: Im festen Glauben, zwischen einer klassenkämpferischen radikalen Linken - wie man sie selbst verkörpere - und einer glasklar bürgerliche Politik betreibenden, rechten Sozialdemokratie gebe es „kaum mehr irgend etwas dazwischen“, wurden die Restbestände der KP und die ebenfalls im Februar 2009 lancierte „Linkspartei“ quasi als eine vernachlässigbare Gröbe betrachtet. Denn es gebe keinen Spielraum mehr für eine „reformistische“, über den bürgerlichen Staat betrieben soziale Umverteilungspolitik (selbst in bisherigen Grenzen). Dies mag in der Tendenz durchaus zutreffen - doch deswegen sind die betreffenden Parteien noch lange nicht am Ende. Vielmehr konnten die o.g. Parteien und die von ihnen gemeinsam herausgebildete „Linksfront“ schon bald nach dem Gründungskongress der „Linkspartei“ Mélenchons (welcher zeitlich parallel zu jenem des NPA stattfand) triumphieren. Ihnen kam der in der linken bis radikal linken Wählerschaft verbreitete Wunsch, „Einheit“ über „unverständliche Querelen zwischen Parteien“ triumphieren zu lassen, massiv zugute. Dieses neue „Einheits“gefühl - und der Eindruck, durch das Herüberwandern eines früheren Sprengels der Sozialistischen Partei im alten „Einheitsfront“bestreben gegenüber der Sozialdemokratie bestätigt zu werden - hat der massiv gealterten französischen KP ab dem Frühjahr 2009 einen Adrenalinschub verpasst. Nicht der NPA profitierte davon, weil er mit seiner klaren Distanzierung von der „Linksfront“ schnell eher als Störenfried und „Sektierer“ wahrgenommen wurde und seine Gründe dafür nicht vermitteln konnte. Die Distanz gegenüber der „Linksfront“ wurde mal mit guten Argumenten untermauert: diese grenze sich nicht genügend von der Sozialdemokratie ab; und mal mit fadenscheinigen Gründen unterfüttert wie im Juni 2009: Erst nach einer Übernahme des eigenen Beschlusses zum Atomausstieg wolle man mit der „Linksfront“ über Bündnisse reden. (Als ob die traditionelle betonharte Pro-Atomkraft-Position der französischen KP - die heute leicht aufgeweicht wurde und durch die „Linkspartei“ Mélenchons nicht geteilt wird - jemals die radikale Linke früher an Bündnisverhandlungen mit der KP gehindert hätte. Natürlich im Bestreben, deren Basis rüberzuziehen…) 

Drittens spielt auch der Personenfaktor eine, vielleicht vom Prinzip her bedauernswerte und doch wichtige, Rolle. Denn der französische Politikbetrieb ist, einerseits durch das Funktionieren der Medienapparate bedingt und andererseits durch die Dominanz der Präsidentschaftswahlen (d.h. einer Personenwahl) als wichtigster Wahl unter der Fünften Republik, stark personenbezogen. Auch der NPA bildete keine Ausnahme davon: Sein Präsidentschaftskandidat in den Jahren 2002 und 2007, der damals noch sehr junge (er war bei den beiden Wahlgängen respektive 28 und 33 Jahre alt) Postbedienstete und radikale Gewerkschafter Olivier Besancenot, übte eine starke Anziehungskraft auf die Medien aus.

Besancenot erhielt nicht nur 1,2 Millionen Stimmen bei der Wahl von 2002 (4,5 Prozent) und 1,5 Millionen bei jener von 2007 (4,1 Prozent bei gestiegener Wahlbeteiligung gegenüber fünf Jahren zuvor). Er kam in Talkshows und vor den Kameras gut, bedingt durch sein persönliches Auftreten, sein Temperament, sein (jugendliches) Aussehen und seinen Redestil. In den bürgerlichen Medien wurde die Partei deswegen quasi nur als „Verein von Olivier Besancenot“ wahrgenommen. Aber auch ein Teil der nach dem Übergang von der alten LCR (Ligue communiste révolutionnaire, trotzkistisch) zum neuen NPA - welcher sich von der Präsidentschaftswahl im April 2007 zum Gründungskongress Anfang 2009 stufenweise vollzog - neu gewonnen Mitglieder war durch diese „Aura“ beeinflusst.  

Konkret bedeutete der Übergang von der alten LCR zum Neuen NPA damals das Anwachsen von zuvor rund 3.000 Mitgliedern auf nunmehr über 9.000. (Von denen inzwischen rund die Hälfte wieder gegangen ist, angesichts von schlechten Wahlergebnissen, Misserfolgen und anhaltenden strategischen Divergenzen innerhalb der Partei) An den „Neuen“ war die mediale Wahrnehmung der sich herausbildenden Partei und ihres Spitzenmanne - und vermeintlichen „Chefs“, auch wenn er in Wirklichkeit nur Sprecher war und eine kollegiale Führung amtierte - nicht spurlos vorübergegangen. Tatsächlich schien er in vielen Augen die „Identität“ und Substanz der Partei zu verkörpern, auch wenn innerhalb dieser natürlich - in Wirklichkeit - ein kollektiver politischer Willensbildungsprozess besteht. 

Durch die Entscheidung Olivier Besancenots von Anfang Mai 2011, nicht wieder als Präsidentschaftskandidat (für 2012) anzutreten, hat die Partei in eine noch tiefere Krise gestürzt. Die Gründe für diesen Rückzug liegen überwiegend darin begründet, dass Besancenot selbst keine Lust auf einen Status als faktischer „Medienstar“ verspürte und nicht auf diese Weise ständig wie auf einem Podest präsentiert werden mochte. Zum Anderen bevorzugt Besancenot auf die Dauer seine Aktivität als radikaler Aktivist sozialer Bewegungen, besonders in der linken Post-Basisgewerkschaft SUD PTT, für die er an eine Reihe spektakulärer Aktionen teilnahm. (Im vergangenen Jahr wurde er bei einem Polizeieinsatz anlässlich einer Besetzung an der Hand verletzt.) Doch der Rückzug Besancenots, der selbst kein Quasi-Star im Sinne der bürgerlichen Medien sein wollte, lieb die Partei in ebendiesen Medien „gesichtslos“ werden. Und es erweist sich, dass diese herrschende Medienberichterstattung eben doch nicht ohne Einfluss auf die Ideologiebildung der Gesellschaft, und zwar einschlieblich der sozialen Basis oder jedenfalls des Umfelds der radikalen Linken, bleibt. 

An Besancenots Stelle wurde nunmehr im Juni 2011 bei einer „nationalen Konferenz“ - auf welcher nur eine relative Mehrheit zwischen den innerparteilichen Blöcken, aber keinerlei absolute Mehrheit in strategischen Fragen zustande kam - ein neuer Präsidentschaftskandidat ernannt. Es handelt sich um den 44jährigen Automobil-Arbeiter Philippe Poutou, in der Nähe von Bordeaux als Aktivist einer CGT-Sektion bei Ford aktiv. In der breiten Öffentlichkeit ist er ein vollständig Unbekannter, nur drei Prozent der Befragten konnten bei einer jüngsten Meinungsumfrage seinen Namen als NPA-Bewerber nennen. Zwar war auch Olivier Besancenot im Herbst 2001 noch ein fast total Unbekannter in den Augen breitester Teile der Öffentlichkeit, und dennoch konnte er bei der Wahl im April 2002 (auch bedingt durch die völlige Abnutzung und Diskreditierung von Sozialdemokratie, Grünen und KP nach damaliger fünfjähriger Regierungsbeteiligung all dieser Partei) einen Überraschungserfolg landen. Doch heute dürfte sich dieses Szenario, aus den unterschiedlichen oben angeführten Gründen, nicht wiederholen lassen. 

Sozi-Kandidat François Hollande 

Übergrobe Hoffnungen auf positive Veränderungen werden derzeit nicht auf François Hollande gesetzt, von beinahe niemandem. Im Gegenteil, der Kandidat selbst setzt auf ein eher moderat-bürgerliches Profil, das auf konservative und liberale Wähler „beruhigend“ wirken soll. Im Juni dieses Jahres hatte der frühere konservative Präsident Chirac, Staatsoberhaupt von 1995 bis 2007, auf halb humorvolle und halb ernste Weise erklärt, auch er werde im kommenden Frühjahr für Hollande stimmen. Begründet hatte er dies etwas flapsig damit, dass beide „Landsleute aus der Corrèze“, einem zentralfranzösischen und agrarisch geprägten Département, seien. Doch hinter der Äuberung - die nie zurückgenommen wurde - steht mehr als nur ländlicher Humor.  

Denn viele Bürgerliche und auch manche Entscheidungsträger in der Wirtschaft setzen längst darauf, dass ein von linken „Abenteuern“ Abstand nehmender Sozialdemokrat wie Hollande durchaus der richtige Mann für die nächste Präsidentschaft sein könnte. Verspricht er doch, weniger polarisierend zu wirken als der aktuelle Amtsinhaber. Er könnte weniger persönlichen Hass auf sich ziehen als der hyperaktive und in allen Bereichen um Profilierung bemühte Nicolas Sarkozy - der aus diesem Grund auch für viele Negativentwicklungen direkt verantwortlich gemacht wird -, weniger exzesshaft wirken. Darauf bezieht sich auch das im Frühsommer durch Hollande benutzte Motto Pour une présidence normale, das eine „normale“ Präsidentschaft verspricht. Anstatt der hypernervösen und Spannungen fördernden Politik Sarkozys.  

François Hollande stellt diesem Spektrum vor allem Stabilität und Sicherheit. Auch an den Grundzügen der aktuell offiziell ausgerufenen „Sparpolitik“ und den Vorstellungen „solider Haushaltsführung“ im bürgerlichen Sinne rüttelt er nicht. Im Gegenteil verspricht Hollande einen relativ strengen Sparkurs, welcher schon ab 2013 zu einer Rückführung des Haushaltsdefizits auf drei Prozent - die im Maastricht-Vertrag vorgesehene Grenze - führen soll. Und innerhalb von fünf Jahren stellt Hollande einen Abbau der Neuverschuldung auf Null in Aussicht. Dabei spricht er mitnichten davon, die bestehende Vermögensverteilung anzutasten und etwa eine strukturelle Umverteilungspolitik zwischen Kapital und Arbeit in Angriff zu nehmen. Lediglich die vor dem Hintergrund der Euro-Krise und der seit 2008 (und der Bankenrettung) deutlich gestiegenen Staatsverschuldung nötig werdenden Neubelastungen möchte er anders verteilen als die jetzige Regierung. So erklärte Hollande am 07. November 11 in Libération, er wolle einen Sparkurs fahren, aber dabei „der Sparpolitik einen neuen Sinn geben“: Neubelastungen sollten stärker auf obere Einkommensschichten verteilt werden, anders als unter der jetzigen Regierung, deren unsoziale Steuergeschenke zurückzunehmen seien.  

Eine wichtige Ausnahme bei seinem (Dis-)Kurs der Haushaltskonsolidierung machte Hollande anlässlich eines Wahlkampfsauftritts am 09. September. An jenem Tag versprach François Hollande, „60.000 Stellen im Bildungswesen“ neu zu schaffen. Bei näherer Betrachtung handelt es sich dabei lediglich darum, das wiederherzustellen, was durch die Rechtsregierung unter Sarkozy in den letzten Jahren zerstört worden ist: Seit ihrem Amtsantritt 2007 hat diese bis in diesem Jahr 66.000 Stellen in den öffentlichen Schulen abgebaut, im laufenden Schuljahr 2011/12 werden weitere rund 15.000 folgen. Das Ziel besteht dabei - neben Sparmaßnahmen - auch darin, die katholischen und elitären Privatschulen faktisch zu fördern, indem ihnen aufgrund wachsender Probleme im öffentlichen und kostenlosen Schulwesen ein Publikum in die Arme getrieben wird.  

Hollande erklärte vor diesem Hintergrund zunächst, „alle gestrichenen“ Stellen binnen fünf Jahren wieder schaffen zu wollen. In der zweiten Oktoberwoche präzisierte er in Libération, es gehe nicht um die Wiederherstellung aller, aber „der meisten“ Stellen, wobei er nicht 60.000 LehrerInnen neu einstellen wolle, sondern die von ihm angegebene Zahl auch „Krankenschwestern, Schulpsychologen und Verwaltungspersonal“ mit umfasse. Logisch folgerichtig ist, dass Hollande sich dabei darauf beruft, es gehe nur um die ungefähre - und nicht einmal vollständige - Wiederherstellung eines vorherigen Zustands. Aber auch dies genügte scheinbar noch nicht als Nachweis der „wirtschaftspolitischen Seriosität“, während das konservativ-wirtschaftsliberale Lager eine heftige Angstkampagne lostrat. Letzteres behauptete, durch seine „leichtsinnigen Versprechungen“ gefährde der sozialdemokratische Kandidat die Bestnote - das berühmte „triple A“ (AAA+) -, das Frankreich bislang durch die Ratingagenturen gewährt werde. Dadurch drohe der wirtschaftliche Abstieg und die Verteuerung von Krediten auf den Finanzmärkten. Just Anfang November erklärte im Übrigen die Agentur Moody’s, die Note Frankreichs - welche die Aussichten der Gläubiger auf pünktliche Rückzahlung der Staatsschulden widerspiegeln soll - für die Dauer von drei Monaten „unter Beobachtung zu stellen“.  Dadurch soll die Regierungspolitik daraufhin überwacht werden, ob sie nicht zu ausgabenfreudig sei.  

Hollande und seine Berater reagierten auf die Anwürfe aus dem Regierungslager, indem sie Ende Oktober ihr Versprechen bezüglich der Lehrerposten relativierten. Zwar wird noch immer versprochen, die abgebauten Stellen für Lehrerinnen und Lehrer - bis zur Obergrenze von 60.000 - wieder zu schaffen. Nur wird jetzt hinzugefügt, dadurch werde aber nicht das seit 2007 durch die Rechtsregierung festgeschriebene Ziel in Frankreich gestellt, jede zweite Stelle im Staatsdienst nicht neu zu besetzen. Dies bedeutet, dass beim Abgang eines oder einer Staatsbediensteten in die Rente - oder aus sonstigen Gründe - die Stelle gestrichen wird. Dies soll auch weiterhin gelten, betonte der Wahlkampfstab François Hollandes ab Ende Oktober. Nur soll eben woanders als im Schuldienst gestrichen werden. Man wird also abwarten dürfen, ob es sich um Krankenschwestern, Transportbedienstete oder aber um Polizisten handeln - oder in welche anderen Bereiche eingegriffen werden wird.

Editorische Hinweise
Wir erhielten den Text vom  Autor für diese Ausgabe.