Manche Leute haben ganz spezielle Sorgen. Beispielsweise ein
französischer Präsidentschaftsbewerber, der am 06. November 11
seine Kandidatur offiziell ankündigte. Er äuberte
in einem Interview mit der Sonntagszeitung Le Parisien
dimanche ausgerechnet die Befürchtung, die aktuell in
Frankreich (wie in anderen EU-Staaten) betriebene „Sparpolitik“
drohe, die Unterhaltung des französische Atomwaffenarsenals zu
gefährden.
Die Ängste des früheren Innenministers und
linksnationalistischen EU-Kritikers Jean-Pierre Chevènement
dürften nicht unbedingt die Alltagssorgen der groben
Mehrheit der Französinnen und Franzosen ausdrücken. Die Episode
illustriert jedoch die politische Entwicklung Chevènements. In
den 1970er Jahren vertrat er zunächst den linken Flügel des
französischen Parti Socialiste, das
„Sozialistische Studien- Forschungs- und Bildungszentrum“ CERES,
bei dem damals noch über Ansätze für einen nicht-autoritären
Selbstverwaltungssozialismus (zumindest) diskutiert wurde. In
den 1980er Jahre wurde Chevènement dann zunehmend ein purer
Etatist, dessen autoritäre Züge sich allmählich klarer
herausschälten. Noch einige Zeit später kippte sein politisches
Denken in eine vorwiegend nationalistische Vision um.
Das Bruchstück der französischen Sozialdemokratie, das
Chevènement repräsentiert, hat sich seit 1993 selbständig
gemacht, blieb jedoch mit seiner alten Partei zunächst
verbunden: Chevènement war von 1997 bis 2000 Innenminister der
letzten sozialistisch geführten Regierung in Frankreich. Seine
grobe
Zeit dürfte vorüber sein, nachdem seine
Präsidentschaftskandidatur 2002 entgegen ersten Prognosen - die
ihn im zweistelligen Prozentbereich und als „Zünglein an der
Waage“ sahen - mit 5,3 Prozent der Stimmen relativ kläglich
endete. Seit jener Zeit tritt der Mann eher mit dem Anspruch
auf, „jenseits von Links und Rechts“ zu stehen und die
Verteidiger der nationalen Souveränität „von beiden Ufern“
zusammenzuführen.
Im kommenden Jahr, bei der Präsidentschaftswahl vom 22. April
und 06. Mai 2012, könnte Chevènement der Sozialdemokratie wieder
einige Stimmen wegnehmen. Ein zentraler Kandidat der nächsten
Wahl dürfte er jedoch nicht werden. Seine früheren Themen - eine
Mixtur aus sozialer Kritik am Neoliberalismus, Etatismus, einer
Spur Nationalismus, und lautstark vorgetragener Kritik am
„Versagen des politischen Establishments“ - werden heute auch
durch den Kandidaten Jean-Luc Mélenchon aufgegriffen.
Die „Linksfront“ (FdG)
Der Senatsabgeordnete Mélenchon hat nach dem Parteitag von Reims
im November 2008 der französischen Sozialdemokratie den Rücken
gekehrt, und sitzt seitdem einer eigenen Formation unter dem
Namen Parti de gauche („Linkspartei“) vor.
Letztere schloss sich mit der Französischen kommunistischen
Partei - dem PCF - und kleineren linken Gruppen zur „Front der
Linken“, dem Front de Gauche (FdG), zusammen. Zu
den beteiligten Gruppierungen zählen neben den beiden genannten
Parteien auch kleinere Vereinigungen wie die Gauche
Unitaire („der Einheit verbundene Linke“; eine eher
rechte Abspaltung von der zum Gutteil trotzkistisch inspirierten
„Neuen Antikapitalistischen Partei“ NPA), Socialisme et
République (eine Linksabspaltung von den
Chevènement-Anhängern) oder auch der ehemals maoistische PCOF
(„Kommunistische Arbeiterpartei Frankreich“).
Nach einigem Zögern verzichtete die französische KP im Laufe des
Frühjahrs 2011 zu Gunsten Mélenchons auf eine Kandidatur aus
ihren eigenen Reihen. Der Ex-Sozialdemokrat könnte also sowohl
aus dem verbliebenen Stimmenpotenzial der KP schöpfen als auch
dem linken Flügels desjenigen Spektrums, das früher Chevènement
unterstützte.
Dennoch ist sein Spielraum relativ eng. Denn es ist klar, dass
die seit 2002 in der Opposition verharrende Sozialdemokratie von
dieser langen Oppositionsperiode profitiert, um als
„unverbrauchte Kraft“ zu erscheinen. Ferner werden viele
Französinnen und Franzosen im kommenden Jahr schon im ersten
Wahlgang „nützlich stimmen“ (vote utile), wie man
im Französischen die deutsche „Wahl des kleineren Übels“
bezeichnet. Denn zwei grobe
Befürchtungen dürften viele Wähler davon abhalten, im ersten
Wahlgang für kleinere Kandidaten zu stimmen, um „ihre
Überzeugungen auszudrücken“, bevor man sich in der zweiten Runde
dann für das kleinere Übel entscheidet. Erstens steht die
Erinnerung an den Ausgang der Präsidentschaftswahl von 2002 im
Raum, bei welcher nur noch die Rechte und die extreme Rechte -
verkörpert durch Jacques Chirac und Jean-Marie Le Pen - in die
Stichwahl einzogen. Zuvor hatte sich der sozialistische
Repräsentant Lionel Jospin mit nur 16 Prozent der Stimmen
disqualifiziert. Eine Wiederholung dieses Szenarios droht zwar
kaum, weil die linke Wählerschaft damals die Sozialdemokratie
für ihre vorausgegangene fünfjährige Regierungsperiode
abstrafte, während die Partei heute als Oppositionskraft den
Wind im Rücken hat. Dennoch ist auch im Frühjahr 2012 ein
starkes Abschneiden der extremen Rechten zu befürchten, so dass
das Schreckgespenst des sprichwörtlich gewordenen „21. April“ -
Datum des ersten Wahlgangs von 2002 - lebendig bleibt.
Zum Zweiten möchte die linke Wählerschaft auf keinen Fall
riskieren, dass Sarkozy wiedergewählt werden könnte. Zu sehr
erscheint seine Politik in den letzten vier Jahren heute als das
mit Abstand gröbere
Übel: Steuergeschenke an Reiche und Gutverdiener, die bisher 75
Milliarden Euro kosteten; Kahlschlagspolitik im Bildungswesen;
erhebliche Schwächung der Kaufkraft von Lohnabhängigen und auch
Mittelschichten…
Auch wenn sich die meisten linken oder linksliberalen
Wählerinnen und Wähler von der französischen Sozialdemokratie
derzeit wenig positive Veränderungen versprechen und die
Perspektiven illusionslos betrachten, so hat die stärkste
Oppositionspartei doch ausgezeichnete Wahlaussichten. Stattliche
35 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang werden ihrem Bewerber
François Hollande derzeit prognostiziert. Einen so hohen
Prozentsatz im ersten Wahlgang erhielt zuletzt François
Mitterrand in den 1980er Jahren. (Vor zehn Jahren erhielt Chirac
als stärkster Einzelkandidat im ersten Wahlgang nur 19 Prozent,
und vor fünf Jahren erzielte Sarkozy als Kandidat eines geeinten
und damals starken Rechtsblocks 31 Prozent.)
Radikale Linke, „Linksfront“ und Grüne
Dabei bleibt für kleinere linke Kandidaturen nur ein relativ
geringer Spielraum. Mélenchons Wahlprognosen oszillieren seit
Monaten zwischen 5 und 10 Prozent. Die Bewerberin eines
grün-linksliberalen Wahlbündnisses (Europe Ecologie-Les
Verts, EE-LV), Eva Joly, liegt bei sechs Prozent. Aber
sie schafft es kaum, in der Öffentlichkeit von sich reden zu
machen.
Die vor allem aus dem Trotzkismus hervorgegangene, radikale
Linke in Gestalt v.a. des NPA (aus der früheren trotzkistischen
LCR herstammend) und Lutte Ouvrière (LO,
„Arbeiterkampf“) - sie erhielt im April 2002 noch insgesamt 10,5
Prozent - wird dieses Mal voraussichtlich bedeutungslos bleiben.
Beide Formationen der radikalen Linken liegen jeweils zwischen
nur 0,5 % und 1 % der Wahlabsichten.
Die (erheblichen) Probleme der Kräfte der radikalen Linken
Ihr Spielraum hat sich durch die oben genannten Faktoren,
jedenfalls auf wahlpolitischer Ebene, spürbar verringert. Ferner
ist der NPA, als neues Parteigründungsprojekt, das offiziell im
Februar 2009 ausgerufen wurde, vorläufig mit seinen (bisherigen)
Strategien gescheitert. Dies hat mehrere Gründe.
Zum Einen ging die Strategie, sich überwiegend als „Partei der
sozialen Kämpfe“ zu profilieren, nicht auf: Seit 2009 finden
soziale Konflikte, wenn überhaupt, nur gedämpft statt - mit
Ausnahme einiger lokaler „Bossnapping“-Aktionen vor allem im
ersten Halbjahr 2009. Und mit Ausnahme der breiten
Streikbewegung gegen die Renten„reform“, die stufenweise von Mai
bis November 2010, doch („dank“ der Politik & Strategie der
Gewerkschaftsführungen!) mit einer bitteren und ernüchternden
Niederlage endete. Insgesamt hat „die Krise“ bislang eher zu
Demoralisierung, Zukunftsangst und
Jeder-guckt-selbst-wie-er-durchkommt-Mentalität geführt. Zumal
es derzeit allzu manifest ist, dass die Gewerkschaftsapparate
jegliche Versuche, radikalere Kämpfe (auf Massenebene) zu
führen, ersticken.
Zum Zweiten haben die NPA-Gründer/innen den Druck hin zur
„Einheit der Linken“, welcher an der Basis herrscht, völlig und
sträflich unterschätzt: Im festen Glauben, zwischen einer
klassenkämpferischen radikalen Linken - wie man sie selbst
verkörpere - und einer glasklar bürgerliche Politik
betreibenden, rechten Sozialdemokratie gebe es „kaum mehr irgend
etwas dazwischen“, wurden die Restbestände der KP und die
ebenfalls im Februar 2009 lancierte „Linkspartei“ quasi als eine
vernachlässigbare Gröbe
betrachtet. Denn es gebe keinen Spielraum mehr für eine
„reformistische“, über den bürgerlichen Staat betrieben soziale
Umverteilungspolitik (selbst in bisherigen Grenzen). Dies mag in
der Tendenz durchaus zutreffen - doch deswegen sind die
betreffenden Parteien noch lange nicht am Ende. Vielmehr konnten
die o.g. Parteien und die von ihnen gemeinsam herausgebildete
„Linksfront“ schon bald nach dem Gründungskongress der
„Linkspartei“ Mélenchons (welcher zeitlich parallel zu jenem des
NPA stattfand) triumphieren. Ihnen kam der in der linken bis
radikal linken Wählerschaft verbreitete Wunsch, „Einheit“ über
„unverständliche Querelen zwischen Parteien“ triumphieren zu
lassen, massiv zugute. Dieses neue „Einheits“gefühl - und der
Eindruck, durch das Herüberwandern eines früheren Sprengels der
Sozialistischen Partei im alten „Einheitsfront“bestreben
gegenüber der Sozialdemokratie bestätigt zu werden - hat der
massiv gealterten französischen KP ab dem Frühjahr 2009 einen
Adrenalinschub verpasst. Nicht der NPA profitierte davon, weil
er mit seiner klaren Distanzierung von der „Linksfront“ schnell
eher als Störenfried und „Sektierer“ wahrgenommen wurde und
seine Gründe dafür nicht vermitteln konnte. Die Distanz
gegenüber der „Linksfront“ wurde mal mit guten Argumenten
untermauert: diese grenze sich nicht genügend von der
Sozialdemokratie ab; und mal mit fadenscheinigen Gründen
unterfüttert wie im Juni 2009: Erst nach einer Übernahme des
eigenen Beschlusses zum Atomausstieg wolle man mit der
„Linksfront“ über Bündnisse reden. (Als ob die traditionelle
betonharte Pro-Atomkraft-Position der französischen KP - die
heute leicht aufgeweicht wurde und durch die „Linkspartei“
Mélenchons nicht geteilt wird - jemals die radikale Linke früher
an Bündnisverhandlungen mit der KP gehindert hätte. Natürlich im
Bestreben, deren Basis rüberzuziehen…)
Drittens spielt auch der Personenfaktor eine, vielleicht vom
Prinzip her bedauernswerte und doch wichtige, Rolle. Denn der
französische Politikbetrieb ist, einerseits durch das
Funktionieren der Medienapparate bedingt und andererseits durch
die Dominanz der Präsidentschaftswahlen (d.h. einer
Personenwahl) als wichtigster Wahl unter der Fünften Republik,
stark personenbezogen. Auch der NPA bildete keine Ausnahme
davon: Sein Präsidentschaftskandidat in den Jahren 2002 und
2007, der damals noch sehr junge (er war bei den beiden
Wahlgängen respektive 28 und 33 Jahre alt) Postbedienstete und
radikale Gewerkschafter Olivier Besancenot, übte eine starke
Anziehungskraft auf die Medien aus.
Besancenot erhielt nicht nur 1,2 Millionen Stimmen bei der Wahl
von 2002 (4,5 Prozent) und 1,5 Millionen bei jener von 2007 (4,1
Prozent bei gestiegener Wahlbeteiligung gegenüber fünf Jahren
zuvor). Er kam in Talkshows und vor den Kameras gut, bedingt
durch sein persönliches Auftreten, sein Temperament, sein
(jugendliches) Aussehen und seinen Redestil. In den bürgerlichen
Medien wurde die Partei deswegen quasi nur als „Verein von
Olivier Besancenot“ wahrgenommen. Aber auch ein Teil der nach
dem Übergang von der alten LCR (Ligue communiste
révolutionnaire, trotzkistisch) zum neuen NPA - welcher
sich von der Präsidentschaftswahl im April 2007 zum
Gründungskongress Anfang 2009 stufenweise vollzog - neu gewonnen
Mitglieder war durch diese „Aura“ beeinflusst.
Konkret bedeutete der Übergang von der alten LCR zum Neuen NPA
damals das Anwachsen von zuvor rund 3.000 Mitgliedern auf
nunmehr über 9.000. (Von denen inzwischen rund die Hälfte wieder
gegangen ist, angesichts von schlechten Wahlergebnissen,
Misserfolgen und anhaltenden strategischen Divergenzen innerhalb
der Partei) An den „Neuen“ war die mediale Wahrnehmung der sich
herausbildenden Partei und ihres Spitzenmanne - und
vermeintlichen „Chefs“, auch wenn er in Wirklichkeit nur
Sprecher war und eine kollegiale Führung amtierte - nicht
spurlos vorübergegangen. Tatsächlich schien er in vielen Augen
die „Identität“ und Substanz der Partei zu verkörpern, auch wenn
innerhalb dieser natürlich - in Wirklichkeit - ein kollektiver
politischer Willensbildungsprozess besteht.
Durch die Entscheidung Olivier Besancenots von Anfang Mai 2011,
nicht wieder als Präsidentschaftskandidat (für 2012) anzutreten,
hat die Partei in eine noch tiefere Krise gestürzt. Die Gründe
für diesen Rückzug liegen überwiegend darin begründet, dass
Besancenot selbst keine Lust auf einen Status als faktischer
„Medienstar“ verspürte und nicht auf diese Weise ständig wie auf
einem Podest präsentiert werden mochte. Zum Anderen bevorzugt
Besancenot auf die Dauer seine Aktivität als radikaler Aktivist
sozialer Bewegungen, besonders in der linken
Post-Basisgewerkschaft SUD PTT, für die er an eine Reihe
spektakulärer Aktionen teilnahm. (Im vergangenen Jahr wurde er
bei einem Polizeieinsatz anlässlich einer Besetzung an der Hand
verletzt.) Doch der Rückzug Besancenots, der selbst kein
Quasi-Star im Sinne der bürgerlichen Medien sein wollte, lieb
die Partei in ebendiesen Medien „gesichtslos“ werden. Und es
erweist sich, dass diese herrschende Medienberichterstattung
eben doch nicht ohne Einfluss auf die Ideologiebildung der
Gesellschaft, und zwar einschlieblich
der sozialen Basis oder jedenfalls des Umfelds der radikalen
Linken, bleibt.
An Besancenots Stelle wurde nunmehr im Juni 2011 bei einer
„nationalen Konferenz“ - auf welcher nur eine relative Mehrheit
zwischen den innerparteilichen Blöcken, aber keinerlei absolute
Mehrheit in strategischen Fragen zustande kam - ein neuer
Präsidentschaftskandidat ernannt. Es handelt sich um den
44jährigen Automobil-Arbeiter Philippe Poutou, in der Nähe von
Bordeaux als Aktivist einer CGT-Sektion bei Ford aktiv. In der
breiten Öffentlichkeit ist er ein vollständig Unbekannter, nur
drei Prozent der Befragten konnten bei einer jüngsten
Meinungsumfrage seinen Namen als NPA-Bewerber nennen. Zwar war
auch Olivier Besancenot im Herbst 2001 noch ein fast total
Unbekannter in den Augen breitester Teile der Öffentlichkeit,
und dennoch konnte er bei der Wahl im April 2002 (auch bedingt
durch die völlige Abnutzung und Diskreditierung von
Sozialdemokratie, Grünen und KP nach damaliger fünfjähriger
Regierungsbeteiligung all dieser Partei) einen
Überraschungserfolg landen. Doch heute dürfte sich dieses
Szenario, aus den unterschiedlichen oben angeführten Gründen,
nicht wiederholen lassen.
Sozi-Kandidat François Hollande
Übergrobe
Hoffnungen auf positive Veränderungen werden derzeit nicht auf
François Hollande gesetzt, von beinahe niemandem. Im Gegenteil,
der Kandidat selbst setzt auf ein eher moderat-bürgerliches
Profil, das auf konservative und liberale Wähler „beruhigend“
wirken soll. Im Juni dieses Jahres hatte der frühere
konservative Präsident Chirac, Staatsoberhaupt von 1995 bis
2007, auf halb humorvolle und halb ernste Weise erklärt, auch er
werde im kommenden Frühjahr für Hollande stimmen. Begründet
hatte er dies etwas flapsig damit, dass beide „Landsleute
aus der Corrèze“, einem zentralfranzösischen und
agrarisch geprägten Département, seien. Doch hinter der Äuberung
- die nie zurückgenommen wurde - steht mehr als nur ländlicher
Humor.
Denn viele Bürgerliche und auch manche Entscheidungsträger in
der Wirtschaft setzen längst darauf, dass ein von linken
„Abenteuern“ Abstand nehmender Sozialdemokrat wie Hollande
durchaus der richtige Mann für die nächste Präsidentschaft sein
könnte. Verspricht er doch, weniger polarisierend zu wirken als
der aktuelle Amtsinhaber. Er könnte weniger persönlichen Hass
auf sich ziehen als der hyperaktive und in allen Bereichen um
Profilierung bemühte Nicolas Sarkozy - der aus diesem Grund auch
für viele Negativentwicklungen direkt verantwortlich gemacht
wird -, weniger exzesshaft wirken. Darauf bezieht sich auch das
im Frühsommer durch Hollande benutzte Motto Pour une
présidence normale, das eine „normale“ Präsidentschaft
verspricht. Anstatt der hypernervösen und Spannungen fördernden
Politik Sarkozys.
François Hollande stellt diesem Spektrum vor allem Stabilität
und Sicherheit. Auch an den Grundzügen der aktuell offiziell
ausgerufenen „Sparpolitik“ und den Vorstellungen „solider
Haushaltsführung“ im bürgerlichen Sinne rüttelt er nicht. Im
Gegenteil verspricht Hollande einen relativ strengen Sparkurs,
welcher schon ab 2013 zu einer Rückführung des Haushaltsdefizits
auf drei Prozent - die im Maastricht-Vertrag vorgesehene Grenze
- führen soll. Und innerhalb von fünf Jahren stellt Hollande
einen Abbau der Neuverschuldung auf Null in Aussicht. Dabei
spricht er mitnichten davon, die bestehende Vermögensverteilung
anzutasten und etwa eine strukturelle Umverteilungspolitik
zwischen Kapital und Arbeit in Angriff zu nehmen. Lediglich die
vor dem Hintergrund der Euro-Krise und der seit 2008 (und der
Bankenrettung) deutlich gestiegenen Staatsverschuldung nötig
werdenden Neubelastungen möchte er anders verteilen als die
jetzige Regierung. So erklärte Hollande am 07. November 11 in
Libération, er wolle einen Sparkurs fahren, aber
dabei „der Sparpolitik einen neuen Sinn geben“:
Neubelastungen sollten stärker auf obere Einkommensschichten
verteilt werden, anders als unter der jetzigen Regierung, deren
unsoziale Steuergeschenke zurückzunehmen seien.
Eine wichtige Ausnahme bei seinem (Dis-)Kurs der
Haushaltskonsolidierung machte Hollande anlässlich eines
Wahlkampfsauftritts am 09. September. An jenem Tag versprach
François Hollande,
„60.000 Stellen im Bildungswesen“
neu zu schaffen. Bei näherer Betrachtung handelt es sich dabei
lediglich darum, das wiederherzustellen, was durch die
Rechtsregierung unter Sarkozy in den letzten Jahren zerstört
worden ist: Seit ihrem Amtsantritt 2007 hat diese bis in diesem
Jahr 66.000 Stellen in den öffentlichen Schulen abgebaut, im
laufenden Schuljahr 2011/12 werden weitere rund 15.000 folgen.
Das Ziel besteht dabei - neben Sparmaßnahmen
- auch darin, die katholischen und elitären Privatschulen
faktisch zu fördern, indem ihnen aufgrund wachsender Probleme im
öffentlichen und kostenlosen Schulwesen ein Publikum in die Arme
getrieben wird.
Hollande erklärte vor diesem Hintergrund zunächst, „alle
gestrichenen“ Stellen binnen fünf Jahren wieder schaffen zu
wollen. In der zweiten Oktoberwoche präzisierte er in
Libération, es gehe nicht um die Wiederherstellung aller,
aber „der meisten“ Stellen, wobei er nicht 60.000 LehrerInnen
neu einstellen wolle, sondern die von ihm angegebene Zahl auch
„Krankenschwestern, Schulpsychologen und
Verwaltungspersonal“ mit umfasse. Logisch folgerichtig
ist, dass Hollande sich dabei darauf beruft, es gehe nur um die
ungefähre - und nicht einmal vollständige - Wiederherstellung
eines vorherigen Zustands. Aber auch dies genügte scheinbar noch
nicht als Nachweis der „wirtschaftspolitischen Seriosität“,
während das konservativ-wirtschaftsliberale Lager eine heftige
Angstkampagne lostrat. Letzteres behauptete, durch seine
„leichtsinnigen Versprechungen“ gefährde der
sozialdemokratische Kandidat die Bestnote - das berühmte „triple
A“ (AAA+) -, das Frankreich bislang durch die
Ratingagenturen gewährt werde. Dadurch drohe der wirtschaftliche
Abstieg und die Verteuerung von Krediten auf den Finanzmärkten.
Just Anfang November erklärte im Übrigen die Agentur
Moody’s, die Note Frankreichs - welche die Aussichten
der Gläubiger auf pünktliche Rückzahlung der Staatsschulden
widerspiegeln soll - für die Dauer von drei Monaten „unter
Beobachtung zu stellen“. Dadurch soll die
Regierungspolitik daraufhin überwacht werden, ob sie nicht zu
ausgabenfreudig sei.
Hollande und seine Berater reagierten auf die Anwürfe aus dem
Regierungslager, indem sie Ende Oktober ihr Versprechen
bezüglich der Lehrerposten relativierten. Zwar wird noch immer
versprochen, die abgebauten Stellen für Lehrerinnen und Lehrer -
bis zur Obergrenze von 60.000 - wieder zu schaffen. Nur wird
jetzt hinzugefügt, dadurch werde aber nicht das seit 2007 durch
die Rechtsregierung festgeschriebene Ziel in Frankreich
gestellt, jede zweite Stelle im Staatsdienst nicht neu zu
besetzen. Dies bedeutet, dass beim Abgang eines oder einer
Staatsbediensteten in die Rente - oder aus sonstigen Gründe -
die Stelle gestrichen wird. Dies soll auch weiterhin gelten,
betonte der Wahlkampfstab François Hollandes ab Ende Oktober.
Nur soll eben woanders als im Schuldienst gestrichen werden. Man
wird also abwarten dürfen, ob es sich um Krankenschwestern,
Transportbedienstete oder aber um Polizisten handeln - oder in
welche anderen Bereiche eingegriffen werden wird.
Editorische Hinweise
Wir erhielten den Text vom Autor für
diese Ausgabe.